Miéville, China – Eiserne Rat, Der

China Miéville gewann im Jahr 2003 mit seinem Roman [„Perdido Street Station“ 695 den Kurd-Laßwitz-Preis als bestes fremdsprachiges Werk der Phantastik. Nicht zuletzt dank der herausragenden Eva Bauche-Eppers, die Miévilles bildgewaltige und mit antiquierten Ausdrücken gespickte Sprache so vorzüglich in das Deutsche übertragen hatte, dass sie mit dem Preis für die beste Übersetzung ausgezeichnet wurde. Sie übersetzte auch diesen Roman genauso ausgezeichnet wie seine Vorgänger.

Der politisch stark links und anti-autoritär orientierte Miéville führt den Leser mit „Der Eiserne Rat“ zurück in den Moloch New Crobuzon. Auf Bas-Lag ist seit den Ereignissen um den Weber rund um den Hauptbahnhof Perdido Street Station rund eine Generation vergangen, die kapitalistische und brutale Herrscherschicht New Crobuzons hat sich jedoch nicht verändert: Man führt Handelskriege und treibt die Erschließung des Hinterlands mit Eisenbahnlinien voran.

Gewerkschaften und Arbeiter haben in New Crobuzon keine Macht und keine Rechte, Polizeigewalt hält die Massen in Schach, das Gesetz wird allzu oft vom Gesetz des Stärkeren, von dem die Machthaber ausgiebig Gebrauch machen, außer Kraft gesetzt. Auch die Bahnarbeiter haben nichts zu lachen, insbesondere „Remade“, bestrafte Verbrecher, die oft mit Maschinen oder Tieren auf groteske Weise verschmolzen wurden, werden von ihnen willkürlich und gewissenlos behandelt. Einer der Bautrupps rebelliert schließlich: Die Freudenmädchen, Remade und andere Unzufriedene der untersten Schichten streiken, nachdem die Lohnzahlungen ausbleiben, und überwältigen schließlich die mit Härte reagierenden Aufseher New Crobuzons.

„Der Eiserne Rat“ entsteht, eine Gruppe von Verfemten, die gegen New Crobuzon erfolgreich revoltiert und überlebt hat – eine Seltenheit und im Laufe der Jahre Stoff für Legenden, ein Symbol der Hoffnung für die Außenwelt. Der Rat flüchtet vor den Schergen der Stadtväter in entlegenste Gebiete Bas-Lags, in denen sich immer mehr Flüchtlinge dem auf seinen sukzessiv verlegten und wieder abgebauten Schienen immer weiter fortstrebenden Zug anschließen.

Das wollen auch die Flüchtlinge um Cutter und den Golemisten Judah Low, nicht ahnend, dass der Rat sich von dem Idealbild, das man sich von ihm macht, weit entfernt hat: Auch der Rat hatte regelrechte Kriege in manchen Gebieten seiner Reise zu schlagen, man ist auch längst nicht so autark, wie man glauben möchte, Mängel werden immer öfter offenkundig. Zusätzlich schwächen interne Konflikte den Rat, viele der Gründer des Rats sind mittlerweile verstorben und die neue Generation versteht nicht mehr die Ideale ihrer Eltern und wovor sie geflüchtet sind.

Anders als der ausschließlich in New Crobuzon spielende Roman „Perdido Street Station“ oder der an Moby Dick angelehnte und auf hoher See spielende [„Die Narbe“ 591 wurde „Iron Council“ für die Übersetzung nicht auf zwei Bände aufgeteilt und hat einen wesentlich politischeren Einschlag. Das Szenario erinnert dieses Mal an den „Wilden Westen“; so jagen New Crobuzoner Milizen in der Art amerikanischer Kavallerie nach Verbrechern und Indianern – in diesem Fall sind es Flüchtlinge und einheimische Kaktus-Männer oder ähnliche Fantasiegestalten Miévilles – in einer eindeutig negativen Art und Weise als Todesschwadron.

An seltsame Mensch-Tier- oder Mensch-Pflanze/Mensch-Maschine-Mischwesen ist man von Miéville gewöhnt, allerdings steigert er dieses Mal sowohl die Anzahl als auch die Art dieser Wesen hin zum Grotesken, das dampfgetriebene Kanonenpanzernashorn, der Transportleviathan, aus dessen Bauch Dampfpanzer am Strand anlanden, oder brennende Wohnhäuser auf den Rücken getöteter Riesenschildkröten, aus deren Panzern sie herausgefräst wurden, sollten Beispiel genug sein. Auch hinsichtlich der Charakterentwicklung bleibt China Miéville seiner Linie treu und steigert seinen Stil ins Extreme: Ob nun Isaac Dan dar Grimnebulin oder Bellis Schneewein, sie waren Nebenfiguren im großen Zusammenspiel einer ganzen Welt, wurden von den Ereignissen gesteuert und nicht umgekehrt. Sie standen für Konzepte und Ideale oder dienten wie im Falle von Bellis als Beobachter, hatten aber keinen Einfluss auf die Entwicklung in der Art einer klassischen Heldenfigur. Diese gibt es in diesem Roman ebenfalls nicht, einzig Judah Low könnte man herausheben, auf ihn werde ich in Zusammenhang mit der Gesellschaft des Eisernen Rates aber noch näher eingehen. Politik und Massenpsychologie sowie soziale Aspekte regieren die Handlung, Einzelschicksale werden zwar erwähnt, sind jedoch im Großen und Ganzen bedeutungslos für die Handlung, was das Eintauchen in die wie erwähnt immer groteskere Welt Bas-Lags erschwert.

Noch nie schlug sich Miévilles sozialistische Ader dermaßen in seinem Werk nieder wie in „Der Eiserne Rat“. Klassenkampf und Unterdrückung sowie Flucht in die vermeintliche Freiheit sind die Themen dieses Romans; dieses Mal rückt der Autor soziale Aspekte in den Vordergrund und behandelt kritisch die Probleme einer sozialistisch angehauchten Gesellschaft: Einige wenige starke Führerfiguren ragen aus der Masse der Gleichberechtigten heraus, auch wenn der Eiserne Rat wesentlich humaner zu seinen Bürgern ist und ihnen wirkliche Gleichberechtigung anstelle von Unterdrückung und Bespitzelung bietet – ein Gegensatz zu ehemaligen kommunistischen Ostblockstaaten. Man könnte noch weiter gehen und die Mängel an Material und vielen anderen Dingen mit der Planwirtschaft oder der generellen Effizienz sozialistischer Systeme vergleichen, bis hin zu der Rückkehr des Zuges nach New Crobuzon am Ende des Buchs, an dem man gegen einen gemeinsamen Gegner die geliebte Stadt verteidigt. Eine reuige Rückkehr zum Kapitalismus?

Hier kann man geteilter Meinung sein. Hat „Der Eiserne Rat“ wirklich diese Botschaft? Ich glaube nicht, dass ein Sozialist wie Miéville grundsätzliche sozialistische Ideale in Frage stellen will. Er zeigt dafür auf, wie soziodynamische Entwicklungen das Beste und das Schlechteste im Menschen zum Vorschein bringen; so steigt die Prostituierte Ann-Hari zu einem der führenden Mitglieder des Eisernen Rats auf, hält all die unterschiedlichen Gruppen zusammen. Judah Low hingegen, ein anderes Gründungsmitglied, reist lange Zeit ohne den Rat durch die Welt und entwickelt eine andere Vision dieser Gesellschaft, sieht ihre Schattenseiten und verfällt der Hybris, sich auch aufgrund seiner überragenden Fähigkeiten als Golemist (daher auch der Name – entliehen von Rabbi Judah Loew aus Gustav Meyrinks [„Der Golem“) 1205 als die Hauptfigur des Rats und schlussendlich der ganzen Geschichte zu sehen. Sein Einfluss ist nicht wirklich in diesem Maß gegeben, doch der Leser verfällt ähnlich Low, aus dessen Sicht die Handlung recht häufig beleuchtet wird, in diese Annahme. Trotz seiner Macht und Bedeutung setzen sich die Bürger des Rats durch; er kann diesen Prozess nicht aufhalten und nur begrenzt steuern.

Die Schwäche des Romans liegt nicht in seinen Ideen, sondern in der Erzählweise. Cutter und andere Flüchtlinge sind zu Beginn auf der Flucht vor der Miliz. Warum? Was suchen sie? Bis die Geschichte zum Eisernen Rat kommt und Judah Low sich dem Leser überraschenderweise als Mitbegründer des Rats offenbart, bleibt vieles unklar. Die extrem grotesken Gestalten Miévilles und brutalste Bilder der Gewalt, niedergemetzelte Hirten und Rebenschweine (auf deren Rücken Reben wachsen) sind zwar beeindruckend in ihrer Intensität, tragen aber nicht zur Haupthandlung bei. Diese ist das Problem des Buchs. Miéville bietet hier wesentlich weniger als in den Vorgängern. Wer erwartet, dass die Welt Bas-Lag erweitert wird, wird enttäuscht. Nichts Neues, nur neue Extreme in Gewalt und ein massives Problem mit dem Fokus der Geschichte. Wir erfahren erst nach der Mitte der Buchs, was viele Menschen zur Flucht aus New Crobuzon treibt und wie die Verhältnisse in der Stadt sind; dies wird nur grob angerissen: Pogrome und Kampf gegen die selbstherrlich herrschende Oligarchie. Doch das Schicksal der Revolutionäre Ori und Toro vermag nur sporadisch zu fesseln, die fehlende Identifikation mit Figuren, deren Hintergrund erst im Nachhinein bekannt wird, ist ein Problem des Stilmittels, dem Leser Motivation und Ziele der Figuren lange vorzuenthalten; dasselbe Problem hat bereits der Beginn der Geschichte mit seinem Mangel an Information und der beschränkten Sichtweise des einfachen Flüchtlings.

Dann erst setzt unvermittelt die aus der Rückschau erzählte Geschichte des Rats ein, die von der Idee hochinteressant ist und vorzüglich dargestellt wird, jedoch nicht ausreicht, um das Buch zu füllen. Die Konflikte, die zur Rückkehr des Zugs in die Stadt führen, die von ihren Feinden bedroht wird und innerlich fatalerweise im Zustand des Bürgerkriegs ist, sind allerdings wesentlich nachvollziehbarer als weite Teile der Geschichte zuvor.

So sehr ich mit Miévilles Ideen rund um den Eisernen Rat sympathisieren mag und seine bildgewaltige Sprache schätze, seine Charaktere sind mittlerweile so blass, dass jegliche Identifikation schwer fällt. Die so geschaffene Distanz zur Handlung steht im starken Kontrast zu der bildgewaltigen Sprache, die den Leser in die Welt hineinzieht und aufgrund ihrer übertrieben grotesken Figuren oft auch wieder abstößt. Miéville hat seine Geschichte schlecht erzählt: Erst am Ende des Romans konnte ich sie würdigen, im Nachhinein. Spannung sucht man vergebens, viel zu zäh liest sich dieses vom Thema her doch eigentlich sehr viel versprechende Buch. Träumerei tritt hier an die Stelle guten Erzählens. Das Buch startet langsam und schwach und schafft es nicht, den Leser wirklich zu fesseln und zu begeistern. Erst gegen Ende gewinnt die Handlung an Fahrt, das Finale regt zum Nachdenken an. Miéville hätte sich auf eine oder zwei Handlungen konzentrieren sollen; solcherart kann nur die Handlung um den titelgebenden Eisernen Rat gefallen, alles andere ist Beiwerk und wird oft sehr lieblos im Plot mitgeschleift. So hat Cutter ein homosexuelles Verhältnis zu Judah Low, das jedoch nicht so innig erwidert wird, wie er möchte. Das wird so blutleer erzählt, dass man sich fragt, ob Cutter und Low „Quotenschwuchteln“ sind, denn dieser Aspekt der Geschichte läuft wie so vieles leider völlig ins Leere und Bedeutungslose. Einige wenige starke Abschnitte können leider nicht die fragwürdige Erzählweise aufwiegen. Die Handlung entwickelt sich schwerfällig, kein Vergleich zu „Perdido Street Station“ oder „Die Narbe“; diese Geschichte braucht zu lange, um sich zu entfalten und ist bei weitem nicht so fantastisch wie die der Vorgänger – und nicht annähernd so unterhaltsam.

Homepage des Autors:
http://www.chinamieville.co.uk/

Fanseite im Stil der New Crobuzoner Untergrundzeitung:
http://runagate-rampant.netfirms.com/

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