Tony Hillerman – The Ghostway / Das Tabu der Totengeister (Navajo Tribal Police 06)

Navajo Tribal Police Krimi: Eine Frage der Identität

Margaret Billy Sosi hat von ihrem Großvater einen alarmierenden Brief bekommen, und sie macht sich sofort auf den Weg zu seinem Hogan. Doch als sie ankommt, ist ihr Großvater verschwunden. Haben die Gorman-Brüder etwas damit zu tun, die ein krummes Ding gedreht und bei ihm Zuflucht gesucht haben?

Auch Jim Chee von der Navajo Tribal Police stellt sich diese Frage, doch ehe er von Margaret Hinweise bekommen kann, ist auch sie verschwunden. Chee ist nicht der einzige Mensch, der sich auf die Suche nach ihr macht – aber der einzige mit guten Absichten… (Verlagsinfo)

Der Autor

Tony Hillerman (27.5.1925 bis 26.10.2008) wuchs auf einer Farm in Oklahoma (dem früheren Indian Territory) auf und besuchte ein Internat für Indianer. „Ich war ein Ein-Mann-Minderheiten-Problem und weiß seitdem, was es heißt, wie es den Angehörigen einer rassischen Minderheit zumute ist.“ Er war Rundfunkreporter und Professor an der Uni New Mexico sowie Präsident des Autorenverbands „Mystery Writers of America“. Er erhielt u.a. den Edgar Allan Poe Award. Bis zu seinem Tod lebte er lange Jahre als freier Autor in Albuquerque, New Mexico. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Krimis um die Stammespolizei der Navajos. Sie wurden regelmäßig verfilmt. Er starb im Oktober 2008 im Alter von 83 Jahren.

Kriminalromane im Diné

1. The Blessing Way, 1970 (Wolf ohne Fährte, 1972)
2. Dance Hall of the Dead, 1973 (Schüsse aus der Steinzeit, 1976)
3. Listening Woman, 1978 (Das Labyrinth der Geister, 1989)
4. People of Darkness, 1980 (Tod der Maulwürfe, 1982)
5. The Dark Wind, 1982 (Karo Drei, 1984, unter dem Titel Der Wind des Bösen, 1989)
6. The Ghostway, 1984 (Das Tabu der Totengeister, 1987)
7. Skinwalkers, 1986 (Die Nacht der Skinwalkers, 1988)
8. A Thief of Time, 1988 (Wer die Vergangenheit stiehlt, 1990)
9. Talking God, 1989 (Die sprechende Maske, 1990)
10. Coyote Waits, 1990 (Der Koyote wartet, 1992)
11. Sacred Clowns, 1993 (Geistertänzer, 1995)
12. The Fallen Man, 1996 (Tod am heiligen Berg, 1998)
13. The First Eagle, 1998 (Die Spur des Adlers, 2000) – ISBN 3-499-43364-8
14. Hunting Badger, 1999 (Dachsjagd, 2001) – ISBN 3-499-23332-0
15. The Wailing Wind, 2002 (Das goldene Kalb, 2003) – ISBN 3-499-23355-X
16. The Sinister Pig, 2003 (Dunkle Kanäle, 2004) – ISBN 3-499-23688-5
17. Skeleton Man, 2004 (Der Skelett-Mann, 2006) – ISBN 3-499-24118-8
18. The Shape Shifter, 2006 – ISBN 978-0-06-056347-9

Fortsetzung der Leaphorn/Chee Serie

Im Jahre 2013 veröffentlichte Tony Hillermans Tochter Anne mit Spider Woman’s Daughter (ISBN 0-06-227048-6) eine Fortsetzung der Kriminalromanserie mit Bernadette Manuelito als Protagonistin. 2015 folgte mit Rock with Wings: A Leaphorn, Chee & Manuelito Novel (ISBN 978-0-06-227051-1) eine weitere Episode der Kriminalromanserie von ihr. (Wikipedia.de)

Verfilmungen

– The Dark Wind, 1991, Regie: Errol Morris, Hauptrolle: Lou Diamond Phillips (Jim Chee); deutsch unter dem Titel Canyon Cop, 1995

Für den US-amerikanischen Sender PBS:

Executive Producer: Robert Redford
Hauptrollen: Wes Studi (Joe Leaphorn) und Adam Beach (Jim Chee)

– Skinwalkers, 2002
– Coyote Waits, 2003
– A Thief of Time, 2004 (Wikipedia.de)

Handlung

Old Man Joe Joseph muss eine Szene wie aus einem Horrorfilm mitansehen. Es beginnt ganz harmlos. Vor dem Münzwaschsalon von Shiprock hält ein Mietwagen, dessen Fahrer ihn lässig zu sich winkt, als wäre der alte Mann sein Laufbursche. Er zeigt ihm ein Polaroidfoto. „Ich suche diesen Mann namens Gorman. Leroy Gorman, ein Navajo, gerade erst hergezogen.“ Der Fahrer sieht nicht gerade vertrauenerweckend aus, ist aber ein Navajo, doch er versteht die Sprache seiner Vorväter nicht mehr. Dieser Navajo hat die Manieren eines Weißen aus der Stadt und versteht nur Englisch. „Kenne ich nicht“, sagt Hosteen Joseph. Es ist die reine Wahrheit.

Er geht zurück zu seinem Wagen, um die Wäschesäcke einzuladen, als mit quietschenden Reifen ein weiterer Wagen hält. Dessen Fahrer, ein Weißer, steigt mit einer Pistole bewaffnet aus und nähert sich dem Navajo-Fahrer. Er wird später als Lerner identifiziert. „Du hast dich nicht an die Regeln gehalten, Albert“, sagt er. Joe Joseph hat sich gerade abgewendet, als vier Schüsse fallen. Er dreht sich erschrocken um. Der Neuankömmling liegt am Boden, der andere, Albert [Gorman], hält sich an der Wagentür fest. Er ist anscheinend ebenfalls verletzt. Keine Zeit, ihm Hilfe anzubieten. Der Schütze steigt in seinen Wagen und sucht das Weite.

Officer Jim Chee

Später übernimmt das FBI den Fall und vernimmt alle Zeugen. Die Feds kommen aber keinen Schritt weiter, bis es Jim Chee von der Navajo Tribal Police zugeteilt bekommt. Officer Chee ist gerade emotional stark mit dem drohenden Verlust seiner Freundin, der Lehrerin Mary Landon beschäftigt, als sein Chef Captain Largo ihm den Fall zuteilt. „Bloß helfen, nichts weiter, keine Eigenmächtigkeiten!“ lautet die strenge Anweisung. Null problemo, denkt Chee und hilft den FBI-Agenten, den Schützen zu finden.

Er findet die Leiche unter dem Felsblock, der ganz weit draußen in der Pampa des riesigen Reservats liegt. Das Besondere: Jemand hat den Felsblock auf diesen Albert Gorman rollen lassen und ist selbst verschwunden. Zweitens könnte es sich dabei um Old Man Ashie Begay handeln, der in einem alten, aber schön gelegenen Hogan über dem San Juan River gewohnt hat. Jim Chee fragt sich, warum Begay im nächstgelegenen Handelsposten Medikamente und Verbandszeug für den Verletzten kaufen wollte, wenn er doch eh vorhatte, ihn auf diese ungewöhnliche Weise zu töten. Viele Fragen bleiben offen.

Weil das FBI angeblich vergessen hat, Joe Joseph nach der Unterhaltung mit diesem Albert zu fragen, will Chee das nachholen. Er findet heraus, dass der FBI-Agent namens Sharkey Joseph durchaus danach gefragt und der ihm alles erzählt hat, sich aber nichts davon in der Akte findet, die das FBI der Navajo Tribal Police ausgehändigt hat. Was verschweigt das FBI noch vor den Navajo?

Entwischt

Bevor Chee losfährt, will Captain Largo, dass er nach einem siebzehnjährigen Mädchen namens Margaret Billy Sosi sucht, das nicht zur Schule erschienen ist. Ashie Begay, ebenfalls untergetaucht, ist ihr Großvater und einziger lebender Verwandter. Jim Chee vermutet einen Zusammenhang. Mächtiger Ärger, der schon in L.A. zur Ermordung eines FBI-Agenten geführten hat, ist im Anzug, und jemand wie Begay ahnt offenbar, dass das für ihn nichts Gutes bedeutet. Er ist untergetaucht, nachdem er seiner Enkelin Margaret Sosi einen Brief mit einer Warnung geschickt hat. Wie Chee am Hogan herausfindet, folgt sie ihrem Großvater, vom Hogan nach L.A.. Sie entwischt Chee.

In Los Angeles

Weil sie nach L.A. getrampt ist und von dort die Gorman-Brüder stammen, macht sich Chee in seiner Freizeit auf den Weg, um die Wurzeln der beiden Autodiebe zu erforschen. Er hat sich die Adresse gemerkt, wo Albert Gorman gewohnt hat. Er braucht nicht lange vor dem Apartment zu warten: Zu seiner Genugtuung helfen ihm zwei Cops des LAPD gerne, denn in einer seit neun Jahren dauernden Fehde mit einem reichen Autohehler hat es zahlreiche Opfer gegeben, darunter den Freund der beiden Cops. Als sie ihn vor dem Auftragsmörder des Autohehlers, einem Kerl namens Vaggan (und nicht etwa Lerner), warnen, ahnt Chee noch nicht, dass es nun auch um sein Leben geht…

Mein Eindruck

Diese Verbrechen kann nur ein Navajo korrekt aufklären, so viel ist sicher. Nicht nur sind Leroy und Albert Gorman beide Navajos (wenn auch aus LA), sondern auch der Killer Vaggan ist auf seine spezielle Weise mit den Sitten und Bräuchen dieses Volkes vertraut: Er hat seine Informationen aus Büchern, die es mittlerweile in großer Zahl auf dem Markt gibt und setzt dieses Wissen schlau ein, um seine Verfolger in die Irre zu führen.

Nur ein Ermittler, der aus erster Hand über das Navajo-Erbe Bescheid weiß, kann ihm auf die Schliche kommen. Doch hier liegt der Hase im Pfeffer: Jim Chee steckt gerade selbst in einer Identitätskrise: Er muss sich zwischen einem Leben an Marys Seite und in Diensten des FBI fern der Heimat einerseits und einem leben in der Reservation, aber ohne Mary entscheiden. Während seiner ganzen Ermittlung ist er zerrissen und manchmal dadurch abgelenkt. Das erweist sich als verhängnisvoll.

Doch Jim Chee ist ein „Long Thinker“, so lautet sein geheimer Kriegername. Und er ist hartnäckig. Nicht weniger als dreimal schaut er sich Ashie Begays seltsam zugerichteten Hogan an. Ist da drin wirklich jemand verstorben, dann lauert ein Chindi auf ihn. Margaret Sosi hat diese Skrupel offenbar nicht, als er sie beim zweiten besuch dort antrifft. Sie entwischt ihm. Doch beim dritten Besuch ist ihm endlich klar geworden, dass der verletzte Albert Gorman gar nicht in der Hütte starb, sondern vielmehr draußen bestattet wurde – die Chindi-Gefahr ist gebannt. Als sich Chee im Hogan umsieht, findet er, was er sucht: Begay hätte diese magischen Gegenstände garantiert mitgenommen. Folglich muss er tot sein. Er findet seinen Verdacht bald bestätigt. Was er findet, sagt viel über den Killer aus.

Was Chee ebenso verwirrt wie den aufmerksamen Leser, ist der Umstand, dass es zwei Botschaften gibt, eine von von Ashie Begay, die andere von Leroy Gorman. Die eine ist eine Postkarte, die andere ein Brief. Begay hat seine Enkelin gewarnt, keinem zu trauen. Leroy hat an seinen Bruder Albert ebenfalls ein Foto geschickt. Hinter diesem Foto sind nun alle her. Denn es ist dieses Foto, das eine gefälschte Identität auffliegen lassen würde. Und die letzte Behörde, die das herausfinden darf, wenn es nach dem Autohehler und seinem Killer geht, ist das FBI. Deshalb soll jeder Träger dieses Fotos sterben, also auch die junge Sosi.

Die Dineh

Der wichtigste Aspekt, der diesen und alle anderen Navajo-Krimis so einzigartig macht, sind selbstredend die Navajos. Sie selbst nennen sich Dineh, also Das Volk. Zusammen mit den Hopi und Pueblo bewohnen eine ausgedehnte Reservation und pflegen die Ausübung ihrer komplexen Religion und Mythologie. Auf dieser Grundlage fußen die Glaubensgrundsätze, Bräuche und Rituale, nach denen gläubige Navajo leben. Sichtlich wird dieses Brauchtum von der jungen Generation der Gorman-Brüder missachtet oder zumindest vergessen.

Entfremdet

Nun dringen fremde Navajo ins Land ein, um Verbrechen zu begehen. (In späteren Romanen auch vielfach Weiße.) Ihr Anführer, der gutes Englisch und schlechtes Navajo spricht, gehört der Generation der Verlorenen an. Sie wurden vom staatlichen Indianerbüro in Los Angeles angesiedelt, als ob dies ihnen irgendetwas nützen könnte – die Entwurzelten wurden Alkoholiker, Arbeitslose, Kriminelle. Dazu gehört auch eine neunzigjährige alte Frau mit dem bezeichnenden Namen Bentwoman. Sie kann Ashie Begays Stammbaum mitsamt sämtlichen Sippen und Verwandtschaftsgraden auswendig herunterrasseln. Das dauert eine Weile, aber ein Navajo wie Jim Chee ist von klein auf Geduld, Zuhören und Auswendiglernen gelehrt worden. Es lohnt sich, denn nun ist beiden klar, dass Begay tot sein muss.

Kurz vorm Finale manifestiert sich die Identität von Jim Chee und Margaret Sosi in einem Reinigungsritual, das drei Tage dauert. Chee betrachtet sich selbst Medizinmann und muss erfahren, dass es kaum noch welche seines Schlages gibt. Er ist verpflichtet, diese verschwindende Tradition fortzuführen. Kaum ist wieder in seiner Identität verortet, als ihm des Rätsels Lösung einfällt. Kurz darauf kommt es zum finalen Showdown, der einen unerwarteten Ausgang nimmt.

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist einwandfrei und flüssig zu lesen. Ich konnte keine Druckfehler finden.

Unterm Strich

Ich habe das Buch an nur drei Tagen gelesen, aber man es sicher schneller bewältigen. Wenn man sich, wie ich, für Indianer und/oder den malerischen Südwesten der Vereinigten Staaten interessiert, wird man mit Hillermans Krimis über die Navajo Police bestens mit informativer Spannungslektüre versorgt. Man lernt viel über die eigenständiger Kultur und Religion der Navajo, Hopi und Pueblo, in Band 8 auch über die verschwundenen Anasazi (s.o.).

Das Land als Mitspieler

Die detaillierten Beschreibungen von Landschaft, Flora und Fauna der Region sind derart realistisch, dass dem Leser sofort klar ist, dass das Land ein Mitspieler in dieser Handlung ist. Ohne das Land und seine lange Geschichte sind die Navajo nichts. Gemäß ihrer Mythologie leben sie bereits in der vierten Welt. Zeit ist also jederzeit in ihrem Bewusstsein. Die alten „Götter“ wie etwa Changing Woman oder Talking God sind lebendig und geben die Regeln vor, wie die Navajo denken, fühlen und leben.

Generalthema

Das durchgehende Thema dieses Bandes ist innere und äußere Identität. Will Jim Chee, der Ermittler, weiter ein Navajo bleiben oder für seine Liebe ein Entwurzelter werden? Wie diese Entwurzelten leben müssen, findet Chee auf die harte Tour heraus: Es ist eine Wellblechbaracke ganz am Rande von L.A. Und männliche Navajo sind offenbar meist Verbrecher. Leroy Gorman, nach dem alle Ermittler suchen, war nicht nur ein professioneller Autodieb, sondern ein Kronzeuge des FBI und wurde in ein Kronzeugenschutzprogramm gesteckt: Ihm wurde seine Identität absichtlich genommen. Schließlich wurde ihm auch diese geraubt.

Dann gibt es wiederum Leute, die sich als Navajo tarnen, um umso leichter und folgenloser ihre Verbrechen in der Reservation begehen zu können. Leute wie Vaggan, der eingehend als ein interessanter Charakter eingeführt wird. Ein große Szene in der Mitte ist ganz alleine seinem Vorgehen gewidmet. Vaggan, Sohn eines West Point Absolventen, ist ein „Preppie“: Er hat sich auf den atomaren Holocaust vorbereitet und finanziert mit seinen Aufträgen den Bau seines Atombunkers.

Er ist dadurch das genaue Gegenteil eines Navajo-Kriegers: Ein Navajo ist stets Teil einer ausgedehnten Gemeinschaft, wie Bentwoman (s.o.) belegt. Vaggans Tod und Ende wirken als sehr ironischer Kommentar auf dieses Vorbereitsein: Er wird von der unwahrscheinlichsten Person erwischt, die man sich vorstellen kann. (Und dass es ihn erwischt, ist schließlich kein Geheimnis: Alle Hillerman-Krimis sind dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit verpflichtet. Nur so lässt sich „hozro“, die kosmische und innere Harmonie erzielen.) Aber bis es soweit ist, muss der Leser die gleiche Verwirrung durchlaufen wie der Ermittler selbst. Das stellt eine gewisse Geduldsprobe dar.

Das Cover

Das Titelbild der zweiten deutschen Auflage hat mir sehr gut gefallen. Auch wenn es kein heiliges Sandbild zeigt, so ist doch deutlich eine Art Kachina zu erkennen, also ein Puppe der Hopi oder Pueblo. Im Hintergrund zieht sich ein perlenbestickter Gürtel, eine Art Wampum, durchs Bild. Er kommt zwar nie vor, sieht aber gut aus. Dahinter wiederum sieht man ein Felsrelief, das einen Büffel darstellen könnte.

Michael Matzer © 2019ff

Taschenbuch: 256 Seiten
Originaltitel: The Ghostway, 1984
Aus dem Englischen von Klaus Fröba.
ISBN-13: 9783499230806

www.rowohlt.de

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