Schon einmal im Hafen mit der Galionsfigur eines Handelsschiffes gesprochen? Schlimmer noch, hat sie sich bewegt und geantwortet? Wird es Zeit, geistigen Getränken völlig zu entsagen?
Keine Panik, alles ganz normal. Zumindest in Bingtown.
Solche Dinge, die man gewöhnlicherweise als unter Alkoholeinfluss enstandenes Seemannsgarn abtun würde, sind dort Realität: Die aus Hexenholz gebauten Lebensschiffe der alteingesessenen Händlersippen sind im wahrsten Sinne des Wortes lebendig. Sie haben ihren eigenen Charakter, können sprechen und sich bewegen – sobald sie erwacht sind. Mindestens drei Angehörige einer Familie müssen auf den Planken eines Hexenholz-Schiffes versterben, um es mit Leben zu erfüllen. Hexenholzschiffe sind schneller, widerstandsfähiger und in nahezu jeder Beziehung gewöhnlichen Schiffen überlegen – welches normale Schiff könnte selbständig einer Sandbank ausweichen, wenn der Steuermann unachtsam ist?
Robin Hobbs Zauberschiffe-Trilogie (in der deutschen Fassung auf sechs Bände aufgeteilt) spielt im Süden derselben Welt, in der auch die bekanntere „Weitseher-Saga“229 um Fitz und seinen Wolf Nachtauge angesiedelt ist. Allerdings muss man diese nicht kennen, die beiden Zyklen haben nahezu nichts gemeinsam, um unbedenklich aus den unserem Mittelalter sehr ähnlichen „Sechs Provinzen“ in den wesentlich fantastischeren Süden zu wechseln – voller gerissener Händler, Magie, Piraten und riesigen Seeschlangen. Vor allem aber uralter Geheimnisse – das Hexenholz der lebenden Schiffe ist nur eines der vielen Rätsel der Küsten zwischen dem reichen und dekadenten Jamaillia, Bingtown, den Pirateninseln und den Sklavenmärkten von Chalced.
Nur die Lebensschiffe ermöglichen den Handel mit den Bewohnern des Regenwild-Flusses: In dieser unheimlichsten Gegend der verwunschenen Küste wächst das Hexenholz und es gibt dort noch unzählige weitere magische Artefakte, wie die feurig lodernden Flammjuwelen. Doch die Gegend ist ein verseuchter Dschungel, die Bewohner leiden unter furchtbaren Mutationen, ihre Lebensspanne ist gering und nur wenige Kinder überleben lange in dieser Wildnis. Der Weg in das Dickicht ist beschwerlich – und das ätzende Wasser des Flusses lässt gewöhnliche Schiffsplanken rasend schnell verrotten. Aber nicht Hexenholz. Aus diesem Grund existiert ein Pakt zwischen den Händlersippen Bingtowns und den Regenwild-Clans: Die Händler zahlen bis zum Erwachen des Zauberschiffs jährlich enorme Summen, die sich mit dem Erwachen noch erhöhen – erst dann wird das volle Potential ausgeschöpft, und trotz der generationenlang hohen Abgaben sind fast alle Händler Bingtowns, die ein Zauberschiff besitzen, steinreich geworden.
Die Händlerfamilie Vestrit steht vor einem wichtigen Ereignis: Das Familienoberhaupt, Kapitän Ephron Vestrit, liegt im Sterben. Das Erwachen des Zauberschiffes Viviace steht somit unmittelbar bevor, der erwartete Geldsegen ist bitter nötig. Da bis auf seine Töchter Keffria und Althea alle seine Kinder an der Blutpest gestorben sind, Keffria keine Seefahrerin und Althea noch zu jung ist, vererbt er seinem Schwiegersohn Kyle Haven die Viviace. Geplant war, dass Althea die Viviace erbt – denn nur ein Familienmitglied hat die nötige enge Bindung zu dem Zauberschiff. Kyle entpuppt sich jedoch als Tyrann, die respektlose Art Altheas passt ihm nicht, er lässt seinen Sohn Wintrow aus dem Kloster holen, als halber Vestrit soll er die Viviace bei Laune halten. Doch der zierliche Wintrow ist kein Seemann, er ist ein frommer Priesteradept und hinter Klostermauern aufgewachsen, er ist seinem Vater eine ständige Enttäuschung. Dieser fühlt sich jetzt als Familienoberhaupt des Clans und wünscht, dass alles genau so läuft, wie er es sich denkt. Die in seinen Augen ungehobelte Althea braucht in seinen Augen ein strengeres Regiment, was ihr Vater versäumt hat, und Wintrow will er auch noch zu einem „echten“ Mann nach seinem Ideal machen. Wenigstens will er seinen Erben nicht wie Althea reich verheiraten. Diese überwirft sich mit ihm und ihrer Familie, gekränkt, dass nicht sie als Erbin eingesetzt wurde, und läuft davon, sie will sich als Seemann beweisen und später ihre Ansprüche auf das Schiff vor dem Händlerkonzil geltend machen. Der sensible Wintrow wird derweil von den rauhen Matrosen schikaniert und bemüht sich, die gerade zum Leben erwachte Viviace zu betreuen, der die Stimmung an Bord nicht entgeht…
Die ist nur ein verschwindend kleiner Teil der Handlung des ersten Buches von satten sechs, keines davon unter 412 Seiten! Auffallend ist: Hier gibt es keine Bedrohung, keinen Feind, der einen klaren und klassischen Fantasy-Handlungsrahmen abstecken würde. Vielmehr entführt Hobb den Leser in eine fremde und faszinierende Welt. Je mehr man liest, desto mehr Details offenbaren sich dem Leser – neue Personen, neue Geheimnisse. Selbst nachdem man die ersten vier Bücher gelesen hat, sind noch nicht alle Möglichkeiten ausgereizt, immer neue Handlungsstränge werden erschaffen und mit einem unerwarteten Verlauf und der Auflösung vieler Geheimnisse versüßt. War das Ende von Hobbs Weitseher-Trilogie wenig überzeugend, legen die Zauberschiffe einen geradezu genialen Endspurt hin, der den Leser mit der wohldurchdachten und – wieder einmal – absolut fantastischen Auflösung und Zusammenführung vieler Geheimnisse und ihrer jeweiligen Handlungsebenen belohnt.
Stilistisch unterscheiden sich die Zauberschiffe deutlich von der Weitseher-Trilogie: Die zahlreichen Handlungsebenen mit ihren jeweiligen Akteuren werden nicht wie in der ausschließlich auf Fitz fokussierten Weitseher-Trilogie aus der Ich-Perspektive erzählt, dazu wechselt Hobb zu oft von einer Ebene und Person zur anderen, was in Verbindung mit der komplexen Handlung für zusätzliche Verwirrung sorgen würde. Allerdings ist es reizvoll, die Lage der Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen; denn jeder Charakter in diesem Buch hat seine eigene Sichtweise, die er glaubhaft vertritt und nach der er entsprechend handelt. Sogar der wohl am wenigsten gelungene Charakter, Kyle Haven, hat mit einigen seiner Ansichten hinsichtlich Altheas durchaus Recht – er ist aber ein wenig dazu verdammt, den Aufhänger für zahllose Probleme zu spielen. Die anderen Figuren überzeugen wesentlich mehr.
Eine zentrale Hauptfigur gibt es nicht, und einige Personen, denen man anfangs nur Nebenrollencharakter zubilligt, werden sich auf atemberaubende Weise entwickeln. Einige Beispiele gefällig?
Fernab der familiären Probleme der Vestrits geht der Pirat Kennit seinen ehrgeizigen Plänen nach: Er will aus der verlotterten Piratensiedlung Divvytown eine ordentliche Stadt machen, über die Pirateninseln herrschen wie ein König. Doch die Piraten – allesamt Verbrecher, Ausgestoßene, ehemalige Sklaven oder sonstige gescheiterte Existenzen – sehen keinerlei Veranlassung, ihre persönliche Freiheit irgend jemandem, warum auch immer, unterzuordnen. Dennoch gelingt es dem berechnenden und charmanten Kennit, nach und nach immer mehr auf seine Seite zu ziehen. Das Glück ist ihm hold, er kann jede Situation zu seinen Gunsten drehen oder entsprechend auslegen. Schamlos nützt er die bedingungslose Hingabe seines ersten Maats Sorcor, der ihn liebenden Hure Etta und die Verehrung seiner gesamten Crew aus, bis zu einen Grad, an dem er als Auserwählter des Gottes Sa angesehen wird – Kennit wird Gewaltiges erreichen, aber erst die letzten Bände werden Licht in seine düstere Vergangenheit bringen – bis zuletzt wird man im Unklaren gelassen, ob aus dem manipulierenden Piratenkapitän nicht doch die charmante Person werden kann, die er stets darstellt. Der Leser ist allzeit im Bilde über Kennits Charakter, aber Hobb beschreibt ihn bei allen seinen offensichtlichen Fehlern und Abscheulichkeiten so gut, dass man die Verehrung seiner Umwelt für ihn nachempfinden kann.
Die Tochter von Altheas Schwester Keffria, Malta Vestrit, ist in gewisser Weise absolut die Tochter ihres Vaters, Kyle Haven. Sie hat einige seiner abstoßenden Charakterzüge geerbt, ist aber deutlich raffinierter und deshalb auch erfolgreicher, wenn es darum geht, ihren Kopf durchzusetzen. Als pubertierende kleine Nervensäge entsetzt sie mit ihren amourösen Eskapaden ihre Familie, man kann förmlich mitleiden, später entwickelt sie sich zu der wichtigsten Person in Zusammenhang mit den Geheimnissen in der Regenwildnis und dem Hexenholz – und wird zu einer starken und bewundernswerten Persönlichkeit. Dasselbe gilt für ihren kleinen Bruder Selden, der ebenfalls erst spät an Bedeutung gewinnt.
Ein ungewöhnlicher Charakter ist der Paragon: Das Familienschiff der Ludlucks liegt auf dem Strand von Bingtown vertäut, denn niemand will mehr mit ihm segeln: Dreimal schon kam es kieloben nach Bingtown getrieben, die gesamte Crew tot oder vermisst. Das Schiff kenterte schwerbeladen in einem Sturm und zwei Ludlucks starben auf seinen Planken; Paragon erwachte in einem Horrorszenario und wurde verrückt. Dennoch wurde er wieder flottgemacht, zweimal wurde noch versucht mit ihm zu segeln, anfangs mit Erfolg, doch jedesmal endete es auf die gleiche Weise: Beim letzten Mal trieb Paragon erneut kieloben nach Bingtown, wo man feststellte, dass der Galionsfigur die Augen ausgehackt wurden und er sich noch wahnsinniger als zuvor gebärdete – mal wie ein wütender Krieger, dann wie ein kleines Kind. Paragon ist jedoch nicht nur aus diesen Gründen so eine gespaltene und wahnsinnige Persönlichkeit – düstere und brutale Geheimnisse umgeben ihn, blutige Handspuren und Blutflecken zieren sein Holz. Seine Vergangenheit ist faszinierend, er wird im weiteren Handlungsverlauf erneut in See stechen…
Maulkin und sein Knäuel (Gruppe) Seeschlangen haben ihre ganz eigenen Sorgen: Viele ihrer Artgenossen sind nicht viel mehr als wilde Tiere, sie warten auf ein Ereignis, das nicht eintritt. Maulkin ist verzweifelt: Ohne den Führer, der sich erinnert, droht ihnen dasselbe Schicksal. Seine eigene Erinnerung ist getrübt, zusammen mit anderen Seeschlangen sucht er nach ihrer Bestimmung, er nimmt die Fährte eines Hexenholzschiffes auf, aber irgendetwas stimmt nicht… Maulkin hatte etwas anderes als ein besonderes Schiff erwartet, das auf seine dringenden Anrufe und Bitten gar nicht oder nur verwirrt reagiert.
Die Vielzahl der Charaktere macht es unmöglich, alle aufzuzählen – die enterbte Althea Vestrit und der von seiner Familie aufgrund seiner Drogensucht und unzähliger anderer Missgriffe verstoßene Brashen Trell haben eine Romanze, wie sich bereits im ersten Roman andeutet, aber wie wird sie enden, wird Brashen sein Leben in den Griff kriegen und Althea ihre Viviace zurückerobern?
Einen interessanten Wandel gibt es, als Kennit die von Kyle Haven als Sklavenschiff missbrauchte Viviace aufbringt – er wird Wintrows Leben gravierend beeinflussen, aber wird sein Charme auch ausreichen, um mit oder ohne Wintrow das Lebenschiff unter seine Kontrolle zu bringen?
Die ersten beiden Bände stellen eine Art Einführung dar, der dritte und vierte Band bringen nicht nur mit Jamaillia und Chalced neue Lokalitäten und Personen ins Spiel, sondern lösen auch das Geheimnis der Seeschlangen – Kennit und Malta kommen hier auch erst so richtig zum Zug. Der fünfte Band ist ein ziemlicher Durchhänger und sehr langatmig, der sechste Band schließt den Zyklus mit Kennit und Paragon auf beeindruckende Weise ab. Aufmerksame Leser erkennen vielleicht in einer Figur den Narren aus der Weitseher-Trilogie wieder – dieser wird in deren Fortsetzung „Der lohfarbene Mann“ hinsichtlich der Seeschlangen noch einen draufsetzen, so viel sei versprochen.
Die Übersetzung von Wolfgang Thon ist tadellos, der einzige Lapsus ist, dass er im Gegensatz zu Eva Bauche-Eppers, welche die Weitseher-Trilogie in das Deutsche übertragen hat, „Six Duchies“ mit der wörtlicheren Übersetzung „Sechs Herzogtümer“ statt der von Eppers verwendeten „Sechs Provinzen“ übersetzt hat. Eine gute Entscheidung war, den englischen Namen „Vivacia“ in das für deutsche Zungen gefälligere „Viviace“ abzuändern. Einen weniger guten Eindruck hinterlässt das Lektorat: Besonders im dritten und vierten Band häufen sich Setzungsfehler. Die Klappentexte sind haarsträubend, offensichtliche Tippfehler, verschriebene Namen und falsche Zusammenhänge sorgen für ein falsches Bild der Serie. Die Titelbilder sind recht schön, wenngleich sie das Seefahrer-Flair nicht ganz so gut einfangen wie die drei Originalcover der US-Ausgabe.
Wer bereits über Leseerfahrung mit englischen Büchern verfügt, kann viel Geld sparen, wenn er die wesentlich günstiger zu erwerbenden US-Originale kauft: Bei der deutschen Fassung sind die Bände 1, 3 und 4 (Stand Mai 2004) nur als massiv überteuerte Books on Demand ohne Titelbild verfügbar. Hier bietet sich eBay an, um eine komplette Serie zu erhalten – der Preis rangiert bei Amazon.de von 11,00 EUR für die noch erhältlichen Ausgaben des Blanvalet-Verlages bis hin zu 22,50 EUR bei den Books on Demand. Das Original besteht aus nur drei Büchern, die mit jeweils ca. 6,99 EUR preislich deutlich günstiger sind!
Der Zauberschiffe-Zyklus / The Liveship Traders im Überblick:
Band 1: Der Ring der Händler (ISBN 3442249201)
Band 2: Viviaces Erwachen (ISBN 344224921X)
Band 3: Der blinde Krieger (ISBN 3442249228)
Band 4: Die Stunde des Piraten (ISBN 3442249333)
Band 5: Die vergessene Stadt (ISBN 3442249422)
Band 6: Herrscher der drei Reiche (ISBN 3442249430)
Das US-Original:
Band 1: Ship of Magic (ISBN 0553575635)
Band 2: Mad Ship (ISBN 0553575643)
Band 3: Ship of Destiny (ISBN 0553575651)
Die Nachteile dieser Serie liegen auf der Hand: Ein einzelnes Buch ist so unbefriedigend wie ein Tropfen Wasser auf dem heißen Stein. Wer ein abgeschlossenes Buch sucht, der wird keine Freude an diesem Zyklus haben. Die 3079 Seiten wenden sich an eine andere Zielgruppe, Fantasyleser, die exotische Szenarien und riesige, lebendige und entsprechend komplexe Welten lieben und auch mal etwas anderes als die üblichen Fantasy-Klischees à la Swords & Sorcery oder Heroic Fantasy serviert haben wollen. Robin Hobbs Welt voller interessanter Ideen und ihrer beeindruckenden Charaktere ist wunderschön – der einzige Mangel ist vielleicht, dass die Autorin stilistisch und erzählerisch zwar beeindruckend schreibt, aber auch bisweilen einfach viel zu langatmig ist. Die verwickelte und sich erst nach und nach entwickelnde Story mit ihren vielen parallel verlaufenden Handlungen ist in ihrem Umfang auch nicht gerade leicht zu überschauen. Für anspruchsvolle Fantasygourmets, die sich vor komplexen und umfangreichen Buchzyklen nicht scheuen, sind die „Zauberschiffe“ jedoch genau das Richtige!
Broschiert: 476 Seiten
www.randomhouse.de/Verlag/Blanvalet
www.robinhobb.com