Margaret Peterson Haddix – Schattenkinder (Schattenkinder-Zyklus 1)

Die verbotenen Kinder: vor dem Aufstand

Der zwölfjährige Luke existiert, obwohl es ihn nicht geben darf: Er ist ein drittes Kind – in einer Gesellschaft, die nur zwei Kinder pro Familie erlaubt. Die ersten zwölf Jahre seines Lebens verbringt er in einem Versteck, verborgen vor der Bevölkerungspolizei. Bis er eines Tages entdeckt, dass er nicht alleine ist… (Verlagsinfo)

Die Autorin

Margaret Peterson Haddix (* 9. April 1964) wuchs zusammen mit drei Geschwistern auf einer Farm in Ohio, USA, auf. Nach Beendigung ihres Studiums 1986 an der Miami University of Ohio arbeitete sie in verschiedenen Berufen, als Journalistin bei einer Tageszeitung in Indianapolis, Dozentin an einem College und als freie Journalistin in Danville, Illinois. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Columbus, Ohio, und schreibt erfolgreich Kinder- und Jugendbücher. (Verlagsinfo und Wikipedia)

Die Schattenkinder-Reihe:

– Schattenkinder, 2002, ISBN 3-423-70635-X, Among the Hidden, 1998
• Unter Verrätern, 2003, ISBN 3-423-70770-4, Among the Imposters, 2001
• Die Betrogenen, 2003, ISBN 3-423-70788-7, Among the Betrayed, 2002
• In der Welt der Barone, 2005, ISBN 3-423-70907-3, Among the Barons, 2003
• Im Zentrum der Macht, 2006, ISBN 3-423-70984-7, Among the Brave, 2004
• Gefährliche Freiheit, 2006, ISBN 3-423-71200-7, Among the Enemy, 2005
• Among the Free, 2006

Im Sog der Zeiten

• Die Entführten, 2009, ISBN 3-423-71380-1, Found, 2009
• Die Intrige, 2010, ISBN 3-423-71383-6, Sent, 2009
• Die Ausgesetzten, 2010, ISBN 3-423-71410-7, Sabotaged, 2010
• Die Gestrandeten, 2011, ISBN 3-423-71457-3, Torn, 2011

Mehr Info: http://www.haddixbooks.com/ (ohne Gewähr) und am Schluss dieses Berichts.

Handlung

Der Wald hinter der Scheune wird abgeholzt. Nun kann sich Luke Garner nicht mehr hinter den Bäumen verstecken. Seine Eltern rufen ihn ins Haus zurück und richten ihm auf dem Dachboden ein eigenes Zimmer ein. Der gravierende Nach- oder Vorteil, je nach Betrachtungsweise: Es hat kein Fenster. Er kann nicht hinausschauen – aber niemand kann ihn, das verbotene dritte Kind, entdecken.

Wegen des Nahrungsmangels habe die Regierung den Familien nur zwei Kindern gestattet, erzählt ihm seine Mutter, und der Vater sorgt dafür, dass die Gesetze auch beachtet werden. Aber er kann auch nichts dagegen tun, wenn das Halten von Schweinen und das Anlegen von Hydrokulturen verboten werden. So bleibt den Garners nur noch der Getreidebrei für Futtermittel, und Mutter muss in der Hühnerfabrik arbeiten. Die zwei anderen Söhne sind teils bedrückt wegen der Lebensumstände, teils spöttisch. Aber alle haben Angst vor der Bevölkerungspolizei, die Luke abholen und töten könnte.

Das Mädchen

Nach sechs Monaten des Verstecken, in denen Luke verfolgt hat, wie die neue Siedlung auf dem ehemaligen Waldboden errichtet wurde, entdeckt Luke durch einen der beiden Ventilatoren ein anderes Gesicht. Zuerst nur ganz flüchtig, dann durch systematische Beobachtung und die Zählung der 28 Siedlungsbewohner ermittelt er messerscharf, dass in einem der Häuser ein anderes drittes Kind leben muss. Es hält sich gut versteckt, doch die Anzeichen sind unverkennbar.

Eines Tages hält er es nicht mehr aus: Er muss herausfinden, wer es ist und wie es lebt, vielleicht können sie sogar Freunde werden. Es ist ein Mädchen in Lukes Alter, und als erstes bedroht es den Eindringling, der die Alarmanlage ausgelöst hat, mit einem Gewehr. So hat sich Luke, der bislang nur die winzige Welt seines Bauernhofes kennt, die Begegnung mit einem fremden Menschen vorgestellt – irgendwie freundlicher.

Ihr Plan

Jen hat einen Computer, mit dessen Hilfe sie in einen Chatroom gelangt, in dem sie sich mit anderen verborgen lebenden Kindern austauschen kann. Ihr Vater ist Regierungsbeamter, deshalb macht sich Jen stets über die Dummheit von Regierungsvertretern lustig. Doch Jen hat auch einen verwegenen Plan: Sie will vor dem Haus des Präsidenten in der weit entfernten Hauptstadt eine Kundgebung der „Schattenkinder“ abhalten und Freiheit einfordern.

Dieser Plan erscheint Luke gefährlich und riskant. Ein halbes Jahr vergeht und Luke wird 13 Jahre alt, doch Jen gibt ihren Plan nicht auf. Ganz im Gegenteil: Im Frühjahr will sie losfahren. Bestimmt kommt Luke doch mit, oder? Doch Luke hat es sich überlegt: Für ihn ist die Gefahr zu groß, und er denkt auch an das Schicksal seiner Familie, sollte die Kundgebung keinen Erfolg haben. Würde die Bevölkerungspolizei alle vier verhaften und ins Gefängnis werfen – oder Schlimmeres tun?

Weg!

Eines Tages ist Jen verschwunden. Als Luke nachsieht und in das leere Haus einbricht, steht da auf einmal wieder ein Mensch mit einem Gewehr, das auf ihn zielt. Wenigstens ist er kein Bevölkerungspolizist, denkt Luke. Doch die folgenden Ereignisse übertreffen seine schlimmsten Befürchtungen, doch dann tritt eine unerwartete Wende ein…

Mein Eindruck

Die Geschichte von Luke klingt nach einer schwarzen Zukunftsvision. Doch tatsächlich handelt es sich um die Übertragung des chinesischen Modells der Ein-Kind-Familie auf die amerikanische Gesellschaft. Der Grund für die drakonischen Maßnahmen, die die Autorin hier ausmalt, sind drei Missernten und Dürren in Folge. Diese Katastrophe erscheint heute im Zuge des Klimawandels durchaus als realistische Möglichkeit. Das Zeitalter der Umbrüche, die der Klimawandel hervorruft, hat ja gerade erst begonnen – und wird auch erst in ferner Zukunft enden. Ob die Menschheit dieses Ende erleben wird – wer weiß?

Die Situation, in der sich Luke befindet, schildert die Autorin anrührend und sehr glaubhaft, so dass sich der Leser gut in seine Lage versetzen kann. Sie hat hier sicherlich auf ihre eigenen Erfahrungen zurückgegriffen, denn sie wuchs ja selbst auf einem Bauernhof auf, der bereits zu Anfang des 19. Jahrhundert gegründet wurde (ohne Zweifel auf ehemaligem Indianerland). Sie las, wie ihre Figur, sehr viel und erweiterte dadurch ihren Horizont. Luke geht ja nie zur Schule, sondern erlernt das Lesen und Schreiben von seiner Mutter. Das wird am Schluss des Romans eine große Rolle spielen.

Jennifer

Sein Dachboden ist nicht etwa eine paradiesische Zuflucht, erkennt er, sondern ein Gefängnis. Nur der Blick aus den Ventilatoröffnungen gewährt eine Perspektive – aber nur auf die Häuser der Landräuber, die er die „Barone“ nennt. Die Begegnung mit Jennifer Grant, die sich burschikos „Jen“ nennt, stellt seine Welt praktisch auf den Kopf. Als wäre Robinson Crusoe von seiner Insel entkommen und hätte andere menschliche Wesen entdeckt.

Zum Glück ist Jen alles andere als eine wilde Menschenfresserin. Sie ist online und Leiterin eines Chatrooms, in dem sich illegale Kinder wie sie beide austauschen. Das Wichtigste, das Luke von ihr lernt, ist die Unterscheidung zwischen offizieller Lüge und realer Wahrheit. Er hat bislang, wie seine Familie, alles geglaubt, was die Regierung verkündet und dekretiert hat. Doch nun sagt ihm Jen, dass die Regierung lügt, um ihre eigenen finsteren Ziele zu verfolgen. Und wer zahlt die Zeche? Immer die Wehrlosen und ganz besonders die illegalen Kinder.

Das Passwort für den Chatroom lautet FREI, und das will Jen auch sein. Was für eine Kühnheit! Luke hat sich nicht vorstellen können, dass sich jemand hinstellen könnte und Freiheit einfordern könnte. Er hat das Duckmäusertum seiner Familie bereits verinnerlicht. Über die Brutalität der schier allgegenwärtigen Bevölkerungspolizei gehen Horrorgeschichten um, die dafür sorgen, dass alle sich in Sicherheit bringen, nicht nur die Kinder selbst, sondern auch die Eltern und andere Erziehungsberechtigte.

Unterm Strich

Hieße Luke beispielsweise „Anne Frank“, dann würde er im gleichen Klima aufwachsen wie ein jüdisches Kind unter der Nazi-Herrschaft. So macht die Autorin begreiflich, was „Schreckensherrschaft“ über „Andersartige“ in Wahrheit bedeutet. Das ist einer der besten Aspekte an diesem herausragenden Buch.

Ich habe das Buch auf einer Zugreise gelesen, also in weniger als acht Stunden (mit Pausen). Ich fand die Geschichte Lukes einfach, leicht verständlich erzählt und völlig glaubwürdig. Hier wird nicht eine Prämisse übers Knie gebrochen, um ein Menetekel an die Wand zu malen (wie etwa in Orwells „Farm der Tiere“) . Vielmehr führt die journalistisch gebildete Autorin den jungen Leser (ab 12 oder 13) sachte und schrittweise in eine relativ unmenschliche Situation ein und malt deren Konsequenzen aus.

Ist die Freiheit, die Jen fordert und als Hoffnung in Aussicht stellt, eine realistische Option für Luke? Dies ist ein heikler Punkt, und die Erzählerin macht es sich nicht leicht, seinen Rückzieher zu erklären. Das hat mich beeindruckt. Auch das Finale ist kein Entweder-Oder, sondern erfordert in der Hauptfigur einen Wandel.

Über den Schluss sollte ich eigentlich nichts verraten, aber die Geschichte erfordert zwingend eine Fortsetzung. Luke erhält eine neue Identität und muss ein Leben ohne Jen und ohne seine Familie in Angriff nehmen, draußen in der Fremde. Es ist für ihn unerträglich geworden, seine Familie weiterhin dem Risiko der Entdeckung und Deportation auszusetzen.

Und nach Jens Verschwinden – die Gründe und Folgen werden eingehend erklärt – braucht er neue Erfahrungen, um die vorhandenen Ansätze zu vertiefen. Außerdem will er anderen Schattenkindern helfen. Doch dies könnte eine Revolution erfordern. Wie die Geschichte weitergeht, hoffe ich bald zu erfahren. Der Roman und seine Fortsetzungen erzählen Geschichten, die zum Nachdenken anregen, ohne irgendwelches Science-Fiction-Brimborium einzusetzen – eine Anti-Utopie, die allzu leicht Wirklichkeit werden könnte.

Weitere Romane von Haddix (Quelle: Wikipedia.de)

• Running Out of Time, 1995
• Don’t You Dare Read This, Mrs. Dunphrey, 1996
• Sie sind die Antwort auf alles, 1999, ISBN 3-423-78129-7, Leaving Fishers, 1997 (bei DTV)
• Just Ella, 1999
• Experiment ewige Jugend, ISBN 3-423-70818-2, Turnabout, 2000 (bei DTV)
• The Girl With 500 Middle Names, 2001
• Takeoffs and Landings, 2001
• Because of Anya, 2002
• Escape From Memory, 2003
• Say What, 2004
• The House on the Gulf, 2004
• Double Identity, 2005
• Dexter the Tough, 2007
• Uprising, 2007
• Palace of Mirrors, 2008
• Claim to Fame, 2009
• Into The Gauntlet, 2010
• The Always War, 2011

Taschenbuch: 176 Seiten
Originaltitel: Among the hidden, 1998
Aus dem Englischen von Bettina Münch
ISBN-13: 9783423706353

www.dtv.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (3 Stimmen, Durchschnitt: 3,67 von 5)