Philip K. Dick – Eine andere Welt. Phantastischer Roman

Dieser Parallelwelt-Thriller leitete Dicks dritte und letzte Schaffensperiode ein. Er brachte ihm nicht nur hohe Bekanntheit, sondern auch die Verfolgung durch die US-Behörden ein.

Jason Taverner gehört zur genetisch gezüchteten Elite der Gesellschaft um 1988: Der Sänger und Unterhaltungskünstler tritt jede Woche im Fernsehen auf, um ein Millionenpublikum mitzureißen. Bis ihm sein Betthäschen eines Tages einen tödlichen Alien-Schwamm auf die Brust setzt und er ohnmächtig ins Krankenhaus eingeliefert wird. Er erwacht in einer ungewohnten Umgebung: einem schäbigen Hotelzimmer, neben ihm ein Haufen Geldscheine, und kein Mensch scheint ihn mehr zu kennen, auch seine Freundin nicht.

Taverner stellt allmählich fest, dass er sich in einer Parallelwelt befindet, die weitgehend identisch mit seiner bisherigen ist – mit ein paar bedeutenden Abweichungen: Die USA sind ein totalitärer Polizeistaat, in dem zynisch und skrupellos „durchgegriffen“ wird., wenn Ruhe und Ordnung gefährdet erscheinen, und in dem der Bürger entmündigt, total überwacht und der Willkür des Staatsapparates ausgesetzt ist. Dass Taverner keine Papiere hat, macht ihn auffällig.

Er besucht verschiedene Frauen, an die er sich noch erinnern zu können glaubt. Viele weisen ihn ab, doch das Mädchen Kathy besorgt ihm falsche Papiere. Sie ist moralisch indifferent charakterisiert: Sie handelt aus Liebe, arbeitet aber als Polizeispitzel. Sie unterscheidet nicht zwischen Gut und Böse.

Die Auflösung des Rätsels ergibt sich für Jason durch die Begegnung mit Alys Buckman, der Tochter des Polizeigenerals, der Taverners großer Gegenspieler ist. Alys kennt weder Mitleid noch Gnade, wohl aber Lust. Sie ist an Jasons Entführung in die Parallelwelt schuld. Doch wie gelangt er wieder zurück in seine eigene Realität?

Natürlich sind die Parallelen zur Nixon-Ära unübersehbar. Dieser Roman entstand zur Zeit der Watergate-Affäre. Es sei, so sagte Dick einmal, geradezu ein Wunder, dass die Nixon-Administration die demokratische Opposition nicht in die Luft gesprengt hätte.

Für Dick geht die Umwandlung eines freiheitlichen in einen Polizeistaat, der nur noch an „des Bürgers erste Pflicht“ denkt, heimlich in ganz kleinen Schritten und vom Einzelnen kaum bemerkt vonstatten. Nur das Kollektivbewusstsein des amerikanischen Volkes, glaubte Dick, konnte diesen Vorgang bemerken und Watergate aufdecken und Nixons System der Machtsicherung im Endeffekt beseitigen.

Doch die Behörden wussten, dass Philip K. Dick, der Autor der Romanvorlage zu „Blade Runner“, an einem Roman über Polizeiterror in den USA geschrieben hatte (er war schon 1970 fertiggestellt). Am 17.11.1971 fand Dick seine Wohnung durchsucht vor. Um einen Einbruch vorzutäuschen, hatte man – wahrscheinlich Beamte des FBI – sie verwüstet und Wertgegenstände entwendet. Das Manuskript hatten die Täter nicht gefunden. Es war wohlweislich bei einem Anwalt hinterlegt.

Eine polizeiliche Untersuchung des Falles verlief im Sande. Als der Roman bei Doubleday erschien, wurden 5000 Exemplare schnell verkauft, 2500 verschwanden spurlos und 236 bestellte die US-Army, um sie auf geheime Botschaften hin zu entschlüsseln. Der finanzielle Verlust durch die 2500 verschwundenen Bücher war für Dick beträchtlich.

In dem Roman geht es zentral um Liebe und wie sie und ihre Wahrheit auf Menschen unterschiedlich wirkt. Alys Buckman etwa kennt keine Liebe, wohl aber ihr Vater. Es ist aber keine erotische Liebe, sondern eine mystische, die weitaus mehr umfasst und weniger fassbar ist: „agape“ statt „eros“. Als des Polizisten Tränen fließen – so der O-Titel – erkennt und empfindet er „agape“.

Den vier Teilen des Romans sind Strophen aus John Dowlands Lautenstück „Lacrimae“ (ca. 1598; lat. >lacrimae< = Tränen) vorangestellt, wunderbare Verse, darunter „Fließt, meine Tränen, dem Quell entspringt!“ (Strophe 1). Davon ist der Originaltitel abgeleitet: „Flow my tears, the policeman said“.

Ist dies wirklich eine „andere Welt“, in die es Jason Taverner, den Top-Menschen, verschlägt? Sind wir nicht auch schon erfasst, kontrolliert, entpersönlicht und überwacht? Das Nachwort von Dick-Experte Uwe Anton bietet einige erhellende Aspekte zu diesem Thema.

„Eine andere Welt“ ist sehr gut und verständlich zu lesen; seine Thematik berührt im Grunde jeden Menschen hierzulande. Und es ist ein gelungenes, schönes und bewegendes Buch. In Dicks Werk nimmt es einen der wichtigsten Plätze ein.

Der Autor

Philip Kindred Dick (1928-1982) war einer der wichtigsten und zugleich ärmsten Science-Fiction-Schriftsteller seiner Zeit. Obwohl er fast 30 Jahre lang veröffentlichte (1953-1981), wurde ihm zu Lebzeiten nur geringe Anerkennung zuteil. Oder von der falschen Seite: Das FBI ließ einmal seine Wohnung nach dem Manuskript von „Flow my tears, the policeman said“ (dt. als „Die andere Welt“ bei Heyne) durchsuchen. Okay, das war unter Nixon. Er war mehrmals verheiratet und wieder geschieden, philosophisch, literarisch und musikologisch gebildet, gab sich aber wegen des Schreibstresses durchaus dem Konsum von Medikamenten und Rauschdrogen wie LSD hin – wohl nicht nur auf Erkenntnissuche wie 1967.

Er erlebte noch, wie Ridley Scott seinen Roman „Do androids dream of electric sheep?“ zu „Blade Runner“ umsetzte und ist kurz in einer Szene in „Total Recall“ (1982) zu sehen (auf der Marsschienenbahn). „Minority Report“ und „Impostor“ sind nicht die letzten Stories, die Hollywood verfilmt hat. Ben Affleck soll in naher Zukunft in einem John-Woo-Film namens „Paycheck“ auftreten, der auf einer Dick-Story beruht. Nachtra: Inzwischen verarbeitet eine ganze TV-Serie die wichtigsten von Dicks Kurzgeschichten.

Begraben ist der Autor neben seiner Schwester, die er nie kennenlernte. Es wird immer noch einem seiner frühen Manuskripte gefahndet, das bis heute verschollen ist…

Taschenbuch: 288 Seiten.
ISBN-13: ‎978-3453874039

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