Seit 2002 erscheint das Magazin „Alien Contact“ nicht mehr in gedruckter Form, sondern „nur“ noch im Internet. Gebündelt gibt es die dort veröffentlichten Beiträge im „Alien Contact Jahrbuch“, von dem jetzt die zweite Ausgabe vorliegt. Das Jahrbuch 2003 wartet gleich mit einer Neuerung auf – parallel erscheint nun auch das „Shayol Jahrbuch für Science Fiction“. Hardy Kettlitz begründet dies im Vorwort mit dem gestiegenen Gesamtumfang der Online-Ausgaben. So will man künftig Erzählungen, Essays und Interviews im „Alien Contact Jahrbuch“ publizieren, die direkt auf das Jahr bezogenen Beiträge – wie Rezensionen oder Rückblicke sowie eine ausführliche Bibliographie – dagegen im „Shayol Jahrbuch“. Keine Konkurrenz im eigenen Hause, wie der Herausgeber betont, sondern eine Ergänzung. Bleibt die Frage, ob der Leser beim Preis von 18,90 beziehungsweise sogar 19,90 dann auch mitspielt. Und sich ergänzend auch noch [„Heynes Science Fiction Jahr“ 459 zulegt, das den jährlich wiederkehrenden Einstellungsgerüchten zum Trotz ja immer noch erscheint …
Das größte Augenmerk der gesammelten Ausgaben 51 bis 57 verdienen die Kurzgeschichten. Herausragend: George R. R. Martins „Die zweite Speisung“. Lange bevor sich Martin an sein (zu Recht) gefeiertes Fantasy-Epos „Das Lied von Eis und Feuer“ setzte, brillierte er in den siebziger Jahren bereits als Autor überdurchschnittlicher Kurzgeschichten, ehe er sich seinen ersten Romanen zuwandte, fürs Fernsehen („Twilight Zone“) arbeitete, die Shared-World-Serie „Wild Cards“ herausgab und schließlich bei der epischen Fantasy landete. „Die zweite Speisung“ ist eine der Storys um den exzentrischen Öko-Ingenieur Haviland Tuf, deren gesammelter deutscher Ausgabe (nach dem Vorbild „Tuf Voyaging“ von 1988) sich eines Tages hoffentlich einmal ein Verlag erbarmt. Eine deutsche Erstveröffentlichung, zu der man |Alien Contact| gratulieren darf. Wie auch zu Elizabeth Hands „Engels, in Unkenntnis“, einer atmosphärisch dichten, spannend erzählten und bitterbösen Geschichte über den Börsencrash am „Schwarzen Montag“, dem 19. Oktober 1987. Nett zu lesen, aber vergleichsweise harmlos ist dagegen Terry Bissons „Ich habe das Licht gesehen“. Pat Cadigans Geschichte „Rock on“ (bereits auf deutsch veröffentlicht: in der |Heyne|-Anthologie „Spiegelschatten“, herausgegeben von Bruce Sterling) macht genau das, was der Titel verspricht: Sie rockt. Nicht nur Cyberpunk-Freunde werden daran ihren Spaß haben.
Auch einige der deutschen Storys stehen hinter den vier Übersetzungen keinesfalls zurück: An erster Stelle ist „Das Internetz in den Händen der Arbeiterklasse“ von Angela und Karlheinz Steinmüller zu nennen (ebenso für den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert wie die gleichfalls hier vertretenen Geschichten „Don’t Make Me Come Down There“ von Christian Fischer und „Pakettage“ von Barbara Slawig). Die Steinmüllers lassen – höchst amüsant für den Leser und mindestens ebenso beängstigend für den Protagonisten – eine virtuelle Alternativwelt-DDR auferstehen. Leider verschwindet diese fast genauso schnell wieder in den unergründlichen Tiefen des Netzes, wie sie aufgetaucht ist; vielleicht, vielleicht wird aus dieser Idee ja mal eines Tages eine längere Erzählung oder gar ein Roman, vollständig ausgereizt scheint sie hier jedenfalls noch nicht. Christian Fischers Zukunftsvision ist eine ganz andere: Düster und bedrohlich kommt seine Story daher und schildert eine Welt, in welcher der immer stärker auftrumpfende internationale Terrorismus kaum noch Spuren dessen zurückgelassen hat, was uns vertraut ist. Und schnell ist es gegangen: Osama bin Laden lebt noch, Fidel Castro ist erst knapp über hundert Jahre alt – eventuell ein Schwachpunkt, aber wer weiß schon, was morgen geschieht …
Barbara Slawigs Geschichte disqualifiziert sich selbst, da sie im Universum (und offensichtlich auch Kontext) ihres Romans „Die lebenden Steine von Jargus“ (oder „Flugverbot“, so der Titel der Neuauflage bei |Argument|) spielt. Beim damit nicht vertrauten Leser bleibt das Gefühl zurück, etwas Entscheidendes verpasst zu haben. Richtig lustig ist Uwe Hermanns „Unser Biomat“, ebenfalls komisch und gleichzeitig bizarr; stilistisch allerdings doch mit Schwächen behaftet kommt Tubes „Starblut – Eine Zukunftsvision“ daher. Die Horrorfans werden mit Constantin Werners gelungener Geschichte „Der Sukkubus“ bedient. Wolfgang Polifkas „www.totalviewnet@Weihnachten“ ist genau das, was der Untertitel aussagt: eine Weihnachtsgeschichte, nett erzählt, mit einer ordentlichen Pointe, wenngleich zwischendurch das Tempo ein bisschen auf der Strecke bleibt. Dann gibt es noch eine ganze Reihe von Geschichten, die sich in einen Topf werfen lassen: Vermutlich braucht ein Magazin diese kurzen „Appetizer“, heiter bis lustig, mit einer schwer zu verleugnenden Tendenz zur Albernheit, über die man sich nicht groß den Kopf zu zerbrechen braucht, die aber vielleicht dazu anregen, an anderer Stelle (online) weiterzulesen. Im Buch stellen diese Storys – von Thomas Wagner, Jakob Schmidt, Sabine Wedemeyer-Schwiersch, Erik Simon und Alexander Weis – aber eher die Schwachpunkte dar, gerade auch im Vergleich zu den oben genannten. Dabei sind sie, um Missverständnissen vorzubeugen, keinesfalls schlecht geschrieben.
Nicht alles ist so gelungen wie die Storys. Eine Ansammlung verschenkter Möglichkeiten sind beispielsweise die Interviews, die den Leser allesamt nicht zufrieden stellen können. Dabei wurden eigentlich interessante Leute befragt: Marcus Hammerschmitt, Barbara Slawig, Gerd Frey oder die Künstlerin Martina Pilcerova haben alle durchaus etwas zu sagen – oder hätten es. Denn es werden ihnen leider die falschen Fragen gestellt. Den Interviewern fehlt es – vergleichbar einer Dauerwerbesendung im Fernsehen – an jeglicher kritischen Distanz. Sie fragen brav, nach Leben, Werk, Gott und der Welt, bleiben dabei aber zu sehr an der Oberfläche und scheuen sich auffallend, auch endlich einmal nachzuhaken. Fragen, die den Interviewten zum Widerspruch reizen könnten oder – noch schlimmer – die ihm gar missfallen könnten, scheinen verboten zu sein. Besonders auffallend ist das bei Michael Lohrs Interview mit Robert Rankin: Fannische Ehrfurcht und glühende Begeisterung sprechen aus jeder Zeile, der Fragesteller scheint nicht eine Sekunde auf die Idee zu kommen, dass er das Interview nicht nur zu seinem und des Autors Gefallen führt. Rankins Antworten sind genauso „lustig“ wie seine Romane – der Informationsgehalt tendiert gen Null. Die positive Ausnahme ist das Gespräch mit Mary Doria Russell, das auf der |ElsterCon| 2002 in Leipzig geführt wurde. Hier kommen plötzlich interessante Fragen – sinnigerweise aus dem Publikum –, die der Autorin dann auch interessante Antworten entlocken. Alles andere ist leider harmloser Small Talk.
Höchst lobenswert ist dagegen wieder Michael Roths Autorenporträt von Theodore Sturgeon. Der Verfasser hat sich tatsächlich intensiv mit Sturgeon (der Person, nicht nur dem Werk) befasst und schafft es auch, sein breites Wissen unterhaltsam und gleichzeitig informativ zu vermitteln. Hervorragend – bitte mehr davon. Das Gegenbeispiel folgt im zweiten Autorenporträt: Stefan T. Pinternagel will den Amerikaner Barry Hughart vorstellen, verliert über diesen selbst aber kaum mehr als zwei Absätze und widmet sich stattdessen ausführlichst den von Hughart verfassten und bei |Piper| erschienen Meister-Li-Romanen. Durchaus legitim – aber bitte nicht unter dem Label „Porträt“. Da erwartet der Leser keine verkappten Rezensionen. Wie überhaupt auch noch zwei weitere Rezensionen Einzug ins Buch gefunden haben, was ja laut Vorwort eigentlich nicht der Fall sein sollte. Da Rezensent Thomas Harbach aber dazu neigt, ausführlichste Informationen über die jeweiligen Autoren (hier: Hope Mirrlees und Ana Maria Matute) in seine Besprechungen zu packen, ist der Schaden nicht allzu groß. Auch John Clutes „Gefährlich Ehrlich“-Kolumne geht in Richtung Rezension. Seine Ausführungen über Margaret Atwoods „Oryx und Crake“ hinterlassen zwei Fragen: Muss ein Roman schlecht sein, weil er in einer vergleichsweise „altmodischen“ SF-Zukunft angesiedelt ist, die nichts von dem „bigger, better, faster, more“ hat, dem manche Autoren meinen, mit aller Gewalt (und bis hin zur schieren Unverständlichkeit) frönen zu müssen? Und kann die geschätzte Autorin von „The Handmaid’s Tale“ (ein Roman, der sich übrigens auch vieler alter und ältester SF-Motive bedient, deshalb aus dieser – Clutes – Sicht wohl eher nicht als innovativ einzustufen ist, aber dennoch ein brillantes Stück Literatur darstellt) wirklich ein so schlechtes Buch schreiben? Ohne „Oryx und Crake“ gelesen zu haben: Wohl kaum, in beiden Fällen. Womit Clute erreicht hat, was er sicher nicht erreichen wollte. Margaret Atwood verkauft demnächst ein weiteres Exemplar ihres neuesten Romans, damit diese voreilige Behauptung auch überprüft werden kann.
Genug davon, schließlich findet sich noch weitaus mehr im „Alien Contact Jahrbuch“, etwa unter den Essays, die sicher auch vereinzelt die Geschmäcker spalten werden. Der Themenmix, das muss aber uneingeschränkt betont werden, stimmt: Die Columbia-Katastrophe (und damit die bemannte Raumfahrt), das Dauerthema Klonen oder – etwas schwer verdaulich, weil höchst wissenschaftlich – „die Evolution des Universums“ werden behandelt. Boris Koch macht sich Gedanken über Lovecrafts |Cthulhu|-Mythos, Adam Roberts über die |Matrix|-Filme. Spannend sind die Rückblenden auf Artikel aus den allerersten |Alien Contact|-Ausgaben, die allesamt um die sich damals ihrem Ende zuneigende DDR kreisen und von ihren Verfassern – Ralf Lorenz, Karlheinz Steinmüller, Michael Szameit und Bernhard Kempen – aus heutiger Sicht kommentiert werden. Deutsch-deutsche Science-Fiction-Geschichte, die nachdenklich macht, manchen vielleicht sogar wehmütig, an einigen wenigen Stellen aber auch zum Schmunzeln anregt – auch das sollte unbedingt in dieser Form beibehalten werden.
Das Fazit ist allen erwähnten kritischen Punkten zum Trotz eine Kaufempfehlung. Allein die Storys sind es bereits wert – beim Rest wird wohl jeder SF-Interessierte feststellen, dass der überwiegende Teil der Beiträge sein Interesse findet. Einschränkend sei angemerkt, dass der Titel zwar ein Jahrbuch „für Science Fiction und Fantasy“ verheißt, doch zu letzterem Genre (wie auch zum Horror) die Grenzen nur eher selten überschritten werden.
_Armin Rößler_ © 2004
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/ veröffentlicht.|
|Alien Contact| online: http://www.alien-contact.de/