Günther, Christian / Djurdjevic, Marko – Degenesis

|Die Gasmaske: Ein Symbol für die moderne Idee der Apokalypse. Dahinter schlummert der Schrecken eines alles verheerenden Weltenbrandes, so erlebt in zwei Weltkriegen. Kaum verwunderlich, dass die Gasmaske zu einer Ikone des Endzeit-Genres wurde. Das Endzeit-Rollenspiel „Degenesis“ macht da keine Ausnahme.|

Gasmasken wurden zum ersten Mal im Ersten Weltkrieg eingesetzt. Seitdem hat sich dieses Schutzinstrument zu einem ästhetischen Symbol fern seiner kriegstechnischen Bedeutung entwickelt. Als künstlerisches Mittel transportiert die Gasmaske Eindrücke von Hoffnungslosigkeit, Tod und Zerstörung. Ein Mensch, der eine Gasmaske trägt, wirkt entstellt und unmenschlich. Jeder ahnt: Das Ende ist nah. Hinter dem Symbol schlummern die Angst und der Schrecken eines alles verheerenden Weltenbrandes, so erlebt im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Beinahe mischt sich der Gasmaske eine religiöse Bedeutung bei. Humoristisch könnte das Gerät allenfalls von Monty Python eingesetzt werden. Die Gasmaske taugt als Symbol für die moderne Idee der Apokalypse. Kaum verwunderlich, dass sie zu einer Ikone des Endzeit-Genres wurde. Das Endzeit-Rollenspiel Degenesis bildet da keine Ausnahme. Die Welt hinter der Gasmaske – könnte ein Untertitel lauten.

Degenesis spielt in einer fünfhundert Jahre entfernten Zukunft. Weder Glaskuppeln noch Magnetschwebebahnen prägen die Landschaft. Kein hohes politisches Gremium sorgt für Frieden und Wohlstand auf der Welt. Die Zivilisation ist am Ende. Besser: Sie war am Ende. Sie ersteht gerade wieder neu aus der Asche des Weltenbrandes. Eine Reihe von Asteroiden schlug auf der Erde ein, seitdem herrschte Dunkelheit. Die neue Welt im 26. Jahrhundert gleicht einem Kaleidoskop menschlichen Elends. Die meisten Trümmer des Urvolks sind längst zu Staub zerfallen. Zwar versucht der Kult der Chronisten, die Vergangenheit anhand alter Artefakte zu rekonstruieren, doch ihr Bemühen gleicht einer Farce. Angesichts des täglichen Überlebenskampfes streiten sich die Kulte und Kulturen Europas lieber um die Tage, die da kommen werden, als um ihre Vergangenheit. Gekämpft wird mit rauen Methoden, es gilt das Recht des Stärkeren. Am Rande von Eis, Kratern und Urwäldern glänzt jenseits des Mittelmeeres das Reich Africa. Scheu klopft dort die Zivilisation wieder an die Pforten der Menschheit, erste neue Städte und Regierungen haben sich gebildet. Über all dem schwebt, bedrohlich und mysteriös, der Homo degenesis, eine kollektive Lebensform, die sich über Europa ausbreiten und alles in ihren Bann ziehen will.

Die _Entwicklung_ von Degenesis begann vor über sechs Jahren. In der Schublade von Christian Günther lagen die ersten Entwürfe für ein apokalyptisches Rollenspiel. Dunkel und skurril, glaubhaft und gut spielbar sollte es sein. Unter dem Titel „Endzeit-Europa“ waren erste Eindrücke im Internet zu bestaunen. Im Jahre 2001 gelang „Degenesis“ dann der Sprung in die Profi-Arena. Aus dem Fan-Projekt war ein erstes gedrucktes und im Fachhandel erhältliches Produkt geworden: Der Einsteigerband „Ein Stern wird fallen“ enthielt Kurzregeln und eine kleine Kampagne. Die Basis für eine Weiterentwicklung war gelegt. 2004 erschien schließlich das Grundregelwerk unter der Federführung von Christian Günther und Marko Djurdjevic. Optisch wie inhaltlich konnte das neue Spielsystem überzeugen. Inzwischen präsentiert der eigens gegründete Verlag |Sighpress| die zweite Auflage des Grundregelwerks von „Degenesis“. Im Jahr 2005 erschien das Quellenbuch „Justitian“. Weitere Hintergrundbände und Szenarien sind geplant.

Der _Aufbau_ des umfangreichen Grundbuches gliedert sich in vier große Kapitel. Unter „Primal Punk“ erlebt der Leser eine lebendige Einführung in die Welt von „Degenesis“. Er erfährt in groben Zügen, worum es geht und welche Völker (Kulturen) und Professionen (Kulte) es gibt. Dass an dieser Stelle noch nicht alle Geheimnisse gelüftet werden, ist ein Pluspunkt und fördert das Lesevergnügen. In dem zweiten Kapitel „KatharSys“ geht es etwas trockener zur Sache. Hier werden die grundsätzlichen Spielmechanismen erklärt: Charaktererschaffung, Würfelproben, Kampf, Charakterentwicklung und Heilung. Das dritte Kapitel „Almanach“ beschäftigt sich mit der verfügbaren Hardware: Drogen, Waffen, Munition und Fahrzeuge. Die Geheimnisse der Welt verbergen sich im vierten Kapitel „Sperrzone“. Hinzu kommen Informationen über Gegner, Psychonauten und Tipps für die Gestaltung eines Spielabends.

Die _Regeln_ von „Degenesis“ basieren auf zehnseitigen Würfeln (W10). Die Charaktererschaffung ist unkompliziert und dauert nicht länger als 30 Minuten. In einem Kaufsystem entscheidet der Spieler, welche angeborenen Attribute seiner Figur er fördern und welche erlernten Kenntnisse er steigern will. Hinzu kommen einige Daten zu Waffen, Rüstungen und Spezialisierungen. Damit ist der Charakter auch schon fertig und einsatzbereit. Besonders schön: Mit der regeltechnischen Entwicklung einer Figur geht auch die inhaltliche Ausarbeitung einher. So genannte Prinzipien (z. B. Einzelgänger, Gier oder Stolz) geben Richtlinien für das Rollenspiel der Figur an.

Die _Gestaltung_ von „Degenesis“ verdient besondere Erwähnung. Der schwarzweiße Band präsentiert detaillierte Darstellungen von Figuren und Gegenständen. Außerdem werden die Seiten immer wieder von archaischen Zeichen, Tintenklecksen und Brandspuren unterbrochen. Inhalt und Layout ergänzen sich so wechselseitig und verdichten die Atmosphäre beim Lesen.

„Degenesis“ beeindruckt mit Vielfalt, simplen Regeln und einer komplexen Welt, die auf mehreren Ebenen funktioniert. Das Grundbuch ist gleichermaßen ein spannendes Lesevergnügen als auch ein solides Rollenspiel. Die Autoren beweisen, dass das Endzeit-Genre unzählige mögliche Zugänge erlaubt und nicht so starr und einseitig ist, wie gemeinhin angenommen wird. Die Wahl fällt schwer, ob man seine Spielgruppe aus einem unterirdischen Bunker ans Tageslicht führen will, ob man sie bei einer Reise durch Europa auf die Psychonauten stoßen lässt oder ob man sie im Rahmen einer einzelnen Kultur in Abenteuer verstrickt. Wer ein Fantasy-Setting vermutet, das lediglich von rostigen Pistolen und Gasmasken durchdrungen ist, liegt falsch. Bei „Degenesis“ herrscht ein tolles Gleichgewicht zwischen archaischer Barbarei und Science-Fiction. Die durchgedrehten Ideen, die hinter den Psychonauten, den Sporen und den Erden-Chakren schlummern, bieten auch Rollenspiel-Veteranen Neues. Also: Gasmaske anlegen und los!

http://www.degenesis.de