Pratchett, Terry – Gefährliche Possen und andere Erzählungen

_Hintergründiger Humor in schrägen Storys_

Diese vier Kurzgeschichten sind ziemlich schräg, um nicht zu sagen: abgefahren. Die Frage, warum und vor allem wie Hollywood-Hühner eine viel befahrene Straße überqueren, wird ebenso hintergründig beantwortet wie die Frage nach der künstlichen Wirklichkeit oder warum ein Mordopfer selbst als Täter verhaftet wird.

_Der Autor_

Terry Pratchett und seine Frau Lynn sind wahrscheinlich die produktivsten Schreiber humoristischer Romane in der englischen Sprache – und das ist mittlerweile ein großer, weltweiter Markt. Obwohl sie bereits Ende der siebziger Jahre Romane schrieben, die noch Science-Fiction-Motive verwendeten, gelang ihnen erst mit der Erfindung der Scheibenwelt (Disc World) allmählich der Durchbruch. Davon sind mittlerweile etwa drei Dutzend Bücher erschienen. Nachdem diese für Erwachsene – ha! – konzipiert wurden, erscheinen seit 2001 auch Discworld-Romane für Kinder. Den Anfang machte das wundervolle Buch [„The amazing Maurice and his educated rodents“, 219 worauf „Die kleinen freien Männer“ folgte.

Doch auch andere Welten wurden besucht: ein Kaufhaus, in dem die Wühler und Trucker (= Nomen) lebten, und eine Welt, in der „Die Teppichvölker“ leben konnten. Die Nomen-Trilogie „The Bromeliad“ soll zu einem Zeichentrickfilm gemacht werden.

_Der Sprecher_

Christian Tramitz, geboren 1955, studierte am Münchner Musikkonservatorium im Hauptfach Geige. Seine Interessen gingen jedoch über die Musik hinaus, und so folgte ein Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und der Theaterwissenschaften. Damit nicht genug, nahm er nach dem Studium Schauspielunterricht bei Ruth von Zerboni. Nach seinem ersten Engagement am Stadttheater Ingolstadt folgten Theatertourneen, bis er ans Ensemble der Düsseldorfer Kammerspiele aufgenommen wurde. 1997 begann Tramitz‘ enge Zusammenarbeit mit Michael „Bully“ Herbig in der „bullyparade“, die etliche Nominierungen und einige Auszeichnungen erhielt. Durch seine Rollen in „Der Schuh des Manitu“ und „(T)Raumschiff Surprise“ wurde Tramitz einem breiteren Publikum bekannt und bekam eine eigene Comedy-Serie. (Verlagsinfo)

Regie führte Angela Kübrich.

_Die Erzählungen_

|1) Gefährliche Possen|

Die Stadtwache hat in Ankh-Morpork, der Millionenstadt auf der Scheibenwelt, einen ungewöhnlichen Toten entdeckt. Corporal Nobbs und Feldwebel Colon grübeln, was die Todesursache gewesen sein mag: der Strang Würstchen um den Hals des Mannes? Colon entdeckt Geld in den Taschen des Toten sowie eine Visitenkarte: „Chaz Schlummer, Kinderunterhalter“. Eins steht fest: Dieser Tote ist sehr tatverdächtig und man sollte ihn verhören.

Hauptmann Mumm verdonnert den Obergefreiten Karotte zu dieser dankbaren Aufgabe. Karotte macht über der Leiche den TOD dingfest und quetscht ihn aus, denn schließlich war TOD ja Zeuge der Meucheltat, oder? TOD ist jedoch alles andere als kooperativ, denn er fürchtet, die Bullen könnten ihn als Spitzel einspannen, und das wäre ihm zuwider. Er weigert sich, den Toten zu verpfeifen.

Daher muss Karotte nach anderen Zeugen Ausschau halten. Unweit des Fundorts, wo Colon gerade den Umriss der Leiche hübsch ausmalt, entdeckt Karotte eine Familie von Gnomen. Sie geben zu, dass sie für Schlummer gearbeitet haben, aber der beutete sie aus und demütigte sie. Das Tatwerkzeug, das den Erstickungstod des Impresarios herbeiführte, ist eine Lederscheibe, die zur Veränderung der Stimme benutzt wird. Die Scheibe blieb ihm im Hals stecken – Exitus.

|Mein Eindruck|

Wieder einmal machen die Angehörigen der Stadtwache einen Narren aus sich. Und wie stets ist es ein Vergnügen, den Clowns dabei zuzusehen. Aber worum geht es eigentlich? Da ist also ein „Kinderunterhalter“ an einer Lederscheibe erstickt – na und? Offenbar hat er eine Art Straßentheater betrieben und dabei seine „Mitarbeiter“, die Gnomen, als Kinder ausgegeben und ausgebeutet. Hat er seinen Unfalltod verdient? Wie stets sind die Schlussfolgerungen, zu denen Karotte, Colon, Bobbs und Mumm (der Kommandant) kommen, von schöner und bewegender Abwegigkeit.

Der Sprecher verleiht den Figuren individuelle Charakteristiken, soweit es ihm im Rahmen seiner begrenzten Fähigkeiten möglich ist. Der TOD weist sogar ein kleines Echo auf, aber da muss man schon ganz genau hinhören. Ach, was hätte Rufus Beck daraus gemacht!

|2) # ifdefDEBUG + „world/enough“ b+ „time“|

Der Computertechniker Thompson wird zu einem Tatort gerufen. Ein User der Künstlichen Realität (CGEn: Computer Generated Environment) wurde tot inmitten seiner CGE-Anlage aufgefunden, und im Nebenzimmer liegt die verschrumpelte Leiche einer ehemals schwangeren Frau. Der Techniker soll für Polizei und CGE-Hersteller herausfinden, ob ein technischer Defekt zum Tode des Users geführt hat. Das war zwar nicht der Fall, aber angesichts der Einschüchterungsversuche von Polizei und CGE-Angestelltem erfindet er lieber etwas. Eigentlich war ein Virus daran schuld. Er nimmt folgendes an: Nun wandeln beide, die Frau und der männliche User, wohl zunächst im virtuellen Raum der K. R., doch hat Thompson die Frau bereits auch an verschiedenen anderen Orten der realen Realität gesehen …

|Mein Eindruck|

Diese lange Erzählung ist kompliziert – besonders dann, wenn man mit „Computerles“ absolut nichts anfangen kann. Und Künstliche Realität? Damals, in den seligen Neunzigern, schien sie eine Zukunft zu haben, doch die ist heute Vergangenheit, denn nach 9/11 haben wir ganz andere Sorgen mit der realen Realität und können auf die virtuelle verzichten. Außerdem haben wir ja das Internet, wo sich inzwischen 3,8 Mio. User in „Second Life“ tummeln. Dass es dort neuerdings Räume für Kindermissbrauch gibt, sollte uns zu bedenken geben, dass die VR auch immer zu Missbrauch genutzt wird.

Der CGEn-User in der Story hatte sich ein ganz harmloses Vergnügen gegönnt: Er schuf sich seine Familie – die Schwangere und ihr Baby – in der VR und gesellte sich am Schluss zu ihr.

Der Sprecher müht sich sehr, die vielen englischen und technischen Ausdrücke korrekt auszusprechen und in 99,9 % der Fälle gelingt ihm dies erstaunlicherweise auch. Dennoch entgeht dem Hörer das meiste der Geschichte, weil Tramitz viel zu schnell liest, und ich ertappte mich dabei, wie meine Gedanken nach zwei Dritteln der Story abschweiften …

|3) Hollywood-Hühner|

Als 1973 auf einer viel befahrenen Straße in Hollywood, Kalifornien, ein Laster verunglückt, stranden rund 50 Hühner auf dem Seitenstreifen, der von einer undurchdringlichen Mauer begrenzt wird. Das ist Fakt. Fakt ist aber auch, dass sie sich vermehren, manche aber auch versuchen, die Straße zu überqueren. Eine natürliche Auslese findet statt, als die Wagemutigen und Tollkühnen unter ihnen dem Verkehr zum Opfer fallen. (Eingestreut sind Beispiele für die Kommunikation unter Hühnern.)

Etwa ab 1981 begannen Polizisten seltsame Konstruktionen festzustellen, und im August 1984 knallte eine Art Käfig mit drei Hähnen darin voll gegen die Windschutzscheibe eines Lasters. Der Vorfall wurde nie aufgeklärt, aber die Hühner waren natürlich Matsch. Auch der Tunnel unter dem Straßenbelag wurde sicherlich nicht von Hühnern gebaut, oder? 1986 berichtet ein Polizist von weiteren absurden Überquerungsversuchen, darunter mit einer Mülltonne, die über einen Antrieb verfügt. (Man denke an „Chicken Run“.) Im Mai 1989 schließlich sind alle Hühner auf der Seite, wo sie gestrandet waren, verschwunden. 43 Hühner befinden sich auf der anderen Seite! Die Evolution hat gesiegt. Oder?

Das ist schön und gut, und das Warum für ihr Tun kann man sich auch zusammenreimen, aber das Wie würde die Wissenschaft zu gerne klären. Und wieso wurde erhöhte Radioaktivität festgestellt? Haben die Hühner etwa den Atomantrieb erfunden oder den Materietransmitter? Na, da lachen doch die … – Sie wissen schon.

|Mein Eindruck|

Was uns der Autor in dieser sehr gelungenen Satire vorführt, aber mit keinem Wort erwähnt, ist die Wiederholung der menschlichen Geistes- und Kulturgeschichte, angewendet auf eine winzige Hühnerpopulation, die den Überlebenskampf um jeden Preis gewinnen muss. Es gibt religiöse Führer, aufklärerische Denker („cogito ergo gluck!“), kühne Flieger à la „Chicken Run“ in ihren wackeligen Kisten (die an der Windschutzscheibe eines LKW zerschellen), Gräber wie in „Gesprengte Ketten“ (der das Vorbild für „Chicken Run“ lieferte), eine Rakete und schließlich sehr seltsame Vorrichtungen, die selbst der gegenwärtigen Wissenschaft noch nicht gelungen sind: Materietransmitter. Die Hühner „beamen“ sich auf die andere Straßenseite!

Dies ist die einzige Geschichte, die über Geräusche verfügt: Verkehrsrauschen, einmal auch eine Hupe mit Dopplereffekt – sehr passend. Der Sprecher macht allerdings nicht allzu viel aus dem wundervollen Text. Wie viel könnte man aus den kurzen Stücken Hühner-Monolog und -Dialog herausholen! Sicher, es mag dann lächerlich klingen, aber sind diese Geschichten nicht auch für Kinder gedacht? Kratz? Gluck!

|4) Die Weihnachtsfestplatte|

Am 25.12.1999 erscheint Santa Claus wie bestellt im Büro der Firma Trading Office Machines. Es herrscht Nacht und Stille im Büro, aber wo ist der Bengel TOM, der ihm seine Wunschliste geschickt hat? Santa aktiviert den PC, und ein elektronischer Brief erscheint auf dem Bildschirm. TOM ist genau dieser PC, und er wünscht sich eine neue Multifunktionsfestplatte mit schier unendlicher Speicherkapazität. TOM hat einen echten Minderwertigkeitskomplex, denn er fühlt sich missachtet und ausgebeutet.

Nun, Santa hat stets eine Eisenbahn in Reserve dabei und führt ihm diese vor. Doch dann bekommt er heraus, was dem zweijährigen PC wirklich fehlt …

Einen Monat später wird der Computertechniker zu TOM gerufen. Der Abteilungsleiter klagt, der PC fahre sofort herunter, wenn man das Spielzeug von ihm entferne, und dann sei nichts mehr mit ihm anzufangen. Der Techniker kratzt sich am Ohr, nachdem er festgestellt hat, dass der Rechner völlig in Ordnung ist. Er empfiehlt, den Teddybär einfach auf dem PC stehen zu lassen …

|Mein Eindruck|

Auch dies ist eine eindeutige Kindergeschichte, auch wenn das „Kind“ in diesem Fall der PC Tom ist. Er ist zwei Jahre alt und weist auch eine entsprechende Psyche auf. Damit kennt sich Santa Claus aus, und so hat er für den armen Kleinen das passende Geschenk dabei, da dieses ja sowieso keiner mehr will: einen Teddy. Merke: Es kommt nicht auf das Spielzeug an, sondern auf die Liebe, mit der es geschenkt wird. Und die gibt Tom natürlich nicht mehr her. – Ansonsten zeigt der Autor, was heute aus Weihnachten geworden: ein Upgrade-Fest.

Der Sprecher bemüht sich hier wirklich, Wärme und Humor in den Dialog zu legen und dies gelingt ihm auch bis zum Schluss. Von Charakterisierung ist durchaus ein wenig zu hören, denn Santa wird mit einer tiefen Stimme ausgestattet, und Tom unterscheidet sich davon mit einer höheren Stimmlage – er spielt ja in diesem Gespann das Kind.

_Unterm Strich_

Dass der Schöpfer der Scheibenwelt auch witzige Kurzgeschichten veröffentlicht hat, ist nur wenigen Lesern seiner Romane bekannt. Naturgemäß spielen viele seiner Storys in einem Fantasyumfeld, so etwa das herrliche Stück „Die Trollbrücke“ (Trolle leben bekanntlich unter Brücken – dort erheben sie bei Pratchett eine Straßenbenutzungsgebühr; das Ganze basiert auf dem Wortspiel „troll“ und „toll“ = Maut).

Dass sich Pratchett am Anfang seiner Schriftstellerkarriere auch mit Ideen aus dem Science-Fcition-Umfelkd herumgeschlagen hat, verrät er immer wieder in so Erzählungen wie etwa „ifdefDEBUG“ und „Die Weihnachtsfestplatte“. Doch bei „ifdefDEBUG“ handelt sich nicht um futuristische Vorkommnisse, sondern um Phänomene, die schon in den 1990ern publizistisch ausgeschlachtet wurden, etwa vom Magazin |WIRED|. Und dass heute selbst die jüngsten PC-Nutzer nach einer größeren Festplatte gieren, dürfte angesichts des Speicherhungers von |Win VISTA| durchaus verständlich erscheinen.

Es sind vielmehr die Gegensätze zu diesen Phänomenen. Was ist aus alten Werten wie Liebe geworden? Aus der Liebesbedürftigkeit eines Kindes, aus der Liebe eines VR-Nutzers zu seiner Familie? Diese Geschichten sollen ebenso zum Nachdenken anregen wie „Die Hollywood-Hühner“. Dieses fabelhafte und sehr hintergründige Stück Prosa schildert, wie eine kleine Hühnerpopulation unter extremem Überlebensdruck die Evolution des Menschen in nur 16 Jahren wiederholt – und übertrifft.

Die Ironie bei dieser Geschichte: Die moderne Verhaltenswissenschaft – die Story ist wie ein Report aufgebaut – ist ebenso wenig wie die unterbelichtete Polizei in der Lage, den technischen Fortschritt der Hühnerpopulation zu erkennen. So wie Schönheit stets im Auge des Betrachters liegt, so auch die Anerkennung für den Fortschritt unter einer anderen Spezies. Besonders dann, wenn es sich um eine Spezies handelt, auf die der gemeine Homo sapiens ständig hochmütig herabsieht. Dieser Dünkel könnte sein Verhängnis werden. Achtung: Der Autor testet die Intelligenz des Lesers bzw. Hörers! Dekodieren Sie die Äußerungen der Hühner. Was könnte beispielsweise „cogito ergo gluck!“ bedeuten?

|Das Hörbuch|

Die Auswahl ist gelungen und sollte eigentlich für den Erfolg des Hörbuchs garantieren. Doch die Ausführung durch Christian Tramitz lässt Wünsche offen – siehe oben. Er ist am besten, wenn er ein wenig Akzent in seine Stimme legen darf, was nicht oft geschieht, aber in „Manitu“ und „Surprise“ (s. o.) kommt er so am besten zur Geltung. Seine sonore Stimme hat viel Potenzial für das Vorlesen geeigneter Texte, doch was ist ein geeigneter Text? Vielleicht die Hörspielfassung einer Pratchett-Geschichte. Aber ob sich ein geeigneter Drehbuchautor dafür findet, bleibt abzuwarten. Im Hörspiel könnte Tramitz seine Fähigkeiten viel besser zum Einsatz bringen. Im Hörbuch jedoch muss er sich viel zu sehr zurückhalten, und so vermisst man sein komödiantisches Können.

|65 Minuten auf 1 CD
Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Brandhorst|
http://www.hoerverlag.de