Sara Paretsky – Die verschwundene Frau

Paretsky Verschwundene Frau Cover TB 2002 kleinDas geschieht:

Auf dem Heimfahrtüberrollt Privatdetektivin Vic Warshawski zu später Stunde in einem verrufenen Viertel ihrer Heimatstadt Chicago beinahe den leblosen Körper einer jungen Frau, die mitten auf der Straße liegt. Die Polizei scheint mit Warshawskis Schilderung zunächst zufrieden zu sein. Doch am nächsten Tag wirft man ihr plötzlich vor, den Tod verschuldet zu haben. Ganz offensichtlich sucht die Polizei einen Sündenbock. Die Leiche verschwindet, der Unfallbericht wird gefälscht. Der korrupte Detective Lemour wird Warshawski auf den Hals gehetzt, um sie einzuschüchtern.

Aus purer Not beginnt die Detektivin in eigener Sache zu ermitteln. Trotz der Verschleierungstaktik bringt sie in Erfahrung, dass es sich bei der Frau um die junge Immigrantin Nicola Aguinaldo handelt, die man fast tot geprügelt hatte, bevor man sie ihr vor das Auto legte. Nicola arbeitete als Kindermädchen für Robert Baladine, den Eigentümer von „Carnifice“, eines Sicherheitsdienst-Imperiums mit 3000 Beschäftigten, zu dem sogar eine eigene Haftanstalt vor den Toren der Stadt gehört. Hier saß Nicola als Gefangene ein, nachdem sie Eleanor, Baladines Gattin, ein wertvolles Schmuckstück gestohlen hatte. Auf mysteriöse Weise gelang es ihr später scheinbar zu fliehen.

Baladine ist in den Tod Nicolas verwickelt. Der brutale und machtversessene Unternehmer schätzt es gar nicht, dass man seine Pläne durchkreuzt. Er setzt seine geballte Macht ein, um Warshawski unter Druck zu setzen und zu vernichten. Die Detektivin wird beschattet, ihr Telefon abgehört. „Carnifice“-Schergen brechen in ihr Büro ein, stehlen und manipulieren ihre Unterlagen und versuchen ihr Drogen unterzuschieben. Später stellt man Warshawski eine Falle, der sie verletzt entkommen kann.

Lucian Frenada, ein Kleiderfabrikant, der ebenfalls Baladines Unwillen erregt und zudem in den Aguinaldo-Mord verwickelt ist, hat weniger Glück; seine Leiche wird aus dem Hafenwasser gezogen. Aber auch Warshawskis Frist ist abgelaufen. Als sich Baladines junger Sohn ihr anvertraut und Beweise dafür liefert, dass sein Vater in dunkle Machenschaften verwickelt ist, zieht sich „Carnifices“ Schlinge zu. Unter dem Vorwand der Kindsentführung wird Vic festgenommen und landet sie dort, wo Nicola Aguinaldo tatsächlich ihr Ende fand: in Baladines Privatgefängnis. Man trifft Vorkehrungen, die ihnen als Häftling ausgelieferte Detektivin für immer zum Schweigen zu bringen …

Rückkehr zu alter Form

Zu den Schnellen ihrer Zunft gehörte Sara Paretsky noch nie. Aber Sorgfalt zahlt sich bekanntlich aus; angesichts des Lektürevergnügens, das „Die verschwundene Frau“ beschert, wartete man sogar gern volle fünf (!) Jahre bis zum aktuellen Auftritt Victoria Iphigenia „Vic“ Warshawskis.

1982 erfand Paretsky, ehemalige Verkaufsmanagerin in einer Chicagoer Versicherungsagentur und daher zumindest mit den theoretischen Grundlagen der Detektivarbeit, auf jeden Fall jedoch mit der Topografie der Stadt an den Großen Seen vertraut, ihre chronisch erfolglose, weil von allzu hehren Prinzipien gebeutelten Privatermittlerin. Mit Marcia Muller oder Linda Barnes (und natürlich weiteren Autorinnen) begründete sie den modernen ‚weiblichen‘ Kriminalroman, in dem zum ersten Mal Frauen die Rolle des Philip Marlowe übernahmen, ohne bloß in dessen Fußstapfen zu wandeln. Bis 1994 löste Vic Warshawski acht Fälle, bevor sie sich eine längere Auszeit nahm. Allzu mechanisch spulte Paretsky zuletzt ihre Thriller ab, was nach „Engel im Schacht“ schließlich nicht mehr nur der Kritik und den Lesern, sondern auch der Autorin auffiel. Mit „Geisterland“ („Ghost Country“) erschien 1998 ein serienunabhängiger Thriller, der unter Beweis stellte, dass Paretsky mehr als Vic Warshawskis geistige Mutter ist.

1999 kehrte die Detektivin endlich zurück. Die Pause hatte ihr sichtlich gut getan. Mit neuem Schwung stürzte sie sich ins Getümmel einer Welt, die nicht nur in Verbrecherkreisen einige entscheidende Umdrehungen hinter sich gebracht hatte. Die Vic Warshawski-Romane sind stets auch Chronik der Großstadt Chicago und ihrer kriminellen Umtriebe. Dabei stehen weniger die Gangster des organisierten Verbrechens in der Tradition eines Al Capone im Mittelpunkt, sondern die Schurken im feinen Nadelstreifen, die sich nicht selbst die Finger schmutzig machen, sondern durch Betrug, Bestechung oder Intrigen und in enger Zusammenarbeit mit Politik, Wirtschaft und neuerdings den Medien Millionen scheffeln.

Die Zeiten werden härter

Jeder ist sich selbst der Nächste in Paretskys Chicago, und die Refugien für die wenigen verbliebenen Idealisten werden immer weniger. Nun hat es sogar Vic Warshawskis alten Freund und früheren Kampfgenossen Murray Ryerson erwischt, der längst nicht mehr als Journalist unbarmherzig den Reichen und Mächtigen auf der Spur ist. Stattdessen heult er mit den Wölfen, moderiert seichte Prominententalks und lässt sich von seinen zwielichtigen Bossen instrumentalisieren.

Aber Ryerson hat Angst – vor der Gegenwart, die Tugenden nicht mehr zu schätzen oder gar zu honorieren weiß, aber noch mehr vor der Zukunft, dem Zeitpunkt, da er schlicht zu alt sein wird, um sich weiterhin als Straßenkämpfer durchzuschlagen. In dieser Beziehung ist er das düstere Spiegelbild von Vic Warshawski geworden, der solche Überlegungen und Sorgen keineswegs fremd sind. Im Gegenteil: Ein guter Teil des vorliegenden Romans – und keinesfalls der Schlechteste! – kreist um den schmerzhaften Prozess des Älterwerdens.

Vic Warshawski ist nun 44 Jahre alt. Finanziell steht sie noch schlechter da als sonst. Sie lebt von der Hand in den Mund und weiß genau, wie dünn die Linie geworden ist, die sie noch vor dem sozialen Abstieg trennt. Körperlich spürt sie trotz ihrer Kondition die Jahre. Es wird Zeit für einschneidende Veränderungen, wie ihr bewusst wird, auch wenn dies bedeuten würde, sich ein gutes Stück mit den neuen Regeln der globalisierten Gegenwart zu arrangieren.

Doch Vic Warshawski ist zwar gern eine einsame Wölfin, eine Hyäne will sie aber nicht sein. In „Die verschwundene Frau“ beginnt sie zum ersten Mal den Preis für den Luxus einer Unabhängigkeit zu zahlen, die sie sich eigentlich nicht mehr leisten kann. Nicht einmal Vics engste Freunde können und wollen ihren ewigen Kampf gegen immer neue Windmühlenflügel unterstützen oder auch nur verstehen.

Der Mensch als Ware

Noch ist Vic Warshawski allerdings nicht am Boden, obwohl sie gleich mehrere Male tüchtig angezählt wird. Auf der Spur eines Verbrechens ist sie auf ein besonders widerwärtiges Exemplar der neuen Elite gestoßen, für das Menschen nur mehr Mittel zum Zweck sind – eine Haifisch-Mentalität, die nicht einmal vor der eigenen Familie Halt macht. Paretsky hat intensiv recherchiert, auf welche perfide Weise sich ein Leben heutzutage zerstören lässt, wenn man über die notwendigen Verbindungen und vor allem die entsprechende Technik verfügen kann. Der Gläserne Mensch ist längst keine Fiktion mehr, sondern Realität.

Vic Warshawski bedient sich selbst des Internets, um über ihre Zeitgenossen Dinge zu erfahren, von denen diese nicht einmal ahnen, dass sie im digitalen Äther abzufragen sind. Gegen den Überwachungs-Papst Baladine und seine Paladine ist sie allerdings ein kleiner Fisch und beinahe machtlos gegen die Manipulationen, die das Wissen um die Angriffsflächen der schönen neuen Medienwelt ermöglicht. Mit ein wenig guter, alter Korruption kommt es folglich, wie es kommen musste: Die lästige Detektivin findet sich im Gefängnis wieder.

Ob sich Vic Warshawski dort nun unbedingt undercover und mit Mini-Kamera im Armband (!) Missstände hinter Gittern erforschen musste, sei dahingestellt. Dieser Erzählstrang mag ein wenig zu sehr ins gewollt Sensationelle spielen, ist der Autorin aber trotzdem gut gelungen und auf jeden Fall spannend, auch wenn gar zu viele Klischees (korrupt-sadistisch-geile Wärter, Attacke in der Gemeinschaftsdusche, Flucht in Ketten) bemüht werden. Außerdem darf man nicht vergessen, dass es in den auf Law & Order versessenen Vereinigten Staaten den Strafgefangenen nach Ansicht der braven Bürger gar nicht dreckig genug gehen kann, auch wenn dabei hin und wieder ein Unschuldiger mit ins Getriebe der Gesetzesmühle gerät; wo gehobelt wird, fallen halt ein paar Späne! Insofern mag sich Paretsky gar nicht allzu weit von der Realität entfernt haben.

„Die verschwundene Frau“ markiert nicht nur Vic Warshawskis Comeback, sondern auch Sara Paretskys Rückkehr zu alten aber wertvollen Tugenden. Wie sehr sich die Autorin darüber hinaus frei gemacht hat von alten Zöpfen, macht u. a. die dümmliche deutsche Klappenwerbung deutlich, die Vic Warshawski wieder als „Powerfrau“, die es „den Männern zeigt“, verkaufen will. Tatsächlich ist Paretsky eben nicht in „Supergirls-geben-dummen-Kerls-Saures“-Tiraden steckengeblieben. Ihr ist es gelungen, den Frauenkrimi weiter zu entwickeln und ins 21. Jahrhundert zu bringen. Es wird interessant sein, Vic Warshawskis weiteren Weg zu verfolgen. Leider kommen ihre neuen Romane schon seit Jahren nicht mehr auf den deutschen Buchmarkt, der stattdessen lieber auf Regionalkrimis oder Seifenoper-Krimis setzt: ein Armutszeugnis!

Autorin

Sara Paretsky (geb. am 8. Juni 1947 in Ames, Iowa) wuchs in Lawrence, Kansas, auf. 1966 zog sie nach Chicago um. Hier arbeitete sie als Sekretärin und begann sich zu engagieren: Dies waren die Jahren, in denen die Jugend der USA sich gegen den Krieg in Vietnam, den Rassismus im eigenen Land und für die Menschenrechte engagierte. Paretsky fügte dem noch ihren Kampf für die Rechte der Frau hinzu. Konsequent verwirklichte sie diese für die eigene Person, studierte Wirtschaft und Geschichte, promovierte 1977 und arbeitete bis 1985 als Verkaufsmanagerin einer großen Versicherungsgesellschaft.

1986 beschloss Paretsky eine Laufbahn als hauptberufliche Schriftstellerin. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits drei Romane um Vic Warshawsky, eine Privatdetektivin in Chicago, verfasst, die von den beruflichen und persönlichen Erfahrungen ihrer geistigen Mutter profitierten. Sara Paretsky gehört zu den Autorinnen, die in den 1980er Jahren dem Genre wichtige Neuimpulse gaben.

Der Kamillentee-”Lady“-Thriller wurde endlich ergänzt vom modernen „Privat-Eye“-Krimi, dessen Protagonistinnen nicht als Abziehbild ihrer hartgesottenen männlichen Vorbilder agierten, sondern eigene Wege gingen. V. I. Warshawski hat inzwischen die meisten ihrer fiktiven Zeitgenossinnen (und eine wahrhaft schauerliche Hollywood-Verfilmung) überlebt und hält die Ideale ihrer Vergangenheit weiterhin hoch. Paretsky gründete außerdem die „Sisters in Crime“, eine Organisation, die weibliche (Nachwuchs-) Autoren fördert und deren erste Präsidentin sie war.

Über Leben und Werk der Schriftstellerin informiert diese Website.

Taschenbuch: 446 Seiten
Originaltitel: Hard Time (New York : Delacorte Press 1999)
Übersetzung: Sonja Hauser
http://www.piper-verlag.de

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