Oslo, Norwegen, im Sommer des Jahres 1941. Sieben alte Freunde treffen sich im Haus des Kriminalschriftstellers Bernhard Borge und seiner Gattin, der Schauspielerin Sonja. Kai Bugge ist ein bekannter Psychoanalytiker und Sachbuch-Autor, außerdem ein Rationalist, der sich gern mit Gabriel Mörk streitet, einem Literaturkritiker mit ausgeprägtem Hang zum Okkulten. Harald Tann ist Rechtsanwalt und Amateurdetektiv. Die neurotischen Geschwister Liljan und Teddy Werner sind vermögend und frönen dem süßen Nichtstun.
Teddy ist Jäger und hat sich in Österdalen im abgelegenen Norden des Landes ein Anwesen gekauft. Die Daumannshütte liegt im Finsterwald unweit des Blausees und gilt als verflucht. Hier hat Anno 1831 hat Tore Gruvik, ein verrückter, einbeiniger Sonderling seine eigene Schwester und ihren Liebhaber mit der Axt geköpft und ihre Leichen in den Blausee geworfen. Wenig später hat er sich dort ertränkt. Die Körper wurden niemals gefunden.
Seit damals soll ein Fluch auf der Hütte lasten. Mindestens drei Bewohner haben sich seither im Blausee umgebracht; ein unwiderstehlicher Zwang habe sie dazu veranlasst, wie es heißt. Teddy Werner wurde durch diese Sage erst recht zum Erwerb des Besitzes angeregt. Drei Wochen später ist er verschwunden: nach Auskunft des Polizisten Einar Braaten hat auch er sich in den See geworfen. Sein Tagebuch: das Vermächtnis eines Irrsinnigen, der sich von einem holzbeinigen Gespenst bedroht und verfolgt fühlte …
Die entsetzten Freunde beschließen, der Tragödie selbst auf den Grund zu gehen. Sie reisen nach Österdalen und quartieren sich in der Daumannshütte ein. Borge entdeckt am Seeufer das stelzfüßige Phantom des Tore Gruvik. Liljan Werner folgt beinahe ihrem Bruder, als sie des Nachts in den Blausee schlafwandelt. Böse Träume quälen die Anwesenden, und der Jahrestag der Gruvik-Morde steht unmittelbar bevor …
Das Böse als Krankheit der Seele
Thriller, Spukgeschichte und psychologisches Lehrbuch (für Anfänger): „Tod im Blausee“ ist wahrlich ein „einmal ganz unüblicher Kriminalroman“ und ein „interessantes und wohlgelungenes Experiment“, wie der Klappentext vermerkt: Dem deutschen Krimifreund der 1950er Jahre auf seiner mageren Edgar Wallace-Diät könnte dieses Werk einige Magenbeschwerden bzw. Hirnsausen beschert haben. Weniger der Plot ist es, der für Verwirrung sorgt; der wurde nämlich mit Bedacht vom Verfasser als gutes, altes Mordrätsel im (hier halbwegs) verschlossenen Raum und innerhalb einer von der Außenwelt isolierten Gruppe konzipiert: Der oder die Täter/in muss eine/r der Anwesenden sein. Klassischer geht=s wirklich nicht. Die Krimihandlung spielt außerdem vor dem Hintergrund einer alten Volkssage; auch dies keine neue Idee, derer sich z. B. Arthur Conan Doyle in „Der Hund der Baskervilles“ bediente.
Das damals Neue war Borges konsequente Ableitung des Bösen als Produkt der menschlichen Psyche. Es gibt keine ‚Schurken‘, d. h. verdammenswerte Zeitgenossen, die um ihres finanziellen Vorteils willen, aus Rache oder perverser Freude ihre Mitmenschen piesacken, sondern Kranke, die für ihr Tun nur bedingt nicht verantwortlich gemacht werden können.
Geisteskrankheit und Geisterglaube liegen in diesem Umfeld recht nahe beieinander. Schon immer hat sich der Mensch vor dem Unbekannten gefürchtet. Dazu zählt ganz sicher die Angst vor dem, dessen Hirn fehlgeschaltet ist und ihn oder sie zu Taten treibt, die manchmal wahrhaft ungeheuerlich sind. Wahnsinnige sind unberechenbar, und das macht sie gleichzeitig zu dankbaren Protagonisten des Psycho-Thrillers.
Lesen und lernen
Borges Ehrgeiz reicht freilich ein wenig weiter. „Tod im Blausee“ ist nicht nur unheimlicher Krimi, sondern auch eine Art Einführung in die Psychoanalyse. Die war um 1940 noch nicht zu jenem kulturellen Allgemeingut geworden, über das sich heute jeder auslassen kann, der regelmäßig die Infotainment-‚Dokumentationen‘ des Privatfernsehens verfolgt, sondern noch ein Buch mit sieben Siegeln. Das kann Borge nachträglich als Entschuldigung anführen, denn gerade diese Passagen muten dem Leser des 21. Jahrhunderts recht zäh und hausbacken an.
Es gibt da eine interessante Parallele: 1945 (und damit deutlich später als „Tod im Blausee“) drehte Meisterregisseur Alfred Hitchcock „Spellbound“ (dt. „Ich kämpfe um dich“) mit Gregory Peck und Ingrid Bergman. In diesem Klassiker finden wir die allzu intensive ‚wissenschaftliche‘ Ernsthaftigkeit wieder, mit der auch Borge sich dem Thema Psychologie widmet.
Ungeachtet der daraus entstehenden Übertreibungen erzählt „Tod im Blausee“ eine spannende, gruselige und sehr unterhaltsame Geschichte. Man könnte freilich einwenden, sie erinnere gar zu sehr an Borges „Døde menn går i land“ (dt. „Tote Männer gehen an Land“) von 1947. Falls dem so ist, hat der Verfasser in fünf Schriftstellerjahren eine Menge gelernt, denn das spätere Werk ist ihm wesentlich eindrucksvoller geraten.
Figuren auf einem Schachbrett
Von einer seltsamen Truppe lässt sich Bernhard Borge, Chronist und Mit-Figur des „Blausee“-Dramas, da in den Wald begleiten. Unkonventionelle Künstler sind es, die sich über die Normalsterblichen in ihrer scheinbar beschränken Welt erhaben dünken und doch in ihrem eigenen Labyrinth aus Vorurteilen gefangen sind, ohne dies zu bemerken.
Ganz sicher sind sie keine Helden; sie wirken nicht einmal sonderlich sympathisch, sondern eher oberflächlich und geradezu zwanghaft lebenslustig. (Ohne schulmeisterlich wirken zu wollen: Mit keinem Wort findet in der Handlung, die 1941 spielt, der II. Weltkrieg Erwähnung, der schließlich auch Norwegens Geschichte entscheidend prägte.)
Sie lassen daher den Leser meist seltsam kalt, ohne dass dies die Spannung der Handlung beeinträchtigen könnte. Beckmesserische Kritiker, die gern die Qualität einer Geschichte ausschließlich an ausgefeilten Charakterstudien festmachen, würden energisch bestreiten, dass dies möglich sei. Borge belehrt sie eines Besseren.
Autor
Bernhard Borge – Schriftsteller, Abenteurer, Geisterjäger; einen skandinavischen Tintin (ohne Struppi) für leidlich Erwachsene könnte man ihn nennen. Dabei hat es ihn gar nicht gegeben. Bernhard Borge war ein Pseudonym und nur eines von vielen, derer sich André Bjerke (1918-1985) bediente.
Er war ein Multitalent des Unterhaltungsromans. Kein Wunder, dass man diesen Mann in seinem Heimatland auch Jahrzehnte nach seinem Tod nicht vergessen hat. Hier werden seine Werke noch heute immer wieder aufgelegt oder in Hörspiele verwandelt. „De dødes tjern“ wurde 1958 als Produktion der Norsk Film AS unter der Regie von Kåre Bergstrøm (auch Drehbuch) verfilmt.
Taschenbuch: 187 Seiten
Originaltitel: De Dødes Tjern (Oslo : H. Aschehoug & Co./W. Nygaard 1942)
Übersetzung: Karl Christiansen
www.ullsteinbuchverlage.de
Der Autor vergibt: