Matthew Kneale – Englische Passagiere

England im Jahre 1857. Seit zwei Jahrzehnten sitzt Königin Victoria auf dem Thron des britischen Reiches, das sich in dieser Zeit ständig ausdehnt. Das wird sich in den folgenden Jahrzehnten (Victoria herrscht 64 Jahre!) praktisch ungehindert fortsetzen, bis über einem guten Viertel der Landfläche unseres Planeten die britische Flagge weht.

Zu den aktuellen „Neuerwerbungen“ gehört Van Diemen´s Land, eine große Insel vor der Südspitze Australiens. Die Briten haben sie vor Jahren den Holländern abgenommen und werden sie bald „Tasmanien“ nennen. Derzeit sind sie damit beschäftigt, Tasmanien ins Empire zu integrieren. Die Aussicht, sein Glück „in den Kolonien“ zu machen, erzeugt eine Art Goldgräberstimmung und lockt eine bunte Mischung aus unternehmungslustigen jungen Männern, gestrengen Kolonialbeamten, Pflanzern, Händlern, Missionaren und Glücksrittern an. Auch als Ort der Verbannung für Sträflinge eignet sich das vom Mutterland angenehm ferne Eiland vorzüglich.

Alle sind folglich zufrieden – mit einer Ausnahme: Tasmanien war niemals eine menschenleere Insel. Etwa 4000 „Aborigines“, deren Vorfahren einst aus Australien kamen, lebten hier. Nachdem Tasmanien 1804 von den Weißen entdeckt und in Besitz genommen wurde, begann umgehend die „Zivilisierung“ der „Wilden“. Von ihrem Land wurden sie vertrieben oder in Konzentrationslagern zusammengepfercht, gern auch „gejagt“ oder wie Ungeziefer ausgerottet. Eingeschleppte Krankheiten und der Alkohol gaben ihnen den Rest. Jetzt, nur ein halbes Jahrzehnt später, haben weniger als 20 Männer und Frauen diesen Völkermord überlebt. Einer von ihnen ist der junge Peevay, Sohn einer Ureinwohnerin und eines Sträflings, der sie einst vergewaltigt hatte. Er erzählt diese traurige Geschichte, die hier kurz skizziert wurde.

Die Kunde vom nahen Ende der „eingeborenen“ Tasmanier ist im britischen Mutterland nicht unbemerkt geblieben. Dr. Potter, Chirurg und Amateur-Anthropologe, sieht die Chance gekommen, seine „wissenschaftliche“ Theorie vom „biologischen Recht“, wenn nicht gar der Pflicht des „weißen Herrenmenschen“, die „minderwertigen Rassen“ aus dieser Welt zu tilgen, zu „beweisen“. Genau dieser Prozess ist in Tasmanien seiner Ansicht nach im Schwange bzw. fast abgeschlossen. Wenn er sich noch ein Versuchsobjekt zwecks Untersuchung auf dem Seziertisch und anschließender Präparierung für das Museum schießen will – eine in dieser Zeit durchaus gängige Methode, die Ureinwohner dieser Welt zu „erforschen -, muss er sich also beeilen.

Viele Schiffe sind es nicht, welche die weite und gefährliche Seereise nach Tasmanien unternehmen. Potter hat keine große Auswahl. Er kann froh sein, sich auf dem maroden Segler „Sincerity“ einschiffen zu können. Kapitän Kewley gehört kaum zu den herausragenden Vertretern seiner Zunft. Eigentlich hatte er vor, eine profitable Ladung Cognac und Tabak von Frankreich nach England zu schmuggeln. Mit dem ihm eigenen Ungeschick hat er dieses Unternehmen wieder einmal scheitern lassen und sich selbst und seine Mannschaft in große Schwierigkeiten gebracht. Unter diesen Umständen lässt er sich leicht „überreden“, ein britisches Expeditionskorps samt Kapelle sowie einige Sträflinge nach Tasmanien zu bringen. Außerdem gedenkt er, seine unterbrochene Schmugglerkarriere in fremden Gewässern wieder aufzunehmen.

Aufgeregt erwartet Reverend Wilson, Dirigent der besagten Kapelle, die Ankunft der „Sincerity“ auf Tasmanien. Er hat sich dem Kampf gegen den Ungeist des Darwinismus‘ verschrieben und ist fest davon überzeugt, auf der fernen Insel das verlorene Paradies der Bibel auf Erden wiederzufinden.

Die Reise verläuft erwartungsgemäß turbulent. Sich selbstgefällig in der angemaßten Gunst von Gott, Königin und Vaterland sonnend, in allen Häfen der Welt die einheimische Bevölkerung vor den Kopf stoßend und völlig blind gegenüber der Tatsache, dass man nun eine Welt betritt, die nach ihren eigenen Regeln lebt, steuern die englischen Passagieren auf der „Sincerity“ Tasmanien an. Dort reihen sie sich ein in die Reihen jener, die mit der endgültigen „Kultivierung“ der Insel und ihrer Bewohner beschäftigt sind. Sie unternehmen eine strapaziöse Expedition ins Landesinnere, die ausgerechnet vom rachedürstenden Peevay geführt wird und in einer Kette von Desastern endet. Bis sich die schwer mit Waren aller Art, Konterbande und wissenschaftlichen Präparaten beladene „Sincerity“ auf ihre Rückfahrt nach England begibt, werden nicht alle Passagiere zurück an Bord gelangen, und auch die Überlebenden dürfen sich nur kurze Zeit in Sicherheit wiegen …

„Englische Passagiere“ ist ein historischer Roman ganz besonderen Kalibers. Mit trügerischer Eleganz tarnt er sich als Satire auf jene ruhmlose Phase der Weltgeschichte, in der die Großmächte Europas daran gingen, Kolonialreiche zu gründen. Im Namen Gottes, des Fortschritts und des Profits – die Reihenfolge ist beliebig – löschten die bornierten Eroberer ganze Völker und uralte Kulturen aus. Matthew Kneale beschreibt die Dezimierung der tasmanischen Ureinwohner von einigen Tausend auf praktisch null – ein Prozess, der sich zwischen dem 16. und der Mitte des 20. Jahrhunderts überall auf der Welt und meist in weit größerem Maßstab wiederholte. Die Reduktion auf einen überschaubaren Schauplatz verdeutlicht das universelle Grauen paradoxerweise noch; 4.000 Tote repräsentieren eine Tragödie, 400.000 oder 4.000.000 nur eine Zahl, um ein bekanntes Wort abzuwandeln.

Kneales Panorama der Kolonialepoche ist großartig geschrieben. Die meisten Autoren historischer Romane sehen ihre wichtigste Aufgabe darin, die zeitgenössischen Fakten korrekt wiederzugeben. Sie wissen wunderbar über die Evolution des Kragenknopfes im frühen 18. Jahrhundert Bescheid und lassen sich nicht davon beirren, dass solche Details vom Publikum entweder kaum bemerkt werden oder sie ihm völlig gleichgültig sind. Man kann es nicht häufig genug wiederholen: Die Geschichte hat im Vordergrund zu stehen, und sie ist stets mehr als die Summe ihrer einzelnen Elemente.

Wie es richtig gemacht wird, führt Kneale mit „Englische Passagiere“ mit eindrucksvoller (und für weniger talentierte Schriftstellerkollegen wahrscheinlich entmutigender) Wortgewalt vor. Die Genauigkeit des historischen Hintergrunds setzt er voraus – Geschichte hat er schließlich (s. u.) studiert – und entwickelt daher ohne Umschweife die grimmig-fesselnde Handlung.

Eine bitterernste Geschichte über (den) Völkermord wäre wahrscheinlich keine Garantie für einen Publikumserfolg. Daher verpackt Kneale die bittere Pille in einem scheinbar süßen Überzug. Die Irrfahrt des Narrenschiffes „Sincerity“ (schon dieser Name – „Aufrichtigkeit“ – ist die schiere Ironie), und die Abenteuer ihrer Passagiere erinnern an einem Auftritt der legendären Komikergruppe „Monty Python“. Dort wie hier kann einem das Lachen allerdings leicht im Halse stecken bleiben. Die satirische Überspitzung mildert nicht das Entsetzen über den wie selbstverständlichen Genozid an den Tasmaniern, die rücksichtslose Ausbeutung und Zerstörung der ur- und eigentümlichen kleinen Inselwelt und die Selbstherrlichkeit der Kolonialherren. Die Komik kann zudem von einem Augenblick zum anderen in Tragik oder nackten Terror umschlagen. Der Handlungsstrang der Tasmanien-Expedition erinnert an die parabelhafte Afrika-Novelle „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad, noch mehr allerdings an die delirierende Verfilmung „Apokalypse Now“ von Francis Ford Coppola.

Die Handlung ist spannend und (trotz einiger Längen) immer schlüssig. Außer den bereits erwähnten Hauptpersonen (zu denen sich übrigens noch ein rebellischer Botaniker gesellt) lässt Kneale noch mehr als ein Dutzend Nebenfiguren auftreten (koloniale Würdenträger, Siedlerfrauen, Ureinwohner, Sträflinge etc.), die (es) mit der „Sincerity“-Expedition zu tun bekommen. Ihre Schilderungen vervollständigen das Bild der Welt um 1850, in der – das macht Kneale deutlich – fleißig das Fundament gelegt wurde, auf dem noch im 20. Jahrhundert weiter gemordet, unterdrückt und geplündert wird.

Matthew Kneale, geboren 1960 in London als Sohn von Judith Kerr (der Tochter des berühmten Theaterkritikers Alfred Kerr), studierte Neuere Geschichte in Oxford. Anschließend entschloss er sich zu schreiben. In nur wenigen Jahren hat er sich einen Namen machen können und wurde bereits mit dem „Somerset Maugham Award“ und dem „John Llewellyn Rhys Award“ ausgezeichnet.

Die deutsche Ausgabe von „Englische Passagiere“ weiß durch die sorgfältige Übersetzung und nicht zuletzt durch die auch im Taschenbuch schöne Aufmachung zu gefallen: trotz des unbehaglichen Themas ein in jeder Hinsicht gelungenes Buch.

Taschenbuch: 544 Seiten
www.dtv.de