Philip K. Dick – Das Orakel vom Berge (The Man in the High Castle)

Fälschung oder Wirklichkeit: die Lehre der Parallelwelt

Was wäre, wenn Deutschland und Japan den Zweiten Weltkrieg gewonnen und die USA unter sich aufgeteilt hätten? Und wenn es einen Roman gäbe, der eine Welt beschriebe, in der die Achsenmächte den Krieg verloren hätten? – Mit dieser Neuausgabe liegt der SF-Klassiker erstmals in ungekürzter Neuübersetzung vor. Außerdem stößt der Dick-Fan auf zwei Kapitel einer 1974 geschriebenen Fortsetzung, die man im Nachlass des Autors fand.

Der Autor

Philip Kindred Dick (1928-1982) war einer der wichtigsten und zugleich ärmsten Science-Fiction-Schriftsteller seiner Zeit. Obwohl er in fast 30 Jahren 40 Romane und über 100 Kurzgeschichten veröffentlichte (1953-1981), wurde ihm zu Lebzeiten nur geringe Anerkennung außerhalb der SF zuteil. Oder von der falschen Seite: Das FBI ließ einmal seine Wohnung nach dem Manuskript von „Flow my tears, the policeman said“ (dt. als [„Eine andere Welt“ 198 bei |Heyne|) durchsuchen. Okay, das war unter Nixon.

Er war mehrmals verheiratet und wieder geschieden, philosophisch, literarisch und musikologisch gebildet, gab sich aber wegen des Schreibstresses durchaus dem Konsum von Medikamenten und Rauschdrogen wie LSD hin – wohl nicht nur auf Erkenntnissuche wie 1967. Ab 1977 erlebte er einen ungeheuren Kreativitätsschub, der sich in der VALIS-Trilogie (1981, dt. bei |Heyne|) sowie umfangreichen Notizen (deutsch als „Auf der Suche nach VALIS“ in der Edition Phantasia) niederschlug.

Er erlebte noch, wie Ridley Scott seinen Roman „Do androids dream of electric sheep?“ zu [„Blade Runner“ 1663 umsetzte und ist kurz in einer Szene in „Total Recall“ (1982) zu sehen (auf der Marsschienenbahn). „Minority Report“ und „Impostor“ sind nicht die letzten Storys, die Hollywood verfilmt hat. Ben Affleck spielte in einem Thriller namens „Paycheck“ die Hauptfigur, der auf einer gleichnamigen Dick-Story beruht. Als nächste Verfilmung kommt „A scanner darkly“ (Der dunkle Schirm) im September in die Kinos, mit Keanu Reeves in der Hauptrolle.

Handlung

In San Francisco arbeitet Mr Nobusuke Tagomi als Chef der japanischen Handelsmission. Es ist ein verantwortungsvoller Posten, denn San Francisco ist der wichtigste Hafen der Pazifischen Staaten von Amerika, die von Japan 1947 erobert wurden. Es gibt zwar in Sacramento eine einheimische Regierung, aber die hat wenig zu sagen. Japan kontrolliert auch die weiter östlich liegenden Rocky-Mountain-Staaten (RMS), und dahinter erst kommen die Vereinigten Staaten (USA), die von den Deutschen beherrscht werden. In New York City regiert ein Nazi-Statthalter von Reichskanzler Martin Bormann. Adolf Hitler vegetiert, von der Syphilis zerfressen, in einem Heim vor sich hin.

Tagomi mag amerikanische Antiquitäten, denn er benötigt sie, um seinen zahlreichen Gästen ehrenvolle Geschenke machen zu können. Sein wertvollster Besitz ist ein einwandfrei funktionsfähiger Armee-Colt aus dem Jahr 1860. (Er wird ihn brauchen.) Tagomis bevorzugter Lieferant solcher antiken Schätze ist Robert Childan, ein Amerikaner, dem American Artistic Handicraft gehört. Childan bemüht sich sehr, es seinen wichtigsten Kunden, den Japanern, recht zu machen, aber er scheitert regelmäßig an seinem überholten Stolz und seinem Jähzorn.

Die Fälscher

Childan wiederum bezieht seine wichtigsten Artefakte von einer einheimischen Fabrik, bei der Frank Frink als Kopist von Vorlagen arbeitet. Frank ist ein in Deutschland unter dem Namen Fink geborener Jude. Sollte man ihn entdecken, droht ihm die Abschiebung ins Reich und dort die Vergasung. Immerhin gehören den Deutschen fast alle europäischen und asiatischen Länder, wo sie die Juden und anderen „Randgruppen“ vernichtet haben. Nun haben sie nach der Trockenlegung des Mittelmeers auch Afrika angegriffen – und stoßen dort wider Erwarten auf größte Schwierigkeiten.

Die Exterminierung der Schwarzen in KZs wird von den Japanern als äußerst unmoralisch angesehen, doch können ihre einstigen Kampfgenossen nicht mit Sanktionen drohen. Die Tatsache, dass deutsche Raumschiffe Mond, Mars und Venus ansteuern, nötigt ihnen Respekt ab. Die Deutschen sind den Japanern in technischer Hinsicht um etwa zehn Jahre voraus. Childan bewundert sie ein wenig, und das bringt Frank Frink, seinen Lieferanten, in Gefahr. Childan bewundert unwissentlich Frinks Werkstück einer Brosche und versucht, dieses echte Original – im Gegensatz zu den sonst von Frink gelieferten Fälschungen – an den Japaner zu bringen. Mit unterschiedlichem Erfolg.

Das Orakel

Frank Frinks Frau Juliana lebt in den Rocky-Mountain-Staaten, genauer gesagt: in Canyon City, Colorado. Dort arbeitet sie als Judolehrerin und lässt sich ab und zu mit Männern ein. Sie ist das typische Dick’sche „dunkelhaarige Mädchen“, dem nicht ganz zu trauen ist. Aber sie vertraut wie Frank, Childan und Tagomi (und der Autor) auf die Weissagungen des 5000 Jahre alten chinesischen Orakels „I Ging“. Man wirft Münzen und legt Schafgarbestängel, die dann ein Zeichen ergeben, welches mit Hilfe von zwei Büchern interpretiert wird. Es gibt natürlich förderliche und ungünstige Orakel. An diesem Morgen liest Mr. Tagomi zu seinem Schrecken, dass eine umwälzende Änderung in seinem Leben eintreten wird …

Der Spion

Ein gewisser Mr. Baynes hat sich angemeldet. Er kommt aus Berlin und gibt sich als schwedischer Spritzgussfabrikant aus. Doch die japanische Abwehr informiert Tagomi, dass er in Wahrheit ein gewisser Rudolf Wegener von der deutschen Abwehr unter Admiral Canaris sei. Mit der Lufthansa-Rakete ist Baynes in weniger als einer Stunde in San Francisco. Er ahnt nicht, dass ihm die SS Reinhard Heydrichs bereits auf den Fersen ist. Auch die deutsche Polizei in San Francisco wird von dem potenziellen Überläufer informiert, und der Konsul Reiss sieht sich binnen vierzehn Tagen gezwungen, der SS freie Hand zu geben.

Doch vorerst ist es nicht soweit: Reichskanzler Martin Bormann ist gestorben und ein Machtkampf um die Nachfolge beginnt. Heydrich kämpft gegen Goebbels, Feldmarschall Göring und den schwachen Baldur von Schirach. Schon bald bringt Goebbels mit einer fulminanten Rede die Volksmeinung auf seine Seite und verhaftet Schirach, während Göring und Heydrich sich bei ihrer jeweiligen Hausmacht verstecken.

Diese Übergangszeit will Baynes ausnutzen, doch der Kontakt mit General Tedeki von den japanischen Heimatinseln kommt lange nicht zustande. Mr. Tagomi, der den Kontakt in seinem Haus ermöglichen soll, wird zunehmend ungehaltener, während Baynes’ Lage allmählich gefährdeter wird. Schon hat die deutsche Polizei Frank Frink verhaften lassen, und seine Frau Juliana lernt in dem angeblichen Fernfahrer Joe Cinadella einen verkappten Attentäter des deutschen Sicherheitsdienstes (SD) kennen.

Der Alte vom Berge

Juliana ist völlig fasziniert von dem Roman „Die Plage der Heuschrecke“ (O-Titel: The Grasshopper Lies Heavy“), den Joe in seinem Gepäck hat. Allein dieser Umstand ist sonderbar: Das Buch ist aufgrund seines subversiven Inhalts in den deutschen USA verboten, und von dort kommt Joe. Nur in den japanisch kontrollierten Gebieten, den PSA und den RMS, ist es frei erhältlich.

Der Roman wurde von einem Amerikaner namens Hawthorne Abendsen geschrieben, der in Cheyenne, Wyoming lebt. Er ist deshalb in den USA verboten, weil er eine Gegenwart schildert, in der die Achsenmächte Deutschland, Japan und Italien den 2. Weltkrieg verloren und die Briten, Russen und Amerikaner die Welt unter sich aufgeteilt haben.

Doch in Julianas Welt haben die deutschen Truppen unter Rommel die Briten bei Kairo geschlagen und auch auf der Insel die britische Luftwaffe bezwungen. Infolgedessen mussten die Briten kapitulieren. Die Amis kamen ihnen überhaupt nicht zu Hilfe, weil zuvor Franklin D. Roosevelt gestorben und ihm ein wachsweicher Präsident gefolgt war. Dieser hatte den deutschen Ansprüchen nichts entgegenzusetzen, denn der Westen des Kontinents wurde bereits von den Japanern erobert.

Juliana ist von dem Buch nicht nur fasziniert, sie ist absolut begeistert, schildert es doch eine Welt, in der es für sie und die Juden, wie Frank, noch Hoffnung gibt. Sie bewegt Joe dazu, mit ihr nach Denver zu fahren, um sich fein einzukleiden. Doch als er darauf besteht, noch am gleichen Abend von Denver nach Cheyenne zu fahren, wird sie misstrauisch. Sie soll für Joe die Doppelagentin spielen, damit er sich dem Autor Abendsen nähern kann. Denn Abendsen, so heißt es, stehe auf „dunkelhaarige Mädchen mit einer gewissen Aura“. Als Juliana endlich merkt, was Joe in Wahrheit vorhat, handelt sie schnell, impulsiv und tödlich.

Showdown 1: In San Francisco

… spitzt sich die Lage zu. Frank Frink sitzt bereits in deutscher Haft, und ein Killertrupp sucht Baynes. Endlich meldet sich General Tedeki, und Mr. Tagomi lässt Mr. Baynes alias Wegener kommen. Die Unterredung ist für ihn sehr überraschend: Wegener behauptet, die deutsche Regierung wolle zunächst einen Grenzstreit in den Rocky-Mountain-Staaten inszenieren, um die Japaner vom Hauptstoß abzulenken. Währenddessen richte sie ihre Atomraketen mit den H-Bomben bereits auf die japanischen Heimatinseln. Die Beweise dafür hat Wegener dabei. Tedeki weiß schon, wen er in Wahrheit vor sich hat und ist geneigt, Wegener Glauben zu schenken.

Da dringen die Attentäter der deutschen Geheimpolizei in die Kaiserliche Handelsmission ein. Mr. Tagomi ist vorgewarnt und zielt mit seinem von Frank Frink gefälschten amerikanischen Armee-Colt „anno 1860“ auf die Tür…

Mein Eindruck

Es gibt viele bemerkenswerte Figuren in Dicks vierundvierzig Romanen und über hundert Kurzgeschichten, doch keine ist so sympathisch, tief und „gerundet“ (im Foster’schen Sinne) wie Mr. Nobusuke Tagomi. Er steht vor bemerkenswerten moralischen Entscheidungen, nicht nur wegen „Mr. Baynes“/Wegener, sondern an einer Stelle auch wegen Frank Frink, den er an die Deutschen ausliefern soll. Er weigert sich kurzerhand. Und was mit Baynes/Wegener geschieht, darf hier nicht verraten werden.

Wie alle vier Hauptfiguren scheint er sein eigenes Leben ganz separat zu führen, aber das stimmt nicht. Es gibt, mehr oder weniger zufällig, viele Berührungspunkte mit den drei anderen. Childan ist ein direkter Kontakt, Frink ein indirekter und über Frink zu dessen Frau Juliana. Zwei verbinden sie: wie gesagt das „Buch der Wandlungen, I Ching“ und zweitens der Roman des „Mannes in der Festung“: „Die Plage der Heuschrecke“. Also weiß auch Mr. Tagomi, dass es eine Parallelwelt geben könnte und dass es eine Alternative zu dem gibt, was wir vorfinden. Wir müssten nur unsere Augen öffnen, auch im moralischen Sinne.

Und als einer der Wenigen tut Mr. Tagomi dies. An einer eindrucksvollen Stelle hat er, als er schon recht übermüdet ist, eine Vision von einem riesigen Freeway, der sich ÜBER den Hochhäusern und Straßen San Franciscos erhebt. Jemand erklärt ihm, um was es sich handelt: angeblich um den „Embarcadero-Freeway“. Tagomi ist so erschrocken über diese architektonische Ungeheuerlichkeit, dass er schnell nach Hause eilt. Sein Schrecken hat eine Parallele in seinem Horror und Widerwillen vor den Aktionen der Nazis in seinem Herrschaftsbereich. Folglich wählt er die Alternative, die Baynes/Wegener und Frink das Leben retten wird. Wir können nicht anders, als ihn zu bewundern. Ganz besonders dann, wenn wir Amerikaner wären.

Das große Vorbild für seinen Roman fand Dick in Ward Moores Alternativweltroman „Der große Süden“ (Bring the Jubilee) von 1953. Darin haben die Südstaaten den Bürgerkrieg für sich entschieden, mit bemerkenswerten Folgen, die ein Schlaglicht auf unsere eigene Welt werfen. Genauso geht Dick auch in „Das Orakel vom Berge“ vor. Allerdings dringt hier kein Forscher zu einem Geheimnis vor, sondern alles ist bereits fix und fertig beschrieben: Es ist die Fiktion in der Fiktion, die als „Die Plage der Heuschrecke“ von fast allen Figuren gelesen wird.

Die darin geschilderte Parallelwelt unterscheidet sich von unserer in vielfältiger Hinsicht, so dass auch wir die Lektüre interessant finden würden. Wir bekommen immer nur Auszüge daraus vorgelesen, meist von Juliana. Diese Perspektive ist wichtig: Nur so wird die Fiktion in der Fiktion als notwendig und folgenreich erkennbar. (Norman Spinrad ist in seinem satirischen Parallelweltroman „Der stählerne Traum“ anders vorgegangen: Er präsentierte die Fiktion in der Fiktion en bloc – und wurde dafür fünf Jahre lang auf den deutschen Index gesetzt!)

Der Schluss

Es gibt zahlreiche bewegende Momente im Roman. So hat beispielsweise auch Robert Childan eine Art kulturelle Erleuchtung, die ich äußerst spannend zu lesen fand. Aber es gibt eine Schwäche des Buches, die umso bedauerlicher ist, als sie den Schluss betrifft.

VORSICHT, SPOILER!

Juliana ist in Howard Abendsens Schriftsteller-Party geplatzt, um ihm diejenige Frage zu stellen, die sie am dringendsten beschäftigt: Gibt es die Parallelwelt, die er in seinem Buch beschreibt, wirklich? Wie immer an einem Knotenpunkt in der Handlung, wird auch diesmal das Orakel befragt. Statt aber nun ein reizvolles Spiel von Spiegeln und Widerspiegeln zwischen Fiktion und historischer Realität zu erschaffen, mündet der Orakelspruch in einen unaufgelösten (weiteren) Konflikt.

Das Zeichen Dschung Fu bedeutet „Innere Wahrheit“ und Abendsens bestätigt, dass sein Buch tatsächlich eine Welt beschreibt, in der Deutschland und Japan den Krieg verloren haben. Aber ist er auch bereit, daran zu glauben? Nein, er weigert sich, das zuzugeben. Und Juliana muss unverrichteter Dinge wieder nach Hause, in eine Welt, die hoffentlich „hell und lebendig“ ist.

Der Abschied von Abendsen und seiner Frau ist eine krampfhafte Übung in Höflichkeit. Ein Sieg der Banalität des Alltags. Vielleicht war es Dick wichtiger, an die Realität zu erinnern, in der wir uns alle wie Gefangene aufhalten und zurechtfinden müssen, als wie der große Zampano eine ewige Wahrheit zu verkünden.

SPOILER ENDE

Die Fortsetzung von 1974

1956 fliegt Hermann Göring ins „Gau Virginia“ und erfährt durch Abwehrchef Admiral Canaris von der Parallelwelt, die in Hawthorne Abendsens Roman beschrieben wird. Den Deutschen ist es gelungen, einen Erkundungstrupp hinüberzuschicken. Doch Göring scheut sich, deswegen etwas zu unternehmen. Unterdessen ist Reinhard Heydrich stark an der Mitarbeit von Wegener interessiert, den er direkt vom Flugplatz hat herschaffen lassen: in die Zentrale des allmächtigen SD. Wegener weigert sich, aber wer weiß, wie lange er das noch durchhalten kann.

Dick las in den fünfziger Jahren SS-Unterlagen im deutschen Original. Diese wurden an der Universität von Berkeley aufbewahrt. Er wusste über die Nazis sehr gut Bescheid, so dass deren Vertreter in seinem Roman völlig glaubwürdig wirken – wenn auch genauso durchgeknallt wie im wirklichen Leben. Der Grund dafür ist der (wie Sutin ausführt), dass sie die Beweger der Geschichte zu sein glauben und nicht deren Opfer. Dadurch erheben sie sich in eine gottähnliche Position, ohne allerdings unterscheiden zu können, wo der Mensch aufhört und die Gottheit beginnt. „Der Gott hat den Menschen verschlungen“, schreibt Sutin, nicht umgekehrt. Infolgedessen erscheinen sie ihren Zeitgenossen als größenwahnsinnig: Ihre Sünde ist die Hybris.

Dick wollte oder konnte 1974 nur diese zwei (erhaltenen) Kapitel schreiben. Seine auf Band aufgenommenen Skizzen hat er nicht umgesetzt. Wahrscheinlich hat ihm der Nazi-Horror vollauf gereicht. So plante er beispielsweise, Abendsen von den Nazis foltern zu lassen. Dies müssen wir nun nicht mehr ertragen. Das Vorwort von Wolfgang Jeschke bestätigt, dass die Fortsetzung den Roman nur entwertet hätte.

Das Vorwort von Kim Stanley Robinson

Robinson, selbst ein profilierter und vielfach ausgezeichneter SF-Schriftsteller, zeichnet in seinem Vorwort, das seinem Buch über Dicks Romane entstammt, ein kluges und kenntnisreiches Porträt der Entstehung des Romans und seiner inneren Architektur. Unter den Romanen Dicks ist es wohl das sympathischste und gelungenste Buch. Jenes, das dem Mainstream als Science-Fiction am nächsten kommt. Leider wurde es vom zeitgenössischen Mainstream fast komplett ignoriert. Dafür erhielt Dick aber von der SF-Gemeinde eine der höchsten Ehrungen überreicht: den Hugo Gernsback Award 1962.

Unterm Strich

Es gibt nur eine Hand voll Science-Fiction-Romane, die für einen Leser von Mainstream-Literatur – also alles von Joyce bis Kafka – so zufrieden stellend zu lesen sind wie „Das Orakel vom Berge“. In der gleichen Liga aus dieser Zeit spielen noch Ward Moores „Der große Süden“ und vor allem „Lobgesang auf Leibowitz“ von Walter M. Miller jr.

Die geschilderte Welt mit alternativem Geschichtsverlauf wird vom Autor ernst genommen und in ihren zahlreichen Facetten ausgespielt, was leider auch die Auswirkungen der Naziherrschaft mit einschließt. Hier wird das Böse geradezu greifbar. Noch wichtiger ist das Auftreten der vier Hauptfiguren, die alle mit einem eigenen Schicksal versehen sind, das uns zunehmend interessiert. Juliana Frink und Mr. Tagomi sind die komplexesten Charaktere, denn sie müssen wichtige moralische Entscheidungen fällen. Die Folgen ihrer Entscheidungen können den Lauf der Geschichte betreffen, doch das wissen sie nicht, jedenfalls nicht allzu bewusst.

Faszinierend wird das Buch zunehmend durch die scheinbare Zufälligkeit der direkten und indirekten Begegnungen in einem wahren Spinnennetz von Beziehungen. Der Autor kannte das Netzwerk von Beziehungen aus seinem eigenen Leben. Für die Entscheidungen, die seine Figuren ausführten, befragte er selbst das I-Ching-Orakel. Für den Leser ist es von entscheidender Bedeutung, das Orakel ernst zu nehmen. Tut er dies nicht, fällt alles auseinander. Denn dann erscheinen alle Begegnungen, als wären sie vom Zufall herbeigeführt und hätten keine innere Logik oder Berechtigung. Könnte es auch in unserem Leben so sein, dass es eine verborgene Notwendigkeit gibt, selbst wenn wir kein Orakel befragen?

Bis auf den misslungenen Schluss ist der Roman nicht nur eine zufriedenstellende Lektüre, sondern auch eine menschlich wertvolle Erfahrung, die ein Leser wenigstens einmal in seinem Leben haben sollte.

Taschenbuch: 348 Seiten
Originaltitel: The man in the High Castle, 1962
Aus dem US-Englischen von Norbert Stöbe.
ISBN-13: 9783453164116

www.heyne.de

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