Paul M. Sammon (Hg.) – Splatterpunk. „Horror Extrem“

Sammon Splatterpunk 1 Cover kleinAcht Kurzgeschichten stellen das zum Erscheinungsdatum (1990) aktuelle Horror-Subgenre „Splatterpunk“ vor, das der Herausgeber in einem ausführlichen Essay vorstellt, verteidigt und als Ende sinnverwässernder Grusel-Zurückhaltung feiert: Ein Vierteljahrhundert später lässt sich die ‚Revolution‘ als Modeerscheinung erkennen, deren Autoren immerhin nicht nur ekelgrausige, sondern auch gute = lesenswert gebliebene Beiträge hervorgebracht haben.

Inhalt:

– Paul M. Sammon: Vorwort, S. 8/9

– Joe R. Lansdale: Die Nacht, in der sie den Horrorfilm verpassten (The Night They Missed the Horror Show; 1988), S. 11-36: Ein böser Streich rächt sich für gelangweilte Jugendliche, als sie in die Fänge tierlieber Psychopathen fallen.

– Clive Barker: Fleischlieferung um Mitternacht (The Midnight Meat Train; 1984), S. 37-80: Tief unter der Erde warten die geheimen Gründerväter der Stadt auf ihre blutigen Tributleistungen.

– John Skipp: Filmteam um elf (Film at Eleven; 1988), S. 81-108: Ein minuziös für die Nachrichtenkamera geplanter Mord geht spektakulär aber ebenfalls medientauglich schief.

– Richard Christian Matheson: Rot (Red; 1986), S. 109-116: Ein untröstlicher Vater will seinem toten Kind einen grausigen letzten Dienst erweisen.

– Mick Garris: Ein Leben fürs Kino (A Life in the Cinema; 1988), S. 117-148: Ein gruseliger Zufallsfund verhilft dem gescheiterten Regisseur zu einem Comeback der nur anfänglich erfreulichen Art.

– Douglas E. Winter: Nicht ganz ein Zombie (Less than Zombie; 1989), S. 149-172: Momentaufnahme einer ziellos durchs Leben treibenden Jugend, der selbst Mord nur kurz den ersehnten Nervenkitzel bringt.

– Wayne Allen Sallee: Schnellverkehr (Rapid Transit; 1985), S. 173-194: Der zufällige Zeuge eines grausamen Mordes achtet auf jedes Detail; nur auf die Idee, sich helfend einzumischen, kommt er nicht.

– Edward Bryant: Als sie beim Einkaufen war (While She Was Out; 1988), S. 195-224: Della erregt den mörderischen Zorn eines Quartetts bösartiger Strolche, doch in ihr wartet viel aufgestauter Zorn auf Entladung.

– Paul M. Sammon: Nachwort: Outlaws und Ketzer (Outlaws), S. 225-307

– Bibliographische Hinweise, S. 309-317

– Filmographie, S. 318-330

Das Echo ferner Sensationen

Nichts ist bekanntlich so tot wie der letzte Modeschrei vom Vortag. Was gerade noch von Kritikern in den Himmel gehoben und vom Publikum aus Leibeskräften konsumiert wurde, gilt nur wenig später als vergessene, nicht selten peinliche Episode einer Vergangenheit, über die man besser den Mantel der Vergessenheit breitet. Dumm stehen dann jene da, die sich stark für diese Mode gemacht hatten. Sie werden noch lange mit ihrer Entscheidung identifiziert; manchen gelingt es gar nicht, den zur Last gewordenen Schatten abzuwerfen.

Glücklicher sind jene, die sich vorsichtshalber nur marginal begeistern oder für eine Sache engagieren. Sie können im Anschluss mit stolzer Herablassung verkünden, wieso sie – und nur sie – schon immer gewusst haben, wieso sich hinter einer künstlerischen Innovation ein Werbehype verborgen hat, auf den nur dumme Mitläufer hereingefallen sind. Neigt man dagegen nicht zum Nachtreten, ist es interessant, der Sensation von gestern erst heute einen genauen Blick zu schenken. Bereits die Abwesenheit flankierenden Mediengeheuls hilft zu entscheiden, ob das Vergangene tatsächlich vergessen werden darf – oder sollte.

1986 war die Mehrheit der aktuellen Horror-Fans noch gar nicht geboren. Der Punk lag in den letzten Zügen bzw. war als Wort auf dem Weg zu neuem Inhalt: „Punk“ benennt nunmehr ganz allgemein die trotzige Verleugnung vor allem kultureller Werte, die sich überlebt haben oder zum massentauglichen Mainstream geronnen sind. Was den Vertretern des gutsituierten Establishments wertvoll bis heilig ist, wurde von den Punks voll ehrlicher Verachtung (oder guten Biers) in den Boden gestampft.

Die rohe Saat des Bösen

Dazu gehörte (angeblich) plötzlich der literarische Horror. In seinem ausführlichen Nachwort „Outlaws und Ketzer“ fasste Herausgeber Paul Michael Sammon (*1949) die (1990 zum Zeitpunkt seiner Niederschrift noch kurze) Geschichte des „Splatterpunks“ zusammen. Sie begann ‚offiziell‘ 1986, als der Autor David J. Schow den Begriff weniger erfand als abwandelte: Vier Jahre zuvor hatte in der Science Fiction die Ära des „Cyberpunks“ begonnen. Anders als in der SF konnten im Horror heilige Genre-Kühe buchstäblich geschlachtet werden.

So geschah es, wobei sich nach Sammons Ansicht die Autoren Clive Barker, John Skipp & Craig Spector sowie der bereits genannte Schow sich besonders hervortaten, als es darum ging, jegliche Zurückhaltung in der Beschreibung (nicht nur aber auch) jenseitig bedingter Gräuel fahren zu lassen.

Die Splatterpunks fielen nicht aus heiterem Himmel (oder entstiegen der Hölle), sondern orientierten sich an Vorläufern, zu denen Sammon Schriftsteller wie Robert Bloch (1917-1994) oder Richard Matheson (1926-2013), aber auch Filmemacher wie George A. Romero, Tobe Hooper oder Lucio Fulci (1927-1996) zählt. Sie gehören aus seiner Sicht zu den Pionieren eines Horrors, der nicht verschämt das Entsetzliche, ‚Schmutzige‘, Unappetitliche höchstens andeutet, sondern es förmlich zelebriert, um auf diese Weise umso deutlicher auf ihm zugrundeliegende Missstände hinzuweisen, sie anzuprangern und womöglich zu ihrer Abschaffung beizutragen.

Das schwierig zu besetzende Genre

Diese Offenheit wird durch weitere Autoren getragen, die nach Sammons Ansicht lupenreine Splatterpunks sind und stolz darauf sein sollten, sich aber partout nicht in diese Rolle drängen = in eine Schublade stecken lassen wollen. Sammon verschweigt darüber hinaus nicht, dass der Splatterpunk bereits von Zeitgenossen als temporäre Erscheinung oder als Prädikat betrachtet wurde, das einem längst existierenden Sub-Genre aufgeklebt wurde. Er bestreitet dies vehement, doch die Geschichte hat ihn eingeholt und hinter sich gelassen: Der Horror ist blutiger und schmutziger denn je, doch vom Splatterpunk spricht niemand mehr.

Faktisch ist geschehen, was Sammon leugnen möchte: Wie jede erfolgreiche Schöpfung wurde der Splatterpunk ausgebeint. Was ihn angeblich ausmachte, wurde von Schriftstellern übernommen, die keine Bilderstürmer waren, sondern Geld verdienen und unterhalten wollten. Außerdem wurde die Schraube weiter angedreht. Was Autoren wie Edward Lee, Wrath James White oder Bryan Smith heute über ihre Leser erbrechen, lässt die Splatterpunks von einst recht harmlos wirken.

Wobei auch Sammon gar nicht leugnet, dass die Drastik vor allem Mittel zu jenem Zweck ist, das Publikum über den Umweg des Ekelns & Aufregens zum Nachdenken anzuregen. In diesem ersten Teil der Sammlung „Splatterpunk: Extreme Horror“ schafft dies vor allem Joseph Richard Lansdale (*1951), der sich eindringlich und ohne Beschönigungen, dabei ebenso nüchtern wie wahrhaft schwarzhumorig dem Thema Rassismus widmet. Richard Christian Matheson (*1953) gelingt auf kaum fünf Seiten die erinnerungswürdige Momentaufnahme einer unerträglichen Trauer, in der sich Abscheu und Irrsinn mischen.

Welche Tabus lassen sich brechen?

Selbstverständlich sind auch Sammons Splatterpunk-Helden – hier Clive Barker (*1952) und John Skipp (*1957) solo – an Bord. Sammons bemüht sich um Objektivität, wenn er gerade Barkers Beitrag als literaturhandwerkliches Meisterwerk rühmt, dem jedoch die letzte Intensität abgehe: Barker wolle zwar schockieren, vor allem aber unterhalten. Ein ‚moralischer Sinn‘ fehle seinem spannenden Schlachtplatten-Spektakel. Diesen sieht Sammon bei Skipp, dem er (allen Ernstes) eine auf die Spitze getriebene Anklage gegen Gewalt in der Ehe bzw. gegen Frauen unterstellt. Gerade der literarische Aufwand, mit der Skipp die dabei ins Feld geführten Scheußlichkeiten verbrämt, haben diese Story deutlich stärker altern lassen als Barkers „Fleischlieferung um Mitternacht“.

Den goldenen Mittelweg beschreitet Mick Garris (*1951), der auch Drehbuchautor und Regisseur ist und sich in Hollywood auskennt. „Ein Leben fürs Kino“ ist allzu sehr auf die Schlusspointe ausgerichtet, die entweder zündet oder verpufft, während die illusionslosen Einblicke in den Unterleib der Filmindustrie weiterhin überaus authentisch wirken.

Douglas E. Winter (*1950) gehört zu den Autoren dieser Sammlung, die auf übernatürliche Faktoren oder Psychopathen-Schnetzeleien verzichten. Er beschwört ein alltägliches und banales Grauen herauf, das derartige Vordergründigkeiten nicht benötigt: Eine Gegenwart, deren alltägliche Anforderungen die Jugend gleichzeitig langweilt und überfordert, gebiert Monster, vor denen es kein Entrinnen gibt, weil sie allgegenwärtig und unauffällig sind. Ebenso argumentiert Wayne Allen Sallee (*1959), dessen trauriger ‚Held‘ nicht zu wissen scheint, ob ihn die beobachtete Gräueltat schockiert oder erregt; ein eigentlich sinnloses Dasein ließ ihn die entsprechenden moralischen Maßstäbe verlieren. Edward Bryant (*1945) stellt uns eine Frau vor, die ihre Entscheidung trifft. Allerdings weckt die Gewalt, mit der sie konfrontiert wird, eine eigene, bisher unterdrückte Wut, sodass sie ihren Verfolgern nicht entfliehen will, sondern die Konfrontation sucht und siegt – eine Erfahrung, die sie flugs im festgefahrenen Privatleben umsetzt und damit den Schrecken auf eine neue Ebene hebt.

Eine Lanze für den extremen Horror

„Splatterpunk“ sammelt nicht nur eindringliche oder wenigstens unterhaltsame Kurzgeschichten. Ebenso wichtig ist „Outlaws“, ein ausführliches Essay des Herausgebers, der den Splatterpunk im Genre verortet, seine (Vor-) Geschichte erläutert, die Intentionen dieses blanken Horrors darlegt sowie seine (1990) relevanten Autoren vorstellt. So viel Mühe geben sich Herausgeber selten, doch Sammons liegt das Thema sichtlich am Herzen, er kennt sich aus, und sein Wissen ist auch oder sogar vor allem viele Jahre nach dem Splatterpunk eine Bereicherung.

Die bibliografischen Hinweise sind hierzulande und heute eher Vorgaben für eine antiquarische Suche. Viele Titel wurden zudem niemals in Deutschland veröffentlicht. Ebenfalls veraltet ist die Filmographie, die inzwischen eher Grinsen als Grauen hervorruft: Ungeachtet der Tatsache, dass die Zensur nicht nur hierzulande weiterhin voller Argwohn alles niederzuhalten versucht, was gegen Konventionen verstößt und verstoßen will, haben sich die Maßstäbe dessen, was Horror zeigen ‚darf‘ und (dank beachtlich entwickelter Spezialeffekte) kann, drastisch verschoben. Was 1990 noch er- und verschrecken konnte, ist im Zeitalter von „The Walking Dead“ & Co. nur noch nostalgisch fürchterlich.

Für die deutsche Ausgabe wurde Sammons‘ „Splatterpunk“-Sammlung geteilt. Die beiden Bände fanden offenbar Leser genug, um unter demselben Titel noch einen dritten Band zu veröffentlichen, den ein deutscher Herausgeber zusammenstellte.

Herausgeber

Paul Michael Sammon wurde 1949 in Philadelphia, US-Staat New York, geboren. Er schlug die Laufbahn eines Journalisten ein, wobei er sich vor allem auf den literarischen Horror und den phantastischen Film konzentrierte. In Hollywood arbeitete Sammon als Tricktechniker u. a. an Filmen wie „Conan der Barbar“ (1982) „Robocop“ (1987) oder „Das Schweigen der Lämmer“ (1990) mit.

Sammons Zeit als Autor fällt in die 1990er Jahre. Er war einer der wichtigsten ‚Geburtshelfern‘ des Splatterpunks, den er als ‚neuen‘ Horror des Millenniums proklamierte. Außerdem schrieb er drei Filmbücher (über die Filme „Blade Runner“, „Starship Troopers“ und den Regisseur Ridley Scott), die zu den besten dieses Genres gehören.

Nach 2000 betätigte sich Sammon vor allem als Video-Dokumentar, der zahlreiche Filme vom Konzept über die Dreharbeiten bis zur Präsentation begleitet.

Mehr über Paul M. Sammon

Die „Splatterpunk“-Trilogie:

(1992) Paul M. Sammon (Hg.): Splatterpunk (Splatterpunk: Extreme Horror [Teil 1]) – HAR 01/8542
(1993) Paul M. Sammon (Hg.): Splatterpunk 2 (Splatterpunk: Extreme Horror [Teil 2]) – HAR 01/8543
(1994) Uwe Luserke (Hg.): Splatterpunk 3 – HAR 01/8544

HAR = Heyne Allgemeine Reihe

Taschenbuch: 330 Seiten
Originaltitel: Splatterpunk: Extreme Horror [Teil 1] (New York : St. Martin’s Press 1990)
Übersetzung: Maximilian K. Brocken
www.randomhouse.de/heyne

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