Arthur W. Upfield – Wer war der zweite Mann?

Das geschieht:

Vor mehr als einem halben Jahrhundert ein großer Meteorit am glücklicherweise spärlich besiedelten Westrand der großen australischen Wüste einen gewaltigen Krater in die Erde geschlagen. Die Wissenschaft hat ihm den Namen „Wolf-Creek“ verliehen, aber die weniger Anwohner nennen ihn „Lucifer’s Couch“.

In diesem Krater liegt die Leiche eines Mannes. Er wurde erschlagen, der oder die Täter ist oder sind unbekannt. Niemand weiß, wie der Tote eigentlich an diesen Ort geraten ist. Es gibt keine Spuren, die zur Leiche hin und wieder weg führen.

Ein kriminalistisches Rätsel, das die örtliche Polizei, verkörpert vom tüchtigen aber nicht gerade kreativen Wachtmeister Howard, nicht lösen kann. In solchen Fällen ruft man oft den berühmten Inspektor Napoleon Bonaparte zu Hilfe. „Bony“, wie er kurz genannt wird, ist das Kind eines Siedlers und einer einheimischen Frau. Er kennt sich in weißen wie in der schwarzen Welt Australien aus.

Das ist auch dieses Mal von Bedeutung, denn die Aborigines der Gegend scheinen mehr über die Untat zu wissen als die Bewohner der nahe gelegenen Brentner-Farm. Häuptling Gup-Gup und Medizinmann Poppa lassen sich jedoch nur ungern vom weißen Mann verhören, der ihnen immer fremd geblieben ist und sie in „wilde Austral-Neger“ und „halb zivilisierte Abos“ einteilt, von denen er erstere am liebsten gar nicht und letztere höchstens in diversen Dienstbotentätigkeiten sieht.

Bony kennt die komplexe, ganz und gar nicht primitive Gesellschaftsstruktur und Glaubenswelt der Aborigines. Er allein kann Zugang zu ihnen finden. Das weiß auch der Mörder, der bald unruhig wird und Maßnahmen ergreift, seiner drohenden Entdeckung zu entgehen …

Die gewaltigste Mord-Kulisse der Welt

„Wer war der zweite Mann?“ präsentiert das vielleicht größte „Locked-Room“-Mordrätsel der gesamten Kriminalliteratur. Fast eine Meile im Durchmesser misst der Krater, den ein großer Meteorit geschlagen hat; ein natürliches Amphitheater, in dessen Mitte eine Leiche liegt, zu der keine Fuß- oder Radspur führt. Aus einem Flugzeug ist sie auch nicht gefallen. Wie kam sie also hierher?

Diese faszinierende Ausgangssituation wird mit der für Arthur W. Upfield typischen Konsequenz spannend entwickelt. Die Zahl der potenziellen Verdächtigen ist überschaubar, sie hegen ihre Geheimnisse, die nicht unbedingt mit diesem Mord zu tun haben aber gehütet werden wollen. Einer weiß mehr, als er verraten möchte in dieser seltsamen Landschaft, die viel vom Mond oder einem fernen Planeten hat.

„Lucifer’s Couch“ gibt es tatsächlich, und Upfield gehörte zu einem Team von Geologen, das den Krater in den 1940er Jahren untersuchte. Seine Ortskenntnis spricht aus jedem Satz. Vor dem geistigen Auge des Lesers nimmt die grandiose Kulisse Gestalt an. Hitze, grelles Sonnenlicht, Staub – man meint das alles bei der Lektüre zu spüren.

Welten prallen aufeinander

Dazu kommen Upfields Gespür und Wissen um die Bewohner dieser Öde. Man rühmt ihn heute als frühen Vertreter des ‚ethnologischen‘ Kriminalromans. Die Ureinwohner Australiens sind für ihn keine exotischen Statisten, keine tückischen Schurken oder fröhlichen Dummköpfe, sondern integraler Bestandteil des Landes, das sie Jahrtausende vor den weißen Siedlern betraten. Weil Australien ein merkwürdiges und gefährliches Pflaster ist, haben sie sich ihm in einem langen Prozess angepasst. Das lässt sie den neuen Herren des Kontinents fremd und daher verdächtig erscheinen – eine Quelle stetiger Missverständnisse, die Bony aus eigenem Erleben kennt.

Upfield schildert diesen besonders im Grenzland mühsam gewahrten Frieden, ohne ihn zu beschönigen, d. h. die Aborigines pauschal als ausgebeutete, edle Naturkinder hinzustellen. Sie sind auch nur Menschen mit dem üblichen Anteil von Widerlingen und Tröpfen.

Über die Beschäftigung mit den Aborigines gerät das Rätsel des unbekannten Toten lange in den Hintergrund; es wird von Upfield schließlich eher beiläufig gelöst. Man merkt, ihm sind in seiner Geschichte andere Aspekte wichtiger. Ob man sich seiner Sicht der Aborigines-Problematik anschließt, ist gar nicht so wichtig; interessant ist, dass sich hier schon früher ein Mann Gedanken um heikle Themen gemacht und begriffen hat, dass sie nicht nur existieren, sondern nur Schritt für Schritt und ohne Erfolgsgarantie zu lösen sind.

Kluger Mann mit albernem Namen

Aus dem gerade Gesagten erschließt sich die interessante Person bzw. Persönlichkeit des Napoleon Bonaparte. 1928 hat ihn Upfield erfunden und bis in die frühen 1960er Jahre Kriminalfälle lösen lassen. Das ist ein Zeitraum, der schwerlich als hohe Zeit der Rassenemanzipation bezeichnet werden kann. Bony ist ein ‚Mischling‘, was ihn eigentlich aus der weißen unf aus der schwarzen Welt ausschließen müsste. Stattdessen bewegt er sich gewandt in beiden: Bony ist ein Mann mit gesundem Selbstvertrauen. Er weiß um sein Können, er geht seine eigenen Wege, er tritt selbstbewusst auf. Selbst eingefleischte Kolonialherren – auf den riesigen Farmen Australiens kann sich der Besitzer leicht als König fühlen- bemerken sofort seine Ausstrahlung und bringen ihm Respekt entgegen, ohne dass dieser eingefordert werden muss.

Dennoch bleibt uns Bony immer ein wenig fremd. Er spricht nicht viel, er denkt ausgiebig und handelt anschließend. Wir müssen schon darauf warten, dass er sich bequemt, uns ins Licht zu setzen – oder eben nicht. Eine Vergangenheit hat Bony, ein Privatleben ebenfalls; irgendwo sitzt eine Familie, die ihn nicht gerade oft zu sehen bekommt. Er spricht nur in Andeutungen darüber, das ‚echte‘ Leben scheint für ihn der jeweilige Fall zu sein, in dem er völlig aufgeht. Wie ein Chamäleon verschmilzt er mit der Landschaft, in der er sich aufhält, widmet sich ihr und ihren Bewohner mit voller Aufmerksamkeit.

Gup-Gup und Poppa bzw. Captain und Tessa repräsentieren die beiden Seiten der modernen Aborigines-Welt. Erstere stehen für die traditionelle Stammeskultur und die Ferne zur weißen Zivilisation, die wenig Gutes über die ursprünglichen Australier gebracht hat. Letztere gehören zur ‚schwarzweißen‘ Fraktion der Aborigines, noch eingebunden in ihre jahrtausendealte Kultur, andererseits im 20. Jahrhundert (der Roman spielt um 1960) angekommen. Die daraus erwachsenden Schwierigkeiten kennt Bony selbst zur Genüge; sie werden hier ohne politisch korrekte, d. h. moralisierende Beschönigungen im Gewand des Kriminalromans durchgespielt.

Autor

Arthur William Upfield wurde 1888 im südenglischen Gosport geboren. Das schwarze Schaf seiner Familie wurde von dieser im Alter von zwanzig Jahren nach Australien ausgewandert. Dort bemühte sich Upfield nach Kräften, seinem Ruf als Taugenichts gerecht zu werden, und streifte als Gelegenheitsarbeiter durch die Weiten des Outback. Pelztierjäger war er, Schafzüchter, Goldsucher und Opalschürfer – ohne besonderen Erfolg dies alles, aber reich an Erfahrungen geworden, die Upfield ab 1929 in 28 Kriminalromanen um Inspektor Napoleon „Bony“ Bonaparte nutzen konnte.

Zu seinen Lebzeiten war Upfield erfolgreich, aber bei der Kritik nicht besonders hoch angesehen. Das änderte sich in seinen letzten Lebensjahren, in denen Upfield mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurde. Heute zählen Upfields Bony- Romane mit ihren grandiosen Landschaftsschilderungen und dem sichtlichen Hintergrundwissen über die Kultur der australischen Ureinwohner zu den Klassikern des ‚ethnologischen‘ Kriminalromans. Das mag zu der in Deutschland ansonsten eigentlich seltenen, für den Leser aber erfreulichen Tatsache beitragen, dass die „Bony“-Romane viele Jahrzehnten vom Goldmann-Verlag neu aufgelegt wurden.

An seinen zweiten Bony-Roman sollte Upfield übrigens noch lange denken. Er hatte Ende der 1920er Jahre auf einer Farm gearbeitet und dabei mit den Arbeitern des Feierabends ausgiebig über den perfekten Mord diskutiert. Die Lösung entsprach dem späteren Ende des Luke Marks. Als einer der Farmarbeiter 1932 in die Tat umsetzte, was er gelernt hatte (ohne freilich gründlich genug gearbeitet zu haben), wurde Upfield vor Gericht gestellt – man versuchte ihn wegen Beihilfe dranzukriegen, was jedoch nicht misslang. (Der eigentliche Schurke musste trotzdem hängen.)

Arthur W. Upfield starb 1964. Im Internet ist der Verfasser selbstverständlich trotzdem vertreten, so u. a. hier . Eine Upfield-Vita in deutscher Sprache bietet „kaliber38.de“, der die gerade geschilderte Episode entnommen wurde.

Taschenbuch: 192 Seiten
Originaltitel: The Will of the Tribe (London : Heinemann 1962)
Übersetzung: Heinz Otto
http://www.randomhouse.de/goldmann

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