Adrian Conan Doyle/John Dickson Carr – Sherlock Holmes und das verriegelte Zimmer

Doyle Adrian Carr Holmes Nachlass 1 Heyne Cover kleinInhalt:

Sechs Geschichten um den legendären Meisterdetektiv Sherlock Holmes und seinen Gefährten und Chronisten Dr. John Watson, verfasst allerdings nicht von Sir Arthur Conan Doyle (1859-1930), sondern von Sohn Adrian Conan Doyle (1910-1970) und dem Kriminalschriftsteller John Dickson Carr (1906-1977):

Sieben Uhren (The Adventure of the Seven Clocks – JDC/ACD): Der junge Charles ist ein echter Gentleman, wäre da nicht seine Manie, jede Uhr in Stücke zu schlagen, sobald er ihrer gewahr wird; Sherlock Holmes findet bald heraus, dass es gute Gründe für solch seltsames Handeln gibt.

Die goldene Taschenuhr (The Gold Hunter – JDC/ACD): Der reiche Squire Trelawny starb alt aber trotzdem ein bisschen zu plötzlich; eine Uhr, die tickt, was sie nicht dürfte, bringt Sherlock Holmes auf die richtige Fährte.

Die Kartenspieler im Wachsfigurenkabinett (The Adventures of the Wax Gamblers – JDC): Im Saal der wächsernen Schurken wird zur Geisterstunde heimlich falsch gespielt, schwört der alte Nachtwächter; Sherlock Holmes deckt die Karten auf und kommt einem geschickt eingefädelten Betrug auf die Spur.

Das Rätsel des Regenschirms (The Adventure of the Highgate Miracle – JDC): Ein achtbarer Diamantenhändler, der offensichtlich seinen Regenschirm anbetet, wirkt selbst in England etwas zu verschroben; es sei denn, dass dieses Verhalten ein Verbrechen verdecken soll, wie Sherlock Holmes argwöhnt.

Das Glück von Lavington (The Adventure of the Black Baronet – ACD) … ist der Name eines alten, über viele adlige Generationen weiter gereichten Familienerbstücks, das seinem Namen freilich keine Ehre macht, was durch Sherlock Holmes offenbar wird.

Das verriegelte Zimmer (The Adventure of the Sealed Room – ACD): Der alte Soldat hat sich und seine Gattin ebendort in einem Anfall von Wahnsinn umgebracht – so scheint es jedenfalls, bis Sherlock Holmes den Raum untersucht.

ACD = Adrian Conan Doyle
JCD = John Dickson Carr

Sherlock Holmes – Mythos & Goldesel

Wahre Helden sterben nicht. Das Publikum liebt und verehrt sie, und es ist viel Geld mit ihnen zu machen. Der zweite Aspekt darf nicht unterschätzt werden, was hier u. a. dazu führt, dass wir die Scheinheiligkeit eines Vorworts erkennen, in dem viel von der heiligen Mission schwadroniert wird, den Holmes-Fans neues Lesefutter zu präsentieren. Sir Arthur Conan Doyle hat mal mehr, mal weniger bereitwillig neue Geschichten um Sherlock Holmes und Dr. Watson verfasst. Das Publikum verlangte schon zu seinen Lebzeiten gierig danach, es zahlte dafür, und als Doyle dies erkannte, wusste er die Vorteile zu nutzen.

Holmes garantierte ihm einen sicheren, gediegenen Lebensstandard und freie Zeit, die er Dingen widmen konnte, die ihm wichtiger waren: seinen Historienromanen, der Politik, dem Spiritismus. Besonders die späten Holmes-Stories der 1920er Jahre (gesammelt 1927 in „The Casebook of Sherlock Holmes“) verfasste er als Schriftsteller-Profi reinsten Wassers quasi per Autopilot: Holmes langweilt sich, bis endlich ein neuer Klient eintritt, den er mit einigen deduktiven Kunststücken beeindruckt; dann reisen der Meister und Adlatus Watson, der stellvertretend für die Leser die Fragen stellt, an den Ort des Verbrechens, wo die allgemeine Ratlosigkeit meist durch einen Gastauftritt des dümmlichen Inspektors Lestrade einige komische Züge gewinnt, bis Holmes im großen Finale das Rätsel spektakulär und überraschend löst und dem oder gar den Schurken die Maske/n vom Gesicht reißt; über allem thront Queen Victoria, denn Holmes‘ London verharrte spätestens seit „His Last Bow“ (dt. „Sein letzter Fall“) von 1917 im Nebel der guten, alten Droschken-Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Nostalgischer Schematismus bestimmt mehr noch als die ‚echten‘ Holmes-Stories aus Doyles Feder die zahllosen Pastiches. Vier Romane und 56 Kurzgeschichten umfasst der offizielle Doyle/Holmes-Kanon, wie der Fachmann weiß. Noch zu Doyles Lebzeiten flossen die ersten Holmes-Abenteuer – spielerisch meist und gern parodistisch – aus fremden Federn. Als Doyles Tod im Jahre 1930 die Hoffnung auf neue Geschichten zunichtemachte, nahm dieser Strom kontinuierlich zu. Da lag für Sohn Adrian Conan Doyle die Überlegung nahe, aus der väterlicherseits ererbten und bestens eingeführten Marke Kapital herauszuschlagen.

Nicht so simpel wie gedacht

Die hier gesammelten Geschichten zeugen hauptsächlich von handwerklicher Kompetenz. Gleichzeitig fehlt jeglicher Funken der Inspiration. Adrian Conan Doyle und John Dickson Carr halten sich streng an das vorgegebene Muster; sie kleben förmlich an ihrer Vorlage. Spätere Autoren machten aus Holmes einen rauschgiftsüchtigen Irren, einen Serienmörder, einen treusorgenden Ehemann, lassen ihn ins kaiserliche Wien, nach Südamerika oder sogar ins Weltall reisen – kurz: Sie bemühen sich bzw. riskieren, der Figur den eigenen Stempel aufzuprägen, um ihr auf diese Weise neue Seiten abzugewinnen, was keineswegs immer gelingt.

Doyle II. und Carr reduzieren Holmes allerdings auf die bekannte Denkmaschine, die für einen Fall zum Action-Helden mutieren kann. Auch stilistisch äffen die Verfasser den älteren Doyle nach. Eine behutsame Renovierung allzu altmodisch gewordener Elemente unterbleibt, da sich Adrian entsprechende Änderungen am Werk des verehrten Vaters strikt verbat. Doch 1954 fallen Frauen in kritischen Situationen nicht mehr in Ohnmacht, wie es sich für eine viktorianische Dame (angeblich) ziemte. Solche Szenen lesen sich daher ziemlich lächerlich.

Ungeachtet kritisch begründeter Einwände lesen sich die ‚neuen‘ Geschichten um Holmes & Watson flüssig und durchaus unterhaltsam. Merkwürdigerweise überzeugen Doyles Beiträge noch eher als jene, die das Vorwort Carr zuschreibt. Dabei liest sich „Das Glück von Lavington“ mit seinem tief in der Vergangenheit wurzelnden Plot wie John Dickson Carr pur. Er hat das Schaurige, halb Vergessene geliebt und es in seinen vielen Romanen immer wieder meisterhaft heraufbeschworen. Aber vielleicht trifft tatsächlich zu, was wiederum das Vorwort ebenso rührend wie platt beschreibt: „Er [= Adrian Conan Doyle] benutzt den Schreibtisch seines Vaters, ist umgeben von den gleichen Dingen, und so [hat] er … die besten Voraussetzungen geschaffen, die Atmosphäre des Sherlock Holmes Stories von Sir Arthur Conan Doyle zu treffen.“ – Genie per Osmose gewissermaßen …

Von Arthur zu Adrian – Wie die Gleichung doch aufging

„The Exploits of Sherlock Holmes“ blieb 1954 ein einmaliges Unternehmen. Schon während der Zusammenarbeit waren Schwierigkeiten aufgetreten. Carr „wurde krank“, wie man lange lesen konnte, wobei dies eine freundliche Umschreibung für Carrs Alkoholismus sowie unüberbrückbare Differenzen ist. Tatsächlich schrieb Carr nur zwei der neuen Stories allein und zwei weitere mit seinem Co-Verfasser gemeinsam, bevor Doyle II. endgültig das Ruder übernahm.

„Sherlock Holmes‘ Nachlass“ fiel, weil hoffnungslos anachronistisch, angestaubt und jederzeit als Kopie erkennbar, zumindest bei Kritik weitgehend durch. Das Publikum war weniger anspruchsvoll, die Holmes-Aficionados wurden ohnehin geblendet durch den Wunsch, die Holmes-Storys des Sohns für so gut wie die des Vaters zu bewerten.

Wesentlich nüchterner veranlagt sah die Literaturindustrie vor allem die ökonomische Chance, neuen Leser-Generationen ihr nostalgisches Verlangen nach der guten, alten Holmes-Zeit Geld aus den Taschen zu ziehen. Dies wird u. a. daran deutlich, dass man die Adrian Doyle/Carr-Storys in Deutschland in den 1960er Jahren einfach der Gesamtausgabe von Arthur Conan Doyles gesammelten Werken anhängte, wofür es keine konkrete Begründung gab (und gibt). In der Taschenbuch-Ausgabe setzte sich deutsche Geschäftstüchtigkeit endgültig durch: Durch die Streichung des ersten Vornamens wurden alle Holmes-Fälle nunmehr von „Conan Doyle“ verfasst …

Autoren

Adrian Conan Doyle (1910-1970) war nicht nur der literarischen Nachlassverwalter seines berühmten Vaters – eine Aufgabe, die nach seinem frühen Tod seine Gattin übernahm -, sondern auch ein Weltreisender, der bescheidene eigene schriftstellerische Meriten beanspruchen kann; „Heaven with Claws“ (dt. „Kleines Boot unter großen Fischen“) aus dem Jahre 1953 soll ein höchst aufregender Reisebericht sein.

John Dickson Carr (1906-1977) wurde im US-Staat Pennsylvania geboren. Europa hatte es ihm sofort angetan, als er 1927 als Student nach Paris kam. Carrs lebenslange Faszination richtete sich auf alte Städte, verfallene Schlösser, verwunschene Plätze. Die fand er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und Großbritannien, die von ihm eifrig bereist wurden. 1933 siedelte sich Carr in England an, wo er bis 1965 blieb. Er fand schnell sein Publikum, wobei ihm zugutekam, dass er nicht nur gut, sondern auch schnell arbeitete. Obwohl ihm kein ausgesprochen langes Leben vergönnt war, verfasste Carr ungefähr 90 Romane – übrigens nicht nur Thriller. Seine Biografie des Sherlock-Holmes-Vaters Arthur Conan Doyle wurde 1950 sogar mit einem Preis ausgezeichnet. Da hatte man ihn bereits in den erlesenen „Detection Club“ zu London aufgenommen, wo er an der Seite von Agatha Christie, G. K. Chesterton (der übrigens das Vorbild für Gideon Fell wurde) oder Dorothy L. Sayers thronte. 1970 zeichneten die „Mystery Writers of America“ Carr mit einem „Grand Master“ aus; die höchste Auszeichnung, die in der angelsächsischen Krimiwelt vergeben wird.

Taschenbuch: 156 Seiten
Originaltitel: The Exploits of Sherlock Holmes [1] (London : John Murray 1954)
Übersetzung: Arno Dohm, Alheit Kocher u. Eva Thöl
www.randomhouse.de/heyne

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