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Gray, John – Von Menschen und anderen Tieren – Abschied vom Humanismus

Irgendwie neigt die Beschäftigung mit Philosophie dazu auszuufern. Nun muss ich gestehen, dass ich keinesfalls ein Philosophie-Experte bin. Genau genommen ist Grays Buch das erste philosophische Buch, das ich vollständig gelesen habe. Ich nehme deshalb an, dass ich nach Grays Ansicht zu der Gruppe „reflektierter Zeitgenossen“ …(wie kann man Menschen reflektieren?) …gehöre, deren „unreflektierte Überzeugungen“ er laut Vorwort angreifen möchte. Sollte das der Fall gewesen sein, kann der Autor zumindest von sich sagen, dass sein Buch mich zur Reflexion gebracht hat. Ob ihm das Ergebnis gefallen würde, werden wir sehen …

In „Von Menschen und anderen Tieren“ kritisiert Gray den Humanismus und vertritt dabei – unter anderem – folgende Standpunkte:

1. Der Mensch unterscheidet sich nicht wesentlich vom Tier.
2. Es gibt kein in sich geschlossenes, kontinuierliches, menschliches Selbst.
3. Der Mensch besitzt keinen freien Willen und ist deshalb auch nicht für seine Entscheidungen verantwortlich

Diese drei habe ich unter mehreren Punkten herausgegriffen, um den Umfang wenigstens ein klein wenig zu begrenzen.

1. Der Mensch unterscheidet sich nicht wesentlich vom Tier.

Zunächst als Beleg dafür, dass Gray diese These vertritt, hier eine kleine Auswahl an Zitaten:

Zitat S. 17 Absatz 2 Satz 1 und 2:
„Um zu erkennen, dass wir den Tieren zuzurechnen sind, müssen wir nicht Darwin bemühen. Ein Blick darauf, wie wir leben, führt zum selben Schluss.“

Zitat S. 42, Absatz 3, Satz 4:
„[…], den vor-darwinistischen Irrtum wieder aufleben zu lassen, die Menschen seien anders als alle anderen Tiere.“

Zitat S. 70, Absatz 4, Satz 2:
„Doch auch nach all der Denkarbeit, die [diverse Philosophen] geleistet haben, können wir uns nicht sicherer sein als andere Tiere, dass die Sonne morgen aufgehen wird.“

Nun, dieser Ansicht kann man sein. Zumindest, bis man die nächste Seite liest.

Zitat S. 71, Absatz 1, Satz 2:
„Das spezifisch Menschliche ist nicht das Sprachvermögen, sondern die Kristallisation der Sprache in der Schrift.“

Zitat S. 71, Absatz 3, Satz 1:
„Schrift erzeugt ein künstliches Gedächtnis, mit deren Hilfe der Mensch seinen Erfahrungshorizont […] ausweiten kann.“

Ein Philosoph, der seine eigene These selbst widerlegt, unmittelbar, nachdem er sie aufgestellt hat! Interessant!

Tatsache ist, dass der Mensch das einzige Tier ist, das vollkommen anders lebt als seine Mitgeschöpfe. Keine andere Spezies nutzt Werkzeuge und Feuer im selben Ausmaß; nichts lässt erkennen, dass andere Spezies sich Gedanken um die Zukunft machen, wie es zum Beispiel die Bestattungsriten der Menschen seit der Steinzeit erkennen lassen; und keine andere Spezies hat den Planeten so massiv beeinflusst und verändert wie der Mensch.

Ja, der Mensch ist ein Tier. Aber nicht, weil er lebt wie andere Tiere. Sondern weil am Beginn seines Stammbaumes dieselben Einzeller stehen wie bei Hummern, Libellen, Quallen und Rindviechern. Und dass der Mensch ein Tier ist, heißt das nicht, dass er sich nicht von allen anderen Tieren gravierend unterscheiden kann.

2. Es gibt kein in sich geschlossenes, kontinuierliches, menschliches Selbst.

Zitat Seite 88, Absatz 4, Satz 1:
„Dem Identitätserleben liegt kein kohärenter Wesenskern zugrunde.“

Zitat Seite 89, Absatz 4, Satz 3:
„Wahrnehmung und Verhalten vollziehen sich sowohl beim Menschen als auch in einer Insektenkolonie, als gäbe es ein lenkendes Selbst, das aber in Wirklichkeit nicht existiert.“

Diese These stützt sich vor allem auf Erkenntnisse der Neurologie. Das Bewusstsein des Menschen selektiert. Nur ein winziger Bruchteil – etwa ein Millionstel – aller Sinneseindrücke kommt dort an, und wir können nicht beeinflussen, welche. Auf die meisten Situationen reagieren wir unbewusst.

Nun wird die Identität, das „Selbst“ eines Menschen, in diesem Kontext definiert durch die Summe seiner Handlungen. Da das menschliche Handeln aber nur zu einem verschwindend geringen Anteil bewusst ablaufe, könne auch das „Selbst“ bestenfalls ein bruchstückhaftes, unvollständiges, sich stets wandelndes Etwas sein, ein Sammelsurium aus kurzen Momentaufnahmen.

Dass das Handeln des Menschen dennoch eine starke Strukturiertheit aufweist, erklärt Gray mit einem Phänomen, das im Zusammenhang mit Ameisen, Termiten oder Bienen als „Gruppenseele“ beschrieben wird, die allerdings eine Eigenschaft der Spezies sei, und nicht des Individuums. Die Handlung erfolgt demnach als Reaktion auf lokale Komponenten. Sprich: versetze eine Brutpflegetermite aus dem Stock nach draußen, und sie wird anfangen, Futter zu sammeln. Setze sie zurück, und sie wird wieder Maden füttern.

Demnach müsste ein Mongole, den man nach Polynesien versetzt, völlig selbstverständlich in ein Kanu steigen und zum Fischen fahren.
Ich denke nicht, dass es wirklich so einfach ist!
Nun gut, nehmen wir ein weniger krasses Beispiel:
Ein Systeminformatiker, der den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt, wird auf eine Baustelle geschickt, um dort eine Ziegelmauer hochzuziehen.

Sieht so aus, als wäre das Vorbild der Insektenstaaten nicht so einfach auf den Menschen übertragbar. Jedenfalls nicht innerhalb der Bereiche der gesellschaftstragenden Arbeitsteilung. Bestenfalls funktioniert das auf der Ebene der unbewussten Tätigkeiten wie „in Hausschuhe schlüpfen“ oder „die Toilettenspülung betätigen“. Ich glaube aber nicht, dass das „Selbst“ irgendeines Menschen sich danach definiert, welche Hausschuhe er trägt, oder mit welcher Hand er die Spültaste betätigt! Selbst dann nicht, wenn Handlungen wie diese 999.999 Millionstel seiner Gesamttätigkeit ausmachten.

Da andere Tiere oft wesentlich leistungsfähigere Sinnesorgane haben als Menschen, dürfen wir wohl getrost davon ausgehen, dass auch sie ihre Eindrücke in irgendeiner Form selektieren, je nachdem, was für sie relevant ist.

Das menschliche Bewusstsein mag im Vergleich zum gesamten Sinneseindruck bruchstückhaft sein. Das muss aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass daraus kein „Selbst“ entstehen kann. Vielleicht setzt es sich nur vorwiegend aus den Eindrücken und Erfahrungen zusammen, die es als relevant erachtet. Wie Mosaike beweisen, kann auch eine Ansammlung vieler loser Steine ein sinnvolles Bild ergeben, wenn man sie richtig anordnet. dass es mehrere Möglichkeiten gibt, die Steine zu Bildern zu fügen, bedeutet lediglich, dass niemand vorher sagen kann, auf welche Weise ein Eindruck oder eine Erfahrung das „Selbst“ eines Menschen beeinflussen wird. Es bestreitet auch niemand, dass neue Erfahrungen Veränderungen bewirken. Das schließt die Existenz eines „Selbst“ aber nicht aus. Womöglich hat die Neurologie einfach bloß noch nicht herausgefunden, wie genau es entsteht.

3. Der Mensch besitzt keinen freien Willen.

Zitat Seite 81, Absatz 4, Satz 2:
„[…], dass der neurologische Impuls, der ein Verhalten initiiert, eine halbe Sekunde vor der bewussten Entscheidung zum Handeln auftritt.“

Gray zieht daraus den Schluss, dass wir

Zitat Seite 83, Absatz 2, Satz 1:
„In dem Augenblick, in dem wir zu einer Handlung ansetzen, noch gar kein Bewusstsein davon , wie wir handeln werden.“

dass Willensfreiheit folglich eine Illusion ist.

Gegen diese These zu argumentieren, fällt etwas schwer, weil Gray kein Wort darüber verliert, wie der neurologische Test aussah, der das obige Ergebnis erbracht hat. Dabei ist eine Bewertung des Ergebnisses ohne das Wissen über den Versuchsaufbau gar nicht möglich. Zum Beispiel spielt die Frage, welche Entscheidung das „Versuchskaninchen“ denn treffen sollte, eine ziemlich große Rolle, genauso wie die möglichen Konsequenzen der Entscheidung.

Um bei dem literarischen Beispiel zu bleiben, das Gray selbst zur Veranschaulichung herangezogen hat:

Der junge Seeoffizier, der – nachdem seine sämtlichen Vorgesetzten das sinkende Schiff bereits verlassen haben – nach kurzem Zögern ebenfalls noch ins Rettungsboot gesprungen ist, obwohl sämtliche Passagiere noch an Bord waren, musste damit rechnen, dass er die Entscheidung zu bleiben womöglich mit dem Leben bezahlen würde, und er musste seine Entscheidung schnell treffen, möglichst, bevor das Rettungsboot abgelegt hatte.

Eine solche Entscheidung ist nicht vergleichbar mit der Entscheidung darüber, ob man grundsätzlich lieber zur Miete oder lieber in einer Eigentumswohnung wohnen möchte. Zwischen Grundsatzentscheidungen und ihrer Durchführung liegen meist längere Zeiträume. Wäre also womöglich das Ergebnis des neurologischen Tests bei einer solch langfristigen Frage anders ausgefallen als bei der tatsächlich gestellten?

Tatsache ist, dass je größer der Druck, desto reflexartiger die Reaktion. Die Übergänge zwischen Reflex und bewusster Entscheidung sind deshalb fließend. Auch die Frage, ob jemand in seinem Leben bereits mit einer ähnlichen Situation konfrontiert war oder nicht, könnte eine Rolle spielen. Folglich dürften wohl mehrere Versuchsketten unterschiedlichen Aufbaus nötig sein, um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erzielen.

Unterm Strich:

Grays Absicht, den Humanismus zu demontieren, hat irgendwie nicht so richtig funktioniert. Das liegt nicht nur daran, dass er sich wie oben dargelegt selbst widerspricht oder die Beweise für seine Thesen einer kritischen Überprüfung nicht standhalten. Es kommt auch daher, dass er teilweise Aspekte angreift, die längst überholt sind.
Dass Descartes Tiere für nicht denkfähig hielt, ist kein Wunder, denn damals wusste die Forschung kaum etwas von dem, was sie heute über Tiere weiß. Dies dem Humanismus als Ganzem vorzuwerfen, klingt etwas kleinlich. Ähnliches gilt für Grays Kritik an Kant. Ich bin zwar kein Kenner zeitgenössischer Humanisten. Aber da nicht einmal meine vierzehnjährige Tochter daran glaubt, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist oder sich irgendwann zu einem vollkommen guten und edlen Wesen entwickeln wird, können wir, denke ich, auch diesen Punkt als veraltet abhaken.

Grays Aussagen zur Drogenproblematik wiederum zeugen von genau der Ignoranz, die er anderen Zeitgenossen vorwirft. Seine Äußerung in Bezug auf China läßt den geschichtlichen Kontext völlig außer Acht, und wer über die Antidrogenbemühungen der USA von „puritanischem Krieg gegen den Genuss“ spricht, hat noch keinen Heroinsüchtigen elendiglich verrecken sehen. Dass Legalisierung zwar die Gewinne der Drogenbosse, aber nicht die Zahl der Drogentoten verringert, ist ihm offenbar ebenso entgangen wie die Tatsache, dass Legalisierung auch eine strafrechtliche Verfolgung verhindert.

Für besonders destruktiv halte ich jedoch seine These über die Verantwortlichkeit des Menschen. Die Diskussion darüber, wie viel Einfluss Gene, Kultur und soziales Umfeld auf das Leben eines Menschen haben, ist ja nicht neu. Wozu wird es wohl führen, wenn wir das Argument der „schlimmen Kindheit“ auch noch mit einem mauen neurologischen „Beweis nicht-bewusster Entscheidung“ unterstützen? Müssen dann die Eltern in den Knast, weil sie mit der Geburt ihres Kindes einen Menschen in die Welt gesetzt haben, dessen Gene ihn zum Mörder programmierten? Zahlt dann der Staat Entschädigung an die Opfer, weil er nicht in der Lage war, den sozialen Brennpunkt auszumerzen, in dem der spätere Täter gezwungen war aufzuwachsen? Oder schaffen wir die Justiz gleich ganz ab, weil ja eh keiner was für irgendwas kann, und es deshalb keinen Schuldigen zu bestrafen gibt? Eigentlich können wir die Ethik dann auch gleich mit abschaffen. Denn wenn wir eh nichts von dem vermeiden können, was wir tun, brauchen wir auch nicht darüber nachzudenken, ob es gut oder schlecht ist.

Das wäre offenbar tatsächlich Grays Ideal für menschliche Lebensführung: überhaupt nicht nachzudenken, sondern stets rein instinktiv zu handeln. Der Autor selbst stellt allerdings fest, dass dies dem Mensch nicht mehr möglich ist, weil er sich bereits zu weit davon entfernt hat. Mit der durchaus versöhnlich klingenden „Notlösung“, die er aufgrund der Unerreichbarkeit des Ideals vorschlägt – und die mich, nach all dem, was ich zuvor gelesen hatte, ehrlich überrascht hat – könnte ich dagegen gut leben. Dumm nur, dass wir uns nach Meinung des Autors gar nicht dafür entscheiden können, so zu leben, weil wir ja keine Willensfreiheit besitzen. Insofern war das ganze Buch eigentlich völlig für die Katz! Fast könnte Gray mir leidtun.

Taschenbuch 245 Seiten
Orininaltitel: Straw Dogs – Thoughts of Humans and Other Animals
Aus dem Englischen von Alain Kleinschmied
ISBN-13: 978-3423347266

www.dtv.de

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