James Marrison – Das Mädchen im Fenster [Guillermo Downes 1]

Der brutale Mord an einem englischen Großgrundbesitzer führt zu einem kollektiv vertuschten Verbrechen, dessen Beteiligte zunehmend panisch alle Spuren zu verwischen versuchen, während ein hartnäckiger Polizist die dürren Indizien hartnäckig zusammenträgt und entschlüsselt … – Der erste Fall des britisch-argentinischen Ermittlers Guillermo Downes ist ein typischer englischer Kriminalroman, der zum Genre nichts Neues beiträgt, aber bekannte und bewährte Genre-Elemente sehr versiert zu einer spannenden Geschichte zusammenfügt.

Das geschieht:

Lower Quinton ist eine Kleinstadt in der englischen Grafschaft Warwickshire und liegt in den Cotswolds, die auch das Herz der britischen Hauptinsel genannt werden. Die idyllische Landschaft wird von Touristen und stadtmüden Pensionären geschätzt, was von den ‚Einheimischen‘ nicht immer und überall begrüßen. Noch immer existieren uralte und ungeschriebene Regeln sowie Seilschaften und Feindseligkeiten, die erbittert fortleben, denn das Kollektiv vergisst und vergibt nicht.

Auf dem Gipfel von Meon Hill liegt die Leiche von Frank Hurst, einem örtlichen Großgrundbesitzer, der über die Jahre zum verschrobenen Eremiten mutierte. Man hat ihm eine Mistgabel in den Hals gerammt. Bei Chief Inspector Guillermo Downes, der gemeinsam mit seinem neuen Sergeanten Graves den Fall übernimmt, weckt der Mord Erinnerungen: Vor sieben Jahren verschwanden zwei junge Mädchen aus Lower Quinton; man hat nie wieder von ihnen gehört. Hurst wurde befragt, doch ihm konnte nichts nachgewiesen werden. Für die Bürger blieb jedoch ein grundsätzlicher Verdacht, der zwei Jahre später bekräftigt wurde, als Hursts Gattin im hauseigenen Swimming-Pool ertrank. Wenig später verließ Tochter Rebecca angeblich das Elternhaus; niemand hat sie seither gesehen.

Seine letzten Jahre verbrachte Hurst allein und offensichtlich in Angst, denn er hat Dashwood Manor, sein Landhaus, wie eine Festung gesichert. Kurz nach seinem Tod geht das Anwesen in Flammen auf. In den Ruinen findet man eine gut versteckte Leiche. Downes‘ Hoffnung auf eine nachträgliche Klärung gleich mehrerer Fälle zerschlägt sich: Man hat keineswegs eines der vermissten Mädchen entdeckt. Stattdessen gibt Hursts Nachlass Belege dafür preis, dass der Ermordete nach der eigenen Tochter suchen ließ und dabei etwas herausfand, das ihn das Leben kostete …

Noch eine trügerische Idylle

Angesichts der Unzahl ländlich gelegener Orte, hinter deren wunderschönen Fassaden hässliche Triebe regieren, sollte man meinen, dass die Leser entsprechend verorteter Kriminalromane längst die Nasen voll von den sich dort entspinnenden Geschichten haben. Weit gefehlt; immer wieder führt uns ein neuer Autor dorthin, wo sich eigentlich Altbekanntes abspielt: Hier haben wir es offensichtlich mit einer jener Kulissen zu tun, die beim Publikum Sehnsucht und angenehmen Grusel gleichzeitig erzeugen.

Die Sehnsucht beruht auf der sicherlich nicht realistischen aber dennoch tiefverwurzelten Vorstellung eines einfacheren = ‚besseren‘ Lebens in gesunder Landluft und einem dörflichen Umfeld fern der großstädtischen Anonymität. Wer selbst in einem Dorf lebt, dürfte solche Illusionen rasch verlieren: Nähe bedeutet auch Reibung. Wo wenige Menschen mit- oder nebeneinander leben, ist es einfach, den Nachbarn im Auge zu behalten. Dies schließt auch jene Momente ein, in denen man lieber unbeobachtet wäre. Gerade dann schauen die lieben Mitbürger selbstverständlich besonders scharf und interessiert hin.

Im Kriminalroman wimmelt es von Dörfern, in denen es buchstäblich gärt. Altes Unrecht – ob echt oder nicht – gerät nicht in Vergessenheit und schwelt unter einer liebenswert verkrusteten Oberfläche magmaähnlich weiter. Sobald sich ein Bruch auftut, kommt es zur gewaltsamen oder besser gewalttätigen Entladung: Dies ist gerade geschehen, als Sergeant Graves seine Stelle in Lower Quinton antritt.

Viele Skelette im Schrank = Leichen unter der Erde

Graves spielt in diesem Auftaktband der Serie nur eine größere Nebenrolle. Autor James Marrison stellt ihn anfänglich in den Mittelpunkt des Geschehens, denn Graves soll den Leser quasi begleiten, wenn er Lower Quinton, seine Bürger und die Kollegen kennenlernt. Marrison nimmt sich Zeit, denn hier steckt er das Feld ab, auf dm weitere Kriminalfälle gelöst werden sollen.

Außerdem gibt dies dem Verfasser die Gelegenheit, sich der eigentlichen Hauptfigur auf Umwegen zu nähern, wodurch die Ausnahmeposition von Chief Inspector Guillermo Downes sorgfältig entwickelt werden kann, schon bevor wir ihn tatsächlich treffen. Für eine Serie ist die Figurenzeichnung von elementarer Bedeutung: Möglichst viele Leser müssen sich für diejenigen Protagonisten interessieren, um auch zu den Nachfolgebänden zu greifen. Deshalb sind Hauptfiguren stets Individuen mit ausgeprägten Eigenheiten. Während Ecken & Kanten im realen Leben oft Karrierehindernisse sind, wecken sie im Krimi Aufmerksamkeit.

Selbstverständlich ist in dieser Hinsicht alles schon mehr als einmal dagewesen. Längst wagen es nur noch sehr selbstbewusste Autoren, ihre Ermittler an der Flasche hängen zu lassen; dies ist zu sehr zum Klischee verkommen. Ein unglückliches Privatleben geht aber weiterhin, weshalb Downes nicht nur einen exotischen Familienstammbaum, sondern auch traumatische Erlebnisse aus seinem ‚ersten Leben‘ in Argentinien vorweisen kann. Dort hatte er sich mit den Schergen einer korrupten Regierung angelegt und war in Lebensgefahr geraten. (Wir Leser werden ansatzweise in einem Kapitel informiert, das im Buenos Aires des Jahres 1982 spielt und den Fluss der eigentlichen Geschichte nachteilig stört. 2016 ging Marrison in Details und veröffentlichte den Kurzroman „Habeas Corpus“ (dt. „Die Stadt der Verschwundenen“), der Downes‘ südamerikanische Vorgeschichte aufgreift.)

Einsamer Ermittler = Mann mit Überblick

Downes wird von alten Ängsten geplagt und führt das einsame Leben eines Mannes, der sich weiterhin verfolgt fühlt. Ohnehin ist er trotz seines urbritischen Nachnamens ein Fremdling geblieben, der in der Abgeschiedenheit der Cotswolds erst recht aus der Durchschnittsbevölkerung heraussticht und zwischen allen Stühlen sitzt. Um seine Sonderstellung zu unterstreichen, lässt Marrison Downes in jenen Kapiteln, in denen er Handlungsträger ist, selbst zu Wort kommen, während sonst der Autor die Rolle des über den Ereignissen schwebenden Erzählers übernimmt.

Sergeant Graves übernimmt die Funktion des skeptischen und auf seine Weise ebenfalls eigenwilligen Ermittlers, der sich mit dem Chef erst zusammenraufen muss. Die übrigen Polizeikollegen sind demgegenüber klassisch gezeichnet: Sie legen Marotten an den Tag und sorgen für kurze, entspannende Lektüre-Momente, wenn sie übereifrig in den Matsch fallen, im Dienstwagen einschlafen oder von dreisten Reportern hereingelegt werden. Hier ist Marrison beim guten, alten Landhaus-Krimi.

Dass dieser Roman so gut funktioniert, verdankt er zum einen dem handwerklichen Geschick eines Verfassers, der bereits in seinem Erstlingswerk weiß, wie man ein Garn spinnt. Andererseits gelingt Marrison ein gleichermaßen komplexer wie überraschend aufgelöster Plot, der durch Thriller- und latente Gruselspannung stimmungsvoll unterstützt wird – ein Kniff, dessen sich schon John Dickson Carr in den 1930er Jahren erfolgreich bedient hat und der auch heute seinen Zweck erfüllt.

Geheimnisse drängen ans Licht

Hinter allen Mysterien und kriminalistischen Fragen wurzeln die finalen Antworten ganz im Hier & Jetzt. Marrison hat sich als Journalist in das Thema (Serien-) Mord und seelische Abgründe eingearbeitet und bereits 2008 ein „True-Crime“-Buch („The World’s Most Bizarre Murders“) darüber veröffentlicht. „Das Mädchen im Fenster“ profitiert eindeutig von seinem Wissen, das er einfließen lässt, ohne sich jemals in jene Torture-Porn-Winkel zu verirren, in die viel zu viele Autoren schleichen, um Ideenarmut und Denkfaulheit durch plakative Gewalt zu ersetzen.

Ausgangspunkt der ansonsten fiktiven Ereignisse ist ein Mord, der sich auf dem Meon Hill bei Lower Quinton – diese Orte existieren wirklich – ereignet hat. Hier wurde am 14. Februar 1945 – dem Valentinstag – die Leiche des 74-jährigen Landarbeiters Charles Walton gefunden, den der bis heute unbekannte Täter mit einer Mistgabel umgebracht hatte. Als weitere Inspiration nennt Marrison das bizarre Ende der Schauspielerin Susan Cabot, die 1986 von ihrem Sohn im Wahn erschlagen wurde, nachdem sie seinen Zwergwuchs mit einem obskuren ‚Medikament‘ hatte ‚heilen‘ wollen.

Auf realer Basis baut Marrison also seine Geschichte auf, um sie dann unerwartete Wendungen nehmen zu lassen, während sie langsam aber nie langweilig voranschreitet, bis sie in ein weniger spektakuläres oder gar hektisches als folgerichtiges Finale mündet. „Das Mädchen im Fenster“ wird auf diese Weise nicht nur zu einem Kriminalroman, den man gern liest, sondern auch seiner Köderfunktion gerecht: Man ist neugierig auf weitere Verbrechen aus den Cotswolds, und man möchte wissen, wie Downes, Graves und seine Kollegen sie lösen werden.

Autor

James Marrison wurde im englischen Oxford geboren. Die Familie zog später nach Kirtlington (Grafschaft Oxfordshire) um. Marrison studierte Geschichte an der Universität von Edinburgh. Er schloss mit einer Arbeit über das FBI ab. Zusätzlich ging Marrison längere Zeit als Austauschstudent für das Fach Film ans Amherst College der University of Massachusetts in den USA.

Auch nach seinem Abschluss zog es Marrison immer wieder ins Ausland; so ging er für mehrere Jahre als Englischlehrer in die Türkei. Nebenbei begann er zu schreiben, doch seine frühen Romane wurden allesamt abgelehnt. Marrison sattelte um und wurde Journalist; u. a. arbeitete er für das britische Magazin „Bizarre“ und schrieb über spektakuläre Mordfälle. 1996 siedelte Marrison nach Südamerika um. In Buenos Aires, Argentinien, wo er noch heute lebt, arbeitete er für den „Buenos Aires Herald“ und andere englischsprachige Zeitungen.

Neben seiner journalistischen Tätigkeit begann Marrison an einem Kriminalroman zu schreiben. Er spiegelte seine Erfahrungen als Brite in Südamerika in die Figur des britisch-argentinischen Polizisten Guillermo Downes, der in der englischen Provinz ermittelt. „The Drowning Ground“ (dt. „Das Mädchen im Fenster“) wurde sowohl von der Kritik als auch vom Publikum gut aufgenommen, sodass Marrison seinen Debütroman zu einer Serie ausbaute.

Taschenbuch: 398 Seiten
Originaltitel: The Drowning Ground (London : Michael Joseph/Penguin Books Ltd. 2015)
Übersetzung: Rainer Schumacher
www.luebbe.de

E-Book: 2276 KB
ISBN-13: 978-3-7325-0658-3
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