Wie es heißt, ist nichts so tot wie der Bestseller der letzten Saison. Falls dies zutreffen sollte, hätte sich Ihr Rezensent mit diesem Artikel eine Menge unnötiger Arbeit gemacht. Die (angebliche) Sensation um die Entdeckung des Tagebuchs von Jack the Ripper ist nämlich schon ein Jahrzehnt alt. Die gebundene Ausgabe des vorliegenden Buches wurde auch in Deutschland Anfang der 1990er Jahre mit Fanfarenschall in die Läden begleitet und fand in der Presse die gewünschte, weil verkaufsförderliche Resonanz. Selbst negative Werbung sorgt für Aufsehen, und so ließen sich kluge Köpfe, Besserwisser und Spinner gleichermaßen lang und breit aus über ein Medienphänomen, das die Menschen seit über einem Jahrhundert fasziniert, ohne dass darob Einigkeit darüber erzielt werden konnte, ob denn das auf so wundersame Weise zutage geförderte Tagebuch tatsächlich aus der Feder des Rippers geflossen war.
Nachdem die Aufregung abgeklungen ist, kann man sich der Beantwortung dieser Frage wesentlich gelassener widmen – wenn es denn überhaupt erforderlich ist, denn „Das Tagebuch von Jack the Ripper“ ist auch jenseits aller Sensationshascherei eine interessante Lektüre. Tatsächlich wird es bald völlig unerheblich, ob der böse Jack denn ein rauschgiftsüchtiger Baumwollhändler namens James Maybrick aus dem englischen Liverpool gewesen ist und seine Untaten in einem Tagebuch festgehalten hat, das in einem unbekannten Versteck ein volles Jahrhundert überdauerte, bis es auf mysteriöse Weise in die Hände eines arbeitslosen Seemannes geriet …
Shirley Harrisons Darstellung gewinnt ihren Wert als Bestandsaufnahme eines Jahrhunderträtsels: Um das Tagebuch in die bekannte Chronologie der Rippermorde einzupassen, muss die Autorin das London von 1888 wieder erstehen lassen und das Drama und seine Akteure noch einmal ihrem Publikum vorstellen. Freilich tut sie das mehr als 100 Jahre später und nach durchaus sorgfältiger Sichtung der in diesem Zeitraum erschienenen Ripper-Literatur bzw. wiederentdeckten Quellen. Besonders Letztere haben es in sich, denn überraschenderweise werden bis auf den heutigen Tag neue Belege entdeckt. Harrison wartet denn auch mit Fakten auf, die einige Irrtümer früherer „Ripperologen“ eliminieren, nachdem sie lange Zeit immer wieder aufgegriffen wurden.
So darf sich der Leser einer vorzüglichen Zusammenfassung der Ereignisse vom August bis November 1888 erfreuen, wenn diese Formulierung angesichts des Themas gestattet sei. Weil im Zeitalter des privaten Fernsehens manch’ alter Zopf abgeschnitten wurde, werden ihm (und auch ihr) einige zeitgenössische Tatort- und Leichenfotos präsentiert. Sie bieten eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Überprüfung der alten Weisheit, dass es nicht immer eine reine Freude sein muss, seine Neugier befriedigen zu können. Was Jack the Ripper seinen Opfern angetan hat, ist wahrlich ungeheuerlich. Der Anblick ist schwer zu ertragen, macht aber eines sehr schön deutlich: Irgendwann müssen sich der authentische und der mythologische Jack voneinander getrennt haben. Der rste war ein lebensgefährlicher, schwer geisteskranker Psychopath, der zweite ein früher Medienstar, ein Zeitgenosse von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, von Graf Dracula und Sherlock Holmes. Irgendwie ist das Bewusstsein geschwunden, dass diese Figuren fiktiv waren, während Jack the Ripper eine sehr reale Person gewesen ist. Aber man hat ihn niemals gestellt und vor Gericht entzaubert, und so war sein Weg frei in den Olymp kultisch verehrter Bösewichte. Als sich dann die moderne Unterhaltungsindustrie des Rippers annahm, war der Übergang vollzogen.
Shirley Harrison belegt sehr schön, wie „unser“ Jack the Ripper ein Geschöpf der Medien wurde – vielleicht sogar ihre erste und höchst gelungene Schöpfung! Serienmörder hatte es schon vor 1888 gegeben – aber nicht in einer Stadt wie London, in der Ende des 19. Jahrhunderts 200 (!) Tageszeitungen um Leser kämpften. Die Presse machte Jack the Ripper erst berühmt und dann unsterblich. Er hat dies selbst sehr gut begriffen, sich seiner Taten in Leserbriefen gerühmt und neue Scheußlichkeiten angekündigt. Insofern ist der Fall Jack the Ripper quasi ein Modell für das, was die Massenmedien heute zu „leisten“ vermögen.
Diese Entwicklung wird von Harrison angedeutet, aber leider nicht weiter ausgeführt; hier ist Ihr Rezensent – so gut er es vermochte – in die Bresche gesprungen. Die Autorin kehrt verständlicherweise bald zu ihrem eigentlichen Anliegen zurück: Sie bemüht sich, den Ripper auf den Spuren ihres Hauptverdächtigen James Maybrick zu entlarven. Das will ihr auf stolzen 450 Seiten allerdings nie wirklich gelingen. Zu apokryph ist das Manuskript, zu fadenscheinig seine Überlieferungsgeschichte, und selbst ein Heer von Historikern, Graphologen und anderen Sachverständigen konnte zu keinem eindeutigen Urteil kommen. Dass Harrison sowohl die Indizien für wie die Belege gegen das Tagebuch ausführlich vorstellt, muss ihr hoch angerechnet werden. Ihr bleibt auf der anderen Seite auch gar keine Alternative, will sie doch einem möglichen Desaster vorbeugen, wie es den „Stern“ 1983 mit den angeblichen Hitler-Tagebüchern getroffen hat.
In den Jahren seit dem Erscheinen der englischen Originalausgabe ist es bemerkenswert ruhig um das Tagebuch geworden. Das ist im Grunde die beste Bestätigung dafür, dass es nicht überzeugen konnte. Aber wie die Autorin selbst sehr richtig sagt: Wenn es eine Fälschung ist, dann ist sie großartig gelungen. Davon kann man sich übrigens selbst überzeugen: Dem fotografischen Faksimile aller erhaltenen Seiten wird eine Übersetzung beigefügt. Wenigstens steht nach der Lektüre fest, dass Jack the Ripper nicht zu allem Überfluss ein begabter Schriftsteller gewesen ist …
Sein (bzw. James Maybricks) Ende war übrigens düster – oder angemessen, wenn man so will: Von Drogensucht und Schuldgefühlen zerfressen, ließ sich Jack the Ripper im Mai 1889 von seiner eigenen Ehefrau vergiften. Hier stutzt der Leser, doch dieses Mal wird er von Shirley Harrison schmählich im Stich gelassen. Offensichtlich ist für sie der Punkt erreicht, an dem sie den Erfolg ihres potenziellen Bestsellers ungern durch allzu viel Realität gefährden möchte. Außerdem lässt sich der Tod des Rippers viel zu schön mit einem weiteren Klassiker der „True Crime“-Literatur verknüpfen: der Geschichte vom Prozess gegen seine angebliche Mörderin und Ehefrau, der so tatsächlich 1889 stattgefunden hat und offensichtlich ein Paradebeispiel für einen echten Justizskandal ist. Das ist bei Harrison so spannend wie ein Thriller nachzulesen, hat aber mit der Frage, ob James Maybrick Jack the Ripper war, nur indirekt zu tun.
So schlingert Shirley Harrison immer eng an den Fakten entlang, ohne sich jemals wirklich festzulegen oder endgültig den Bezug zum Beweisbaren zu verlieren. Weil man Wahrheit und Mutmaßung jedoch gut voneinander trennen kann, nimmt man ihr das nicht übel. Noch einmal sei dem Leser versichert: „Das Tagebuch von Jack the Ripper“ besitzt unabhängig davon, ob es echt ist, jederzeit einen hohen Unterhaltungswert. In der Taschenbuchausgabe ist es darüber hinaus bei seiner Ausstattung sehr preisgünstig; allerdings leidet die Qualität der Abbildungen in der Verkleinerung erheblich. Was die blutrünstigen Opferfotos angeht, so ist dies nur von Vorteil, aber die interessanten zeitgenössischen Presseartikel, Porträts oder Lagepläne wünscht man sich schon etwas übersichtlicher.