Die Seuche ist die Heilung: Psychothriller-SF
Durch einen Eingriff in Gehirn ist es möglich geworden, Erinnerungen früherer Inkarnationen eines Menschen zugänglich zu machen. Nur – sie lassen sich weder steuern noch kontrollieren. Für jeden, der nach der Operation erwacht, beginnt eine gespenstische und abenteuerliche Reise in die Vergangenheit. (Verlagsinfo) In „Schädelrose“ erforscht die US-Autorin Nancy Kress die Konsequenzen einer AIDS-ähnlichen Krankheit, die verhindert, dass neue Erinnerungen gebildet und alte abgerufen werden können. Ein neuartiges Experiment soll Abhilfe schaffen, allerdings um einen hohen Preis.
Die Autorin
Die 1948 geborene Amerikanerin gehört zur ersten Garde der wichtigen Science-Fiction-Autoren. Nachdem sie zunächst (ab 1981) mit drei ungewöhnlich konstruierten Fantasyromanen debütiert hatte, errang sie 1988 mit dem Science Fiction-Roman „Fremdes Licht“ (vgl. meinen Bericht) erste Auszeichnungen. Darin erforschen Aliens die Aggressivität der menschlichen Spezies anhand der Auseinandersetzungen zwischen zwei Menschengruppen in einer Versuchsanordnung.
Ihr bestes Werk bislang ist jedoch die Trilogie „Bettler in Spanien“, „Bettler und Sucher“ und Bettlers Ritt“, in der sie dem Schicksal der Schlaflosen nachspürt. Die Romane „In grellem Licht“, „Verico Target“ und dessen Fortsetzung „Moskito“ stellen ebenfalls das gesellschaftskritische Engagement der Autorin unter Beweis. Obwohl diese Romane als kriminalistische Thriller aufgebaut sind, hebt Kress damit doch erfolgreich warnend die Hand und sagt uns: „Geht hier besser nicht entlang.“ Später verlegte sich Kress auf Space-Thriller, die hierzulande v. a. bei Bastei-Lübbe verlegt wurden.
Handlung
Präoperativ
Caroline Bohentin ist eine 34-jährige Lady, die schon einiges hinter sich hat: zwei gescheiterte Ehen, einen Selbstmordversuch und nun auch noch die Entdeckung, dass ihr einziges Kind, ihre Tochter Catherine, die Seuche MFRD hat. Catherine kann keine neuen Erinnerungen mehr bilden und ihre alten Erinnerungen nicht mehr abrufen. (Es handelt sich also nicht um Alzheimer.) Hat sie die Disposition für die Krankheit von Caroline geerbt? Und diese wiederum von ihren Vorfahren? Eine neuartige Operation soll Klarheit schaffen – und mehr …
Caroline begibt sich ins Institut für die Operative Erschließung Früherer Leben, kurz OEFL. Hier will sie eine einzigartige Operation an ihrem Gehirn vornehmen lassen, um ebendiese früheren Leben zu erschließen. Denn diese früheren Leben sind, so die Theorie, in einer Art allumfassender Übergedächtnis angelegt und von dort irgendwie abrufbar. Das sogenannte „Eufeln“ birgt jedoch für die „Karnies“, die Postoperativen, ein paar Risiken. Dies kommt unerwartet auf der Einführungsveranstaltung für die neuen Kandidaten zur Sprache, und zwar von einem Journalisten, der selbst ein Karnie ist.
Bevor es jedoch zu einem Streit mit dem Reporter kommen kann, platzt eine junge wütende Frau in den Versammlungssaal. Sie hält eine Laserpistole gezückt und zielt auf Dr. Armstrong, die Ärztin, die für die Vermarktung der neuen Methode zuständig ist. „Ich war eine Gottkönigin im alten Ägypten! Ihr alle seid Dreck unter meinen Füßen!“ tobt sie. „Ich will diese Operation haben!“, wiederholt sie verzweifelt. Offenbar hat einer der Anwesenden der Geschäftsleitung geraten, die etwas bewahnte Sandy Ochs aus dem Programm zu nehmen, ahnt Caroline.
Verblüfft verfolgt sie, wie ihr Sitznachbar, ein windiger Hochstapler namens Robbie Brekke, eine andere jammernde Frau als Schild benutzt und auf die mit der Pistole fuchtelnde Sandy zugeht. Derartige Kaltblütigkeit hätte sie dem Charmeur nicht zugetraut, und dabei hält sich Caroline einiges auf ihre Beobachtungsfähigkeit, das dBasen, zugute. In Nullkommanix hat Robbie die Bewaffnete, die gerade noch einen Schuss abfeuern kann, entwaffnet, und Helfer packen und entfernen sie. Wütende Schreie verhallen irgendwo im Gebäude. Während Dr. Armstrong zittert, ist Dr. Park, der Chefarzt und Chirurg, ungerührt: ein Karnie. Na, das kann ja was werden, denkt sich Caroline.
Postoperativ
Als Caroline wenige Tage später aus der Narkose erwacht, wird sie von Pater Patrick Martin Shahid besucht. Er ist katholischer Jesuit und sowohl Seelsorger als auch der Haushistoriker. In seiner Tasche hat er mehrere Gegenstände dabei, die dazu dienen, Erinnerungen früherer Leben auszulösen. Bei der alten Karaffe schlägt bei Caroline nichts an, wohl aber bei dem alten Stahlmesser mit dem Holzgriff. Unvermittelt ist sie Mathilde Ferrars, neun Jahre alt und einem gewissen Guillaume de Chatelot versprochen. Das Mädchen starb zwei Jahre später am Schwarzen Tod, der Beulenpest.
Zwei weitere Objekte lösen starke Gefühle in Caroline aus. Eine alte chinesische Konfektschale vermittelt ihr die Erinnerung an eine derart friedliche Szene während der Ch’ing-Dynastie, dass sie sich fortan dorthin sehnt. Ein Fischernetz hingegen elektrisiert sie mit so starker Lust, dass sie sich sofort einen runterholt. Als sie wieder zu sich kommt, ist es ihr megapeinlich, doch Pater Shahid steht nur ungerührt abgewandt da.
Nicht ohne Grund schlägt Caroline zwei Wochen später einen Shopping-Ausflug in einen Porzellanladen vor. Joe McLaren, ein Anwalt und geheim tätiger Sonderbotschafter der US-Präsidentin begleitet sie. Der Porzellanladen scheint zugleich eine Art Museum zu sein. Beim Anblick des kostbaren Porzellans aus der Ch’ing-Dynastie aus dem 17. Jahrhundert überfällt Joe eine intensive Erinnerung an ein früheres Leben: Er ist der Direktor der Kaiserlichen Porzellanmanufaktur. Als er eine fehlerhaft produzierte Tasse entdeckt, lässt er den verantwortlichen Arbeiter, einen gewissen Lang-li, töten …
Anschlag
Als wäre dies ein Stichwort, explodiert in diesem Moment eine Sprengstoffladung an der Eingangstür. Diese verriegelt sich automatisch selbst, ein Alarm gellt los. Joe befiehlt allen, sich auf den Boden zu werfen. Weitere Ladungen schlagen ein, doch zertümmern sie nicht das entsprechend präparierte Glas. Wohl aber erleiden die draußen auf dem Platz demonstrierenden Gaia-Anhänger erhebliche Verletzungen. Wer sind die Angreifer, fragt sich Caroline. Als sie sich um ein kleines weinendes Mädchen unter den Gaia-Jüngern kümmert, hilft Joe ihr, es sicher zum Wagen zu bringen.
Das Massaker auf dem Museumsplatz steckt Joe noch in den Knochen, als ihn im Institutsgarten eine ganz andere Erinnerung einholt. Julia, wie sie ihre Bluse für ihn öffnet… Genau wie Caroline zuvor verfällt Joe unwillkürlich in sexuelle Ekstase. Als er daraus erwacht, bemerkt er zu seiner Beschämung, dass dies vor den Augen von Robbie Brekke geschehen ist, dem Windhund und Schürzenjäger, wie er ihn innerlich einschätzt. Robbie grinst angesichts von Joes Fleck in der Hose.
Verbindung
Später in der Nacht, nach sieben weiteren Anfällen der sexuellen Erinnerungsschleife, geht Joe McLaren erstmals in das Intranet der OEFL-Klinik, um sich über Reinkarnationen zu informieren. Nach ein paar Startschwierigkeiten bringt ihn das stimmunterstützte, interaktive Programm dazu, seine eigene Erinnerung einzugeben: der Direktor der Kaiserlichen Porzellanmanufaktur.
Joe staunt nicht schlecht, als ihn das Programm Stunden fragt, mit welchem OEFL-Patienten sich seine Erinnerung fast exakt überschneide. Ob er will oder nicht, so nimmt der übernächtigte, ausgelaugte Anwalt doch den Namen dieses Patienten wahr, der zu seinem nicht geringen Erstaunen lautet: Robert Anthony Brekke. Seine Erinnerung: Lang-li, der vom Direktor zum Tode verurteilte Porzellanarbeiter. Auf einmal beschleicht Joe ein flaues Gefühl in der Magengrube…
Mein Eindruck
Ich fand die auftauchenden Zusammenhänge zunehmend spannend und erwartete, eine Art Verschwörung im OEFL-Institut offenbart zu bekommen. Doch darauf wollte sich die Autorin offenbar nicht einlassen. Ihre Ambitionen waren viel größer, als sie diesen Roman schrieb. Ein Psychothriller wäre zwar ganz nett gewesen, aber klischeehaft und zu wenig Zukunftsmusik.
Stattdessen geht sie viel radikaler vor. Robbie Brekke ist der Schlüssel zu einem Netz von früheren Leben, die nacheinander sein Bewusstsein übernehmen. Es kommt den Beobachtern, darunter Caroline, später so vor, als ob eine verborgene Macht, die die MFRD-Seuche und das Eufeln als Instrumente benutzt, die Menschheit zu steuern versuchen würde. Aber in welche Richtung und zu welchem Zweck, bleibt Caroline und Joe lange unklar. Denn die Implikationen sind beiden unangenehm: Sie spielen eine Rolle in einem Stück, dessen Regeln sie nicht verstehen.
Robbies mentale Verwandlungen fand ich besonders faszinierend, denn zunächst ist er ein junger Tunichtgut aus St. Louis um das Jahr 1863. Von einem gewissen Johnny Lee Benson zu Diebstahl, Postüberfall und Mord angestiftet, flüchtet er mit der Beute in die Rocky Mountains. Dort muss irgendetwas Schlimmes passiert sein, denn weder Malcolm Callahan noch Johnny Lee Benson kehrten von dort jemals lebend zurück. Aber nun will Robbie die Beute wiederfinden, die Callahan dort in einer Höhle versteckte – eine aufregende Schatzsuche.
Als er sie endlich hat, dringt ein anderes Bewusstsein in ihn ein. Es gehört Paul Winter, dem Liebhaber eines ermordeten Gentechnikers namens Armand Kyle. Kyle erfand die Seuche und ließ den Slow Virus, der langsam wirkt, auf die Menschheit los. Doch die AIDS-Seuche, die vor MFRD kam, erzeugte eine Phobie gegen Homosexuelle, un die Schwulenhasser brachten Armand Kyle um. Winter war ohnmächtiger Zeuge des Mordes.
Aber wie wirkt die MFRD-Seuche genau? Joe hat Zugang zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Jefferson Pirelli, der beleibte Chef seiner Sonderkommission, zeigt Joe verblüffende Berechnungsmodelle, die einen Zusammenhang zwischen der Seucheninfektion und den Reinkarnationsoperationen zeigen. Karnies werden nie Opfer der Seuche. Das kann Joe einfach nicht glauben, aber die erschütternden Ereignisse um Robbie Brekkes geistigen Zusammenbruch verändern seine innersten Überzeugungen. Er wird Alzheimeropfern und Homosexuellen helfen.
Transzendenz
Amerikanische Autoren mein(t)en häufig, sie müssten die Kurve kriegen, um der Handlung noch einen transzendentalen Dreh zu verleihen. Als ob der Leser nicht von selbst drauf käme und sie Pluspunkte sammeln könnten, wenn sie ihm diese Wendung auf einem Silbertablett präsentieren könnten.
Ohne zu viel zu verraten: Im Fall von „Schädelrose“ nimmt die Entwicklung der durch die zwei Seuchen AIDS und MFRD dezimierten Menschheit eine Wendung zum Guten: Ein Impfstoff wird gefunden, wenn auch nicht für jeden. Aber welche Rolle Caroline, Joe und Robbie dabei spielten, wird im Zusammenhang des Neuen Testaments erklärt. Robbie, das Sprachrohr des Übergedächtnisses, war nur Johannes der Täufer, der Rufer in der Wüste. Dreimal darf man raten, wer demnach der verheißene Heiland sein muss…
Die Übersetzung
S. 190: „das ganze Gesülze pedantischer Spiddel“: Der Ausdruck „Spiddel“ ist dem DUDEN unbekannt, mir auch. Möglicherweise handelt es sich um eine direkte Übersetzung von „spittle“: Geifer, Spucke. Das würde dann auch zu „Gesülze“ passen.
S. 207: „System von Waagschalen“: gemeint ist ein in den USA durch die Verfassung eingerichtetes politisches System von im Gleichgewicht befindlichen Kräften (check of balances). Da ist das Bild von „Waagschalen“ etwas unpassend.
Unterm Strich
Der Roman nahm mich durch seine furchtlose Behandlung furchterregender Themen und Phänomene gleich für sich ein. Wer würde schon Alzheimer, Aids und die neue MFRD-Seuche aufgreifen und ihre Bedeutung für menschliche Schicksale aufgreifen, ohne auf die Tränendrüsen zu zielen? Nun, Caroline weiß alles über Tränendrüsen, denn ihr Daddy ist ein bekannter Schauspieler, der stets genau darauf gezielt hat, etwa als Hamlet. Und dass ihr erster Mann ebenfalls schauspielern wollte, half ihr auch nicht gerade, an echte Emotionen zu glauben. Caroline nimmt es sehr übel, wenn man sie emotional manipulieren will.
Dementsprechend weit kann sie sich in die sich entfaltende Handlung verwickeln lassen, ohne den Verstand oder die Fassung zu verlieren. Wie sie sich gegenüber ihrer Tochter Catehrine, die unter MFRD leidet, verhält, ist bewundernswert. Andere Mütter würden einfach zusammenbrechen, nicht so Caroline. Sie mag zwar ab und zu ihre mentalen Aussetzer haben, ist aber häufig eine zuverlässige Chronistin.
Das reicht aber nicht, um den vollständigen Umfang der Handlung abzudecken. Wir können auch mitverfolgen, was Joe McLaren, der Anwalt mit dem Regierungshintergrund, und Robbie Brekke, der Dieb mit den vielen Persönlichkeiten, erleben. Und das ist mitunter ganz schön ungewöhnlich. Besonders faszinierend fand ich Robbies Ausflug nach Wyoming in die Rocky Mountains, um einen verborgenen Schatz zu heben. Dabei wechselt er mehrmals die Persönlichkeit, denn eine unbekannte Macht – die keineswegs festgemacht wird – übernimmt sein Bewusstsein. Ist es das mysteriöse „Übergedächtnis“, eine Art Gaia-Identität? Aber zu welchem Zweck oder Ziel, bleibt zunächst unklar.
Dies ist ein Bewusstseinsthriller in der Tradition von Ursula Le Guin und Alice Sheldon alias James Tiptree jr. Was zunächst nach einem Verschwörungsthriller aussieht, der das OEFL-Institut betrifft, erweist sich als ein Geschehen, das die ganze Menschheit betrifft, die unter der MFRD-Seuche leidet. Wie sich zeigt, gibt es einen Weg, nicht zum Opfer zu werden – um einen Preis …
Der Leser muss bei der Stange bleiben und die Puzzleteile zusammensetzen, die ihm drei Chronisten und viele wechselnde Szenen präsentieren. Leser scheinen heute Probleme zu haben (oder unwillig zu sein), diese kognitive Leistung zu erbringen. Vielleicht leiden sie selbst schon unter MFRD, ohne es zu wissen? Wie auch immer: Nancy Kress fordert den Leser sowohl intellektuell als auch emotional, an dem Geschehen anteilzunehmen und seine eigenen Schlüsse daraus zu ziehen.
Dass sie im Epilog selbst eine transzendentale Lösung nahelegt, hat mich allerdings gestört. Klasse fand ich aber, dass sie dem sympathischen Helden Robbie Brekke eine zweite Chance gibt: als Schauspieler, der den 2500 Jahre alten Mythos von Prometheus, verfasst von Aischylos, der auch die „Orestie“ schrieb, den Ursprung des abendländischen Theaters. Witzig fand ich, dass die Off-Broadway-Aufführung so grottenschlecht ist, dass kaum Pathos aufkommen kann – außer wenn Robbie als Prometheus loslegt. Hier beweist die Autorin einen profunden Sinn für Ironie.
Broschiert: 395 Seiten
Originaltitel: Brainrose (1990)
Aus dem US-Englischen von Peter Robert
ISBN-13: 978-3453077713
www.heyne.de
Der Autor vergibt: