John Cassells – Der graue Geist

Ein englischer Landsitz wird zum Schauplatz von Erpressung und Morden, denen ein Ermittler von außerhalb ein Ende zu machen trachtet … – Band 10 der Superintendent-Flagg-Serie ist ein „Whodunit“ der reinen Form. Der Tatort bleibt abgeschottet, die Zahl der Verdächtigen überschaubar, das Spiel folgt den bekannten Regeln: John Cassells leistet er gute Arbeit und liefert keinen klassischen aber einen unterhaltsamen Krimi der alten, gemütlichen Schule.

Das geschieht:

Endlich hatte Lester Trant, ebenso reicher wie herrischer Bewohner eines großen, einsam gelegenen Landsitzes nahe Wood Lynn in der englischen Grafschaft Berkshire, einen tüchtigen neuen Chauffeur gefunden, da liegt dieser Ted Roofer mit einer Kugel im Herzen und mausetot in seinem Garten. Die örtliche Polizei ist in dieser guten alten Zeit, d. h. wenige Jahre nach dem II. Weltkrieg, solchen Gräueln nicht gewachsen und ruft nach Scotland Yard. Aus London reist Chefinspektor Flagg an, der wie immer vom treuen (und treuherzigen) Sergeanten Newall begleitet wird. Unterwegs liest man noch einen alten Bekannten auf: Tommy Holland, rasender Kriminalreporter des „Monitor“, der sich, eine Schlagzeile witternd, sogleich auf den Weg in die Provinz gemacht hat, um der Polizei wie üblich hinterher zu schnüffeln.

Trant schwebte schon vor Roofers Tod in Ängsten. Er zittert vor einem Unbekannten, der sich selbst „Grauer Geist“ nennt und ihm hohe Geldsummen abpresst: Sein Vermögen hat Trant auf krummen Wegen erworben, was tunlichst geheimbleiben sollte. Allgemeines Misstrauen peinigt Trant. Seinen Sekretär David Rizzuto verdächtigt er, es auf sein Geld abgesehen zu haben, von dem Trant große Summen im Hause verbirgt. Nach der geheim gehaltenen Hochzeit mit einer lebenslustigen Tänzerin drücken Rizzuto arge finanzielle Nöte.

Ist Lee Moran, der Verlobte von Trants maßvoll geliebter Nichte Ruth Conway, tatsächlich so eine gute Partie wie er zu sein vorgibt? Er scheint mehr als ein Geheimnis zu verbergen. Ist er gar der „Graue Geist“, wie Trant argwöhnt? Wieso rät Ada Hume, eine ehemalige Sekretärin, die überraschend gekündigt hat, ihrer Freundin Ruth so dringend von einer Hochzeit mit Moran ab? Ist es ein Zufall, als Flagg in Dora Rizzuto die ehemalige Miss Dreever erkennt, deren Vater ihm einen langen Aufenthalt hinter schwedischen Gardinen verdankt? Raschen Aufklärung ist nötig, denn es steht zu befürchten, dass die Zahl der Opfer sonst rapide zunimmt …

Auch schlecht‘ Ding will Weile haben

Der klassische „Whodunit“-Krimi gleicht einem Schachspiel: Die Regeln stehen ebenso wie die wichtigsten Spielzüge fest. Die Variation des Bekannten bringt die Spannung, welche in unserem Fall identisch ist mit dem behaglichen Kräuseln einer nur leichten Gänsehaut. Nicht Action oder gar Gewalt sorgen für das Lektürevergnügen, gemordet wird stets diskret und ohne blutige Sauereien. Im Zentrum steht das große Rätsel: Wer war es? Einfach darf es uns der Verfasser natürlich nicht machen. Folgerichtig sind in einem richtigen „Whodunit“ sämtliche Handlungsfiguren verdächtig. Der richtige Schauplatz ist ebenfalls wichtig. Trants Landsitz ist einsam gelegen, riesengroß und unüberschaubar. Die Handlung spielt (natürlich) im November; es ist eigentlich stets dunkel, neblig und regnerisch.

Der „Graue Geist“ spukt zudem in einem Umfeld jenseits von Zeit und Raum. Erstere scheint jedenfalls stehengeblieben zu sein in Wood Lynn. Man benutzt das Telefon und fährt im Automobil, der (Zweite) Weltkrieg wird erwähnt. Doch im Gasthaus „Buck’s Head“ gibt es kein fließendes Wasser für die Gäste. Der alte Trant hält sich wie ein Feudalherr des 19. Jahrhunderts Butler, Privatsekretär und Chauffeur. Nichte Ruth ist in erster Linie dazu da bedroht, gerettet und geheiratet zu werden.

Ansonsten geschieht eher wenig, die Handlung wird vor allem in Dialogen vorangetrieben: Der Inspektor verhört seine Verdächtigen, diese benehmen sich entsprechend (also verdächtig), es werden andeutungsreiche Gespräche geführt, Drohungen geäußert. Wer’s mag, kann sich die Geschichte auf diese Weise zusammenreimen. Cassells spielt fair und behält kein As im Ärmel. Der versierte Krimifreund kann deshalb auch ohne zu raten auf den Täter schließen.

So kennen & mögen wir sie

Meisterdetektive sind meist Exzentriker; sie müssen so sein, weil sonst ihre Farblosigkeit gar zu offenbar wird: Eine Denkmaschine ist kein Actionheld. Auch Chefinspektor Flagg ist nicht der, welcher er zu sein vorgibt: ein braver, der kriminalistischen Arbeit verpflichteter Mann, der den Gipfel des Glücks erreicht, wenn ihm sein Sergeant eine gute Zigarre schenkt. Ganz so harmlos ist der Inspektor (s. u.) nicht, was freilich schwer abzuschätzen ist, weil sich die Figuren um Flagg betont denkfaul geben.

Sie spielen ihre Rollen: den schwatzhaften Gastwirt, das frivole Showgirl, den scheinheiligen Sekretär, den eisenharten Kapitalisten, den unerschütterlichen Butler, die verfolgte Unschuld, den unermüdlichen Reporter … Eifrige „Whodunit“-Leser kennen und lieben sie alle; dass sie mit realen Menschen wenig oder gar nichts zu tun haben, ist kein Hinderungsgrund, sondern ein Bonus. Der klassische Rätselkrimi geleitet sie für einige Stunden hinaus in eine einfache, überschaubare Welt mit Alltags-‚Problemen‘, die von den Unerfreulichkeiten der Realität weit entfernt sind. Dazu gehört es, dass Polizisten und Ex-Häftlinge einen freundschaftlichen Umgangston pflegen, auch wenn letztere von ersteren in den Knast geschickt wurden: Man macht halt seinen Job und nimmt sich nichts übel.

Mit Geduld & Geist – in dieser Reihenfolge

Inspektor Flagg ist der ideale Führer durch diesen gemütlichen Krimi-Mikrokosmos. Er ist beleibt, ein Genießer von gutem Essen, zu dem auch im Dienst unbedingt ein Glas Bier gehört, und gibt sich jovial und ein wenig beschränkt. Sergeant Newall und seine Kollegen sind ihm genauso gute Freunde wie Mitarbeiter; man kennt und schätzt einander seit Jahren.

Hinter der rustikalen Fassade wohnt freilich ein wacher Geist. Flagg legt es darauf an unterschätzt zu werden, denn so lassen seine Gegenüber die Masken fallen. Nur scheinbar arglos stellt Flagg harmlose Fragen, mit denen er sich indes Stück für Stück auf Terrain vortastet, das Verdächtige ins Straucheln bringt. Dann schnappt Flagg zu.

Jeder Holmes benötigt seinen Watson. Das ist in unserem Fall Sergeant Newall, der als Polizist ein ‚Spätberufener‘ ist und sich seinen Lebensunterhalt einst als Gedächtniskünstler verdiente. In dieser friedlichen Ära lange vor der Erfindung des PCs ist Newall ein wichtiger Aktivposten für seinen Chef, da er Recherchen eindrucksvoll abzukürzen weiß: Er zieht wichtige Fakten einfach aus dem Hirn. Gleichzeitig ist Newall immer wieder für einen kleinen Scherz der kauzig britischen Art gut – und Humor schadet diesem Buch ganz sicher nicht, das indes im Finale mit einer Überraschung aufwartet und sich plötzlich ein gutes Stück ‚moderner‘ gibt.

Autor

John Cassells (alias Peter Malloch, Neill Graham, John Dallas, Martin Locke, Lovat Marshall) hieß eigentlich William Murdoch Duncan (1909-1976). Seine zahlreichen Pseudonyme verbargen den Lesern anspruchsloser Kriminalromane, dass der schottische Autor dieses Marktsegment mit seinen Werken fast im Alleingang abzudecken vermochte. Duncan stellt sogar seinen Landsmann Edgar Wallace in den Schatten: Mehr als 200 Thriller verfasste der fleißige Mann, den hierzulande und heute kaum noch jemand kennt, obwohl seine Bücher lange auch in Deutschland gern gedruckt wurden.

Freilich ist unbestreitbar, dass Duncan von der Zeit nicht nur eingeholt, sondern überrollt wurde. Seine Romane sind einfach gestrickt und ohne die Raffinesse einer Dorothy L. Sayers, eines Michael Innes oder anderer Vertreter jener „Goldenen Ära“ des Thrillers, deren Werke auf der Nostalgie-Schiene direkt in den Krimi-Himmel auffuhren, wo sie auf ewig thronen werden.

Duncan konnte nie viel Zeit auf seine Geschichten verwenden, was andererseits aber nicht bedeutet, dass sie zwangsläufig schlecht geschrieben wären. Es fehlt nur das gewisse Etwas, das altmodische Gemütlichkeit zeitlos werden lässt. Wer freilich einfach ‚nur‘ nach Krimis im Wallace-Stil (schlicht geplottet, bevölkert mit ‚Typen‘, durchzogen von Nebelschwaden) sucht, wird mit Duncan zufrieden sein.

Taschenbuch: 177 Seiten
Originaltitel: The Grey Ghost (London : Andrew Melrose 1951)
Übersetzung: Tony Westermayr
http://www.randomhouse.de/goldmann

Der Autor vergibt: (3.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Schreibe einen Kommentar