Helen Nielsen – Der fünfte Besucher

nielsen-fuenfter-besucher-cover-1959-kleinDie schöne Beinahe-Selbstmörderin hat ihr Gedächtnis verloren; obwohl sie womöglich ihre Chefin bestohlen und erschlagen hat, glaubt ein Ermittler nicht an Schauspiel oder Schuld und lässt sich etwas einfallen, um das Tatdunkel zu lichten … – Beinahe ein Krimi-Kammerspiel, das bis auf ein spektakuläres Finale in einem Krankenhauszimmer spielt und seine Spannung vor allem aus kriminalistischer Deduktion zieht und einen Schuss Psychologie beimischt: sicher kein Klassiker aber gutes Krimi-Handwerk.

Das geschieht:

Am Strand von Santa Monica findet man gerade noch rechtzeitig Anna Bardossy; sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Im Krankenhaus sitzt Douglas Marshall, Ermittlungsbeamter der Staatsanwaltschaft, an ihrem Bett, denn in ihrer Praxis in Los Angeles wurde Dr. Lillian Whitehead brutal erschlagen. Vor fünf Jahren hatte sie Anna, die in Ungarn geboren ist und die man als Tochter eines „Volksfeindes“ in ein Lager geworfen hatte, nach der Flucht zur Einreise in die USA verholfen. (Ungarn ist seit 1949 ein sowjetischer Marionettenstaat. Zum Zeitpunkt der Handlung schreiben wir das Jahr 1959.)

Die kinderlose Whitehead liebte Anna wie eine Tochter. Gleichzeitig war die ohnehin exzentrische Frau jedoch überaus besitzergreifend. Anna, die in Budapest Medizin studiert hatte, arbeitete für wenig Geld als Krankenschwester für ihre Retterin. Mit den Jahren kühlte das herzliche Verhältnis ab. Anna musste feststellen, dass Whitehead eine schlechte Ärztin war, die mehr als einmal Patienten falsch behandelte und in Gefahr brachte. Außerdem hatte Anna sich verliebt, was ihre eifersüchtige ‚Mutter‘ auf keinen Fall dulden wollte.

Für Sergeant Lansing von der Mordkommission steht fest, dass Anna Bardossy bei einem Streit ihre Chefin umgebracht hat und sie ihr schlechtes Gewissen wenig später in den Selbstmord trieb; dass Anna unter Erinnerungsschwund leidet, hält der misstrauische Polizist für eine Ausrede. Marshall denkt anders. Er ist bereit, an den Gedächtnisverlust zu glauben. Die Ermittlungen sind mühsam, aber schließlich steht fest, dass Lillian Whitehead an ihrem letzten Tag eine Patientin, ihren Anwalt, ihren Bruder und einen Gasinstallateur empfing. Außerdem gab es einen fünften Besucher, der sie als letzter Mensch lebendig sah und dessen Identität der Schlüssel zur Aufklärung des Verbrechens ist …

Motiv und Gelegenheit: kein glasklares Paar

Die Polizei liebt Occams Rasiermesser, wenn es einen Fall zu lösen gilt: Die einfachste Lösung trifft in der Regel ins Schwarze. So denkt auch Sergeant Lansing, der zwar guten Willens aber auch schlichten Geistes ist. Mehr als einmal listet er dem skrupulösen Kollegen Marshall geduldig auf, welche Indizien gegen Anna Bardossy sprechen. Sie hatte sogar mehr als ein Motiv, ist für ihren Jähzorn bekannt und hat sich selbst umbringen wollen. Außerdem hat sie für viel Geld, das sie eigentlich nicht besaß, am Tag des Mordes ein Negligee u. a. unzüchtige Wäschestücke gekauft, obwohl sie nicht verheiratet ist – 1959 der Gipfel der Unmoral!

Zu Lansings (immerhin ungefragter) Verstärkung treten außerdem die Mitglieder des Whitehead-Kreises auf, die offen aussprechen, was man der armen Anna zusätzlich zur Last legt: Sie ist keine US-Amerikanerin, sondern stammt aus einem kommunistisch regierten Ausland und hat dort im Gefängnis gesessen. Wer kennt schon den wahren Grund? „Politisch verfolgt“ klingt im Amerika der gerade überstandenen aber nicht verarbeiteten McCarthy-Ära immer noch verdächtig. Zumindest Undank möchte man der Fremden vorwerfen.

Dass zwischen den für den Tag X belegten Aufenthalten der Anna Bardossy in und um Los Angeles ziemlich breite zeitliche Lücken klaffen, lässt Lansing nicht zögern. Er will Anna einsperren und den Fall loswerden; soll das Gericht sich um die Details kümmern!

Somit steht es schlecht für Anna, die selbstverständlich jung und hübsch ist und nicht nur aufgrund ihres tragischen Schicksals an die Herzen der Leser rührt. So ein gefallener Engel kann einfach nicht schuldig sein! Wo ist der Ritter, der für sie in die Schlacht zieht?

Die Zeiten haben sich geändert

Da ist er schon, obwohl Autorin Nielsen ihn recht furchterregend einführt. Douglas Marshall kennt nur die Arbeit und zeigt keine Gefühle. Dies hält er nicht lang durch, da Anna gar so niedlich ist. Eine Love-Story fällt trotzdem aus – ein erster Anti-Klischee-Pluspunkt für Nielsen –, da Marshall noch immer um seine Gattin trauert, die unter unschönen Umständen im Berlin der Nachkriegszeit zu Tode kam. Immerhin kennt Marshall die Verhältnisse in Europa und ist in der Lage, sich in Anna Bardossy hineinzudenken.

Diese Empathie ist wichtig, denn Annas psychische Narben prägen ihr gegenwärtiges Verhalten. Um sie zu verstehen, muss man dies berücksichtigen oder wenigstens zur Kenntnis nehmen. Nur Marshall ist – auch hier spitzt Nielsen spannungsförderlich zu – dazu in der Lage oder willens.

Was wohl nicht nur auf den Leser von heute beängstigend wirkt: Die eigentliche Ermittlungsarbeit kommt in Gang, weil ein Mann sich nicht von Routinen und Vorurteilen leiten lässt. Ohne Douglas Marshall würde Anna Bardossy wahrscheinlich im Gefängnis enden.

Ökonomie im Spannungsaufbau

Helen Nielsen schrieb Drehbücher. Sie arbeitete vor allem für das Fernsehen, das in den 1950er Jahren in seinen technischen Möglichkeiten limitiert war. An Verfolgungsjagden oder ausgedehnte Außenaufnahmen war nicht zu denken, Geschichten mussten so erzählt werden, dass sie an möglichst wenigen Schauplätzen und innerhalb von Gebäuden spielten – sie ließen sich in den Fernsehstudios als Kulissen bauen, in denen die noch klobigen Kameras Bewegungsspielraum besaßen.

Obwohl Nielsen „Der fünfte Besucher“ als Original-Roman schrieb, behielt sie die vom TV gewohnte Ökonomie bei. Die Handlung spielt hauptsächlich an Anna Bardossys Krankenbett. Geschickt wendet die Autorin die Limitierung ins Ungewöhnliche und damit Spannende um: Marshall möchte seine Verdächtige unter Druck setzen und ihr Gedächtnis stimulieren, indem er sie mit den vier allmählich bekannten Besuchern der Lillian Whitehead konfrontiert. Diese erzählen, was sie am Tag des Mordes in deren Haus erlebt haben. Widersprüche und Lügen werden aufgedeckt, man streitet und schimpft, was alles kostengünstig als Krimi-Kammerspiel von einer Kamera aufgezeichnet werden könnte.

Nur für das Finale wird der Spannungsknoten fester gezurrt. Nielsen verfällt auf die wenig raffinierte aber bewährte Methode, die schöne Frau in Gefahr zu bringen. Allein steht sie plötzlich vor dem wahren Mörder, der sich glücklicherweise die Zeit nimmt, ihr sowie uns, den Lesern, den Tatablauf sowie seine Beweggründe ausführlich zu schildern. Auf diese Weise verschafft er den Vertretern des Gesetzes die Chance, rechtzeitig vor Ort einzutreffen und sich ins Getümmel zu mischen.

Die Kürze & die Würze

In einer Krimi-Gegenwart, die von immer breiter getretenen (Mach-) Werken geprägt wird, bewundert man die Autorin. Sie verzichtet keineswegs auf emotionale Einschübe, stellt sei aber stets in den Dienst ihrer Geschichte. Gefühl und des Gefühls willen ist keine Option für Helen Nielsen. Kein Wunder, dass sie mit ihrer nicht einmal komplexen Story unterhalten kann: Sie führt die Handlung an einem jederzeit straffen Zügel!

1961 konnte Helen Nielsen ihren Roman tatsächlich an das Fernsehen verkaufen. „The Fifth Caller“ wurde im Rahmen der „Dick-Powell-Show“ verfilmt. Ausgezeichnete Schauspieler wie Michael Rennie (als Douglas Marshall), Elsa Lancaster (als Naomi Griswald) oder Eva Gabor (als Anna Bardessy) traten vor die (selbstverständlich schwarzweiß aufzeichnende) Kamera, hinter der Regisseur Robert Butler stand, der in einer fünf Jahrzehnte währenden Karriere zahlreiche Episoden noch heute bekannter TV-Serien inszenierte. Nielsen selbst schrieb das Drehbuch.

Autorin

Helen Nielsen wurde am 23. Oktober 1918 in Roseville, US-Staat Illinois, geboren. Die Tochter eines Farmers studierte in Chicago Journalismus, Kunst und Technisches Zeichnen. Als Zeichnerin fand sie in der Flugzeugindustrie Arbeit; u. a. arbeitete sie an der Entwicklung verschiedener Bombenflugzeuge mit.

1942 ging Nielsen nach Hollywood. Sie versuchte in den Filmstudios von Hollywood einen Job als Drehbuchautorin zu bekommen, musste jedoch eine lange Durststrecke überstehen. In den 1950er Jahren kam ihre Karriere endlich in Gang. Nielsen schrieb Bücher für TV-Serien wie „Perry Mason“ und „Alfred Hitchcock Presents“.

Parallel dazu schrieb Nielsen Kriminalstories und -romane. Ihr Debüt wurde 1951 „The Kind Man“ („Im Schatten jener Stunde“). „Murder by Proxy“ (auch: „Gold Coast Nocturne“, dt. „Geheimnis einer Nacht“ und „Intermezzo in Chicago“), Nielsens zweiter Roman, wurde 1954 von Regisseur Terence Fisher für die „Hammer Film Productions“ verfilmt. 1971 realisierte das Fernsehen der DDR (!) das Nielsen-Drehbuch „The Witness“ als „Der Unfallzeuge“.

Nielsens letzter Roman erschien 1976. Am 22. Juni 2002 starb sie, die gleich in mehreren ‚männlichen‘ Berufen reüssiert hatte, im Alter von 83 Jahren in Prescott, Arizona.

Gebunden: 181 Seiten
Originaltitel: The Fifth Caller (New York : William Morrow & Co. 1959)
Übersetzung: Paul Baudisch
www.randomhouse.de/goldmann

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