Naipaul, Vidiadhar S. – Magische Saat

Sir Vidiadhar Surajprasad Naipaul – einer der bedeutsamsten Englisch schreibenden Romanciers der Gegenwart. Umstritten, geschätzt, verachtet. Nun treibt sein Werk langsam dem Ende entgegen. Er weiß das, erkennt die Begleiterscheinungen des Alterns und will doch nicht zur Ruhe kommen. Es wäre für ihn ein Akt der Schwäche, sich einzureden, er habe nichts mehr zu tun, nun wo er dreiundsiebzig Jahre alt sei und Bestätigung erfahren habe. Bestätigung – einhergehend mit der verschwundenen Angst des Versagens – damit ist der Literaturnobelpreis gemeint, der dem indischstämmigen Autor 2001 verliehen wurde: „Für seine Werke, die hellhöriges Erzählen und unbestechliches Beobachten vereinen, und die uns zwingen, die Gegenwart verdrängter Geschichte zu sehen“, kommentierte die Königlich-Schwedische Akademie die Preisverleihung. In Naipauls nach seinen eigenen Worten letztem Roman „Magische Saat“ ist davon nur noch wenig zu spüren. Der Mensch hinter den Zeilen erinnert an einen alten, müden Wolf. Ein Zähnefletschen, immer noch in Auflehnung gegen die Zeit, ein Kratzen und Schnappen, gefangen gesetzt in einer ureigenen Misere, aus der es kein Entrinnen zu gibt – außer der eigenen Lebensmüdigkeit.

Es ist eine Begegnung mit einem alten Bekannten: Willie Chandran, die zerrissene Gestalt aus „Ein halbes Leben“. Nach seinem ruhelosen Aufbruch aus der beklemmenden Enge des indischen Subkontinents, seinen Irrwegen durch das befremdliche Nachkriegslondon und einem temporärem Verschnaufen von rund zwanzig Jahren in Afrika, flieht Chandran schließlich nach Westberlin. Seine Schwester Sarojini – ebenfalls vor den indischen Wurzeln geflohen – hat sich hier ein neues Leben aufgebaut, zusammengehalten von marxistischer Ideologie, Kulturkritik und Weltverbesserungsträumen. Während Willie immer wieder strauchelte, scheint sie in der Lage, frei zu stehen. Doch um ihre neue Identität zu wahren, muss die Schwester den Bruder in ihr eigenes Weltbild zwängen und drängt ihn schließlich in den Entschluss, Berlin, Europa, den Westen zu verlassen und nach Indien zurückzukehren, um sich dort einer Revolutionsbewegung der Untersten anzuschließen. Etwas für andere Menschen zu tun und sich wahren Idealen zu zuwenden. Gewappnet mit einem neuen Selbstwertgefühl und den Lehren Gandhis im Gepäck, kehrt Willie in seine einstige Heimat zurück – doch das Einzige, was ihm begegnet, ist abermals Fremdheit. Die Hoffnung, eigene Wurzeln und den richtigen Platz in der Welt zu finden, versinkt im Morast einer neuen Odyssee. Ziellos treibt der revolutionäre Widerstand durch den schwülen, indischen Dschungel, verfängt sich im Spannungsfeld zwischen indigener Tradition und postkolonialer Katerstimmung und geht schließlich in eigenen Trugbildern verloren zu Grunde.

Willie, selbst ohne Halt, begegnet in Form einzelner Rebellen diversen Facetten dieser hoffnungslosen, verlogenen Welt und wird in ihrem trüben Kielwasser fortgespült. Erst als er plötzlich zu einem Mord gedrängt wird, erkennt er, dass er dieser Welt entfliehen muss, will er nicht wie all die anderen Gescheiterten in ihr enden. Auf die Jahre im Dschungel folgen Jahre im Gefängnis. Denn als sich Willie der Polizei stellt, weiß er nicht, dass Kapitulation keinen Passierschein in die Freiheit garantiert. Doch mit dem Gefängnis kommt Zeit für Selbstreflexion, Willie findet Ruhe, ja, Normalität – und sogar Glück. Es ist ein alter Bekannter aus der Revolutionsbewegung, der Willies Leben schließlich wieder ins Trudeln bringt – es droht gar Hinrichtung – und erneut flieht Willie Chandran aus dem Land seiner Kindheit. Erneut wartet London und erneut gibt es nur Unruhe.

Als ein „Dahintreiben“ beschreibt Willie sein Leben. Gleiches gilt für das Buch selbst. „Magische Saat“ gleicht einer Irrfahrt und wirkt dabei nicht einmal trist, sondern eher ziellos, schleppend, fad: „It’s a calamity, it’s a great period of boredom and nothing happening and life being eaten away and mind being eaten away.“ Mit diesen Worten charakterisierte Naipaul das Dasein seines Protagonisten im September 2004 in einem BBC-Interview. Das ist Willie Chandran, das ist die „Magische Saat“ – ist das auch der Autor selbst? Streckenweise ist man stark versucht, „Magische Saat“ als ein letztes Durchdenken des eigenen Lebens, der eigenen Geschichte und der eigenen Umwelt zu lesen. Und als eine Art Abrechnung. Gerade wenn dieses letzte Buch den Schlussstrich unter Naipauls Werk ziehen soll. Im Zusammenspiel mit „Ein halbes Leben“ wäre es dann der Epilog einer ambivalenten, vielschichtigen Schriftstellerkarriere. Auch wenn diese zweite Hälfte, im Gegensatz zur ersten, einen staubigen und stumpfen Eindruck hinterlässt – kein „sauberes, kaltes Messer“ mehr, keine Perfektion.

Die Zähne des Wolfs sind längst nicht mehr schneidend scharf – auch wenn er immer noch versucht zu beißen –, dem Unvermeidlichen kann er nicht entgehen. Bei der Lektüre beschleicht einen dabei wiederholt das Gefühl, als schreibe hier die Erbitterung für sich selbst; der Leser wird stets auf Distanz gehalten, vermag die Botschaft nicht zu ergreifen, aber sehr wohl zu erahnen. Vielleicht ist Naipaul, der „Humanist der Moderne“, wirklich einmal politisch „inkorrekt“ gewesen, indem er gegen alles und jeden – Blumen, den Iran, Kinder, Multikulturalismus, Tony Blair – wetterte. Inzwischen wirkt er nur noch müde, aber zumindest immer noch ehrlich. Vielleicht ist mit der Angst vor dem Versagen auch das Verständnis für die Welt und das eigene Ich verschwunden. Was dann bleibt, sind Zweifel …

_Michel Bernhardt_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|