Kingsley Amis – Die Verwandlung

Alternativwelt-SF: Die Rettung der Testikel

Im Jahr 1976 AD herrscht die apostolische Kirche absolut über den Großteil der Welt, der sich von Irland bis Indochina erstreckt. Nur in Neuengland widerstehen protestantische Ketzer ihr und ihren Gesetzen. Der elfjährige Hubert Anvil ist der beste Sängerknabe, den man in England bislang gehört hat. Der Papst möchte, dass er in Rom für ihn singt. Allerdings will sich Hubert durch Flucht diesem Ruf entziehen und schafft es sogar an Bord eines Luftschiffes, das ihn nach Neuengland bringen soll …

Der Autor

Der 1922 geborene Anglistik-Gelehrte (1949 bis 1961 in Swansea) und Schriftsteller Kingsley Amis erschien 1954 mit seinem Roman „Lucky Jim“ als „angry young man“ auf der literarisch-gesellschaftlichen Bühne, schrieb etliche gute Romane, darunter auch Krimis, und endete als nationale Institution, als er 1990 zum Ritter geschlagen wurde. Sein Sohn ist der Schriftsteller Martin Amis.

Zwischen 1954 und 1990 tat Amis auch einiges für die Science-Fiction. Neben einigen Romanen schrieb er 1960 die einflussreiche, wenn auch einseitige Literaturgeschichte „New Maps of Hell“, in dem er die dystopische Seite der Science Fiction hervorhob, die bis dato nur als technikverliebt wahrgenommen worden war.

Zu seinen wichtigsten Romanen gehört „The Alteration“ (1976). Das Buch errang 1977 den John W. Campbell Memorial Award für den besten SF-Roman des Jahres. Weitere Romane sind „Russian Hide and Seek“ (1980, dt. Titel „Das Auge des Basilisken“ 1984 bei Heyne) und „The Green Man“ (1969).

Handlung

Man schreibt das Jahr 1976, aber in einer Welt, wie sie durchaus existieren könnte, jedoch nicht die geschichtlich bekannte Wirklichkeit geworden ist. Martin Luther nämlich ist in Rom zu Kreuze gekrochen; also fand die Reformation nicht statt. Statt dessen wurde er Papst Germanian I. Die apostolische Kirche hat die Welt fest in der Hand, in Europa ist ihre Herrschaft absolut, und nur in Amerika ist man etwas aufmüpfiger gegen den Papst und ein bisschen liberaler, was Wissenschaft und Technik betrifft. Es gibt dort nicht nur ketzerische Presbyterianer, sondern gerüchteweise sogar die anderswo verteufelte Elektrizität!

Doch es ist auch eine andere Kirche, als wir sie kennen, eine, die nicht herausgefordert und gedemütigt wurde. Sie ist die Mutter der Gläubigen, in deren weiten Gewandfalten ihrer Hierarchie auch Typen ihren Platz gefunden haben, die in unserer politischen Geschichte als Schurken linker oder rechter Provenienz Karriere machten, so etwa Himmler und Berlinguer.

Hubert

In dieser Alternativwelt lebt im London des ausgehenden 20. Jahrhunderts ein elfjähriger Junge namens Hubert Anvil, der über eine begnadete Stimme verfügt. Es ist nicht nur der Wunsch der Kirche, dass ihr diese Stimme zum Lobe Gottes erhalten bleibe, sondern auch das anderer Kastratensänger, die dank der Kirche rund und fett geworden sind. Ein Leben als Sänger würde ein Leben in Ruhm und Reichtum bedeuten, versichert man ihm, und sein Vater Tobias, ein Kaufmann, fühlt sich geehrt. Erst allmählich erkennt der junge Hubert, der in einem Benediktinerkloster bei Oxford lebt, die Tragweite dessen, was der gottgefällige Schritt für ihn bedeuten würde: die Kastration.

Er hat sich in Hilda, die Tochter des neuenglischen Botschafter Cornelius van den Haag, verliebt. Über körperliche Liebe weiß er ein wenig Bescheid, denn er hat dem Brauersohn des Klosters bei dessen Stelldicheins mit Mädchen zugesehen – heimlich natürlich. Aber er ist längst nicht so ausgebufft wie der Hauskaplan seines Vaters. Pater Lyall verführt nämlich Mrs. Margaret Anvil, und zwar aus äußerst niedrigen Beweggründen. Lyall hat mit seiner unerlässlichen Zustimmung zu Huberts Kastration einen Trumpf in die Hand bekommen, den er gewinnbringend einzusetzen gedenkt. Leider hat er sich verkalkuliert, was seine wahren Gegner anbelangt…

Schließlich lässt der Papst selbst nach Hubert rufen, und zusammen mit seinem Vater besteigt er einen Luxuszug, der ihn flugs nach Rom trägt. Der Heilige Vater, selbst ein Mann aus York, wünscht, dass Hubert der erste Sänger seines Chores werde. Wer könnte ihm diesen Wunsch abschlagen? Die beiden Anvils willigen ein. Doch dann folgen sie der Einladung der beiden Kastraten, die Hubert dem Papst empfohlen haben. Der Anblick der beiden fetten weibischen Typen bewirkt in Huberts Vater einen heftigen Sinneswandel. Solch ein schreckliches Schicksal hat sein Sohn nicht verdient. Was nun?

Den Nachstellungen der Kirchenoberen entzieht sich Hubert durch die Flucht in die Botschaft New Englands, von wo er in ein Luftschiff namens „Edgar Allan Poe“ (ein kriegsheld aus dem Mexikokrieg von 1848) geschmuggelt wird, das nach Neuengland fliegen soll. Dort nämlich florieren angeblich Demokratie, Protestantismus und moderne Technik (wie etwa die verbotene Elektrizität).

Aber schon im ersten Gespräch kommen ihm Zweifel: Die ‚aufgeschlossenen‘ Protestanten erweisen sich als gewöhnliche Rassisten, die ihm den Umgang mit den Ureinwohnern verbieten, welche sie wie Kinder behandeln, da sie „kleinere Gehirne als richtige Menschen“ hätten. Huberts Flucht war offenbar vergeblich. Da zwingt ein organisches Missgeschick seinen Lebensweg auf eine neue Spur …

Mein Eindruck

Der Roman schildert eine Welt, die in sich stimmig ist, auch wenn sie uns mit einigen „Unstimmigkeiten“ verwirrt. Hier hat die apostolische Kirche die Wissenschaft gnadenlos unterdrückt und die weltliche Obrigkeit in ihren Dienst gezwungen. Wer also – selten genug – nicht von den Kirchenvertretern bis in Schule und Familie beaufsichtigt wird, der wird garantiert von den Schergen der weltlichen Handlanger der Kirche belangt.

So ergeht es dem bedauernswerten Pater Lyall, sich weigert, ein der Kirche wichtiges Dokument zu unterschreiben, das Huberts „Veränderung“ erlauben würde. Dass der Geistliche gleich darauf Ehebruch in Serie begeht, wird ihm zum Verhängnis – er selbst wird „verändert“ und stirbt daran. Huberts erwachsener Bruder Anthony wird Zeuge seines blutigen Endes.

Verbotene Liebe

Pater Lyall begeht mit Margaret Anvill reihenweise Ehebruch, aber aus Liebe, wie er sagt. Und sie tut es aus ehrlicher Liebe zu diesem Mann, der so ganz anders ist als ihr kartenspielender Kaufmann, der sich „Familienoberhaupt“ schimpft. Zusammen verstößt dieses Liebespaar gegen etliche Gebote der Kirche, liefert aber zugleich einen – ketzerischen – Gegenentwurf zu den Unterdrückungsmechanismen der Kirche: Ihre Liebe zueinander befreit sie als Individuen, während sie sie als soziale Wesen in Lebensgefahr bringt. Etwas kann also nicht an ihren Lebensbedingungen stimmen: Ist es ihre Liebe oder die Gesellschaft, die diese verbietet? Die Antwort überlässt der Autor dem Leser.

Machtmenschen

Die Figuren der satirisch dargestellten römisch-katholischen Kirchenoberen sind zwar nahe an der Grenze zur Karikatur gezeichnet: Der Papst ist ein Mann aus Yorkshire, also aus der tiefsten Provinz. Und die „alemannischen“ Eunuchen Mirabilis und Viaventosa wollen Hubert unbedingt zu einem der Ihren machen. Aber Achtung: Der Papst ist als Machtmensch durchaus zum Völkermord an seinen eigenen Schäfchen bereit und fähig. Um die drohende Überbevölkerung abzuwenden, lässt er den Glaubenskrieg mit den Muslimen wiederaufflammen, um das völlig unbedeutende Bulgarien zu „befreien“. 30 Millionen Christen lassen ihr Leben, als die Mohammedaner bis nach Brüssel durchbrechen.

Verbotene Alternativen

In Huberts Kloster und anderswo gibt es verbotene Groschenromane über Erfindungen und Zeitreisen, so etwa „Das Orakel vom Berge“ von einem gewissen Philip K. Dick. Auch auf den ähnlich gelagerten Roman „Pavane oder die Ermordung Ihrer Majestät Königin Elisabeths I.“ seines Landsmanns Keith Roberts spielt Amis an. Hubert weiß also, dass es nicht nur einen anderen Geschichtsverlauf geben kann, sondern auch verbotene Erfindungen und Ideen. Das unterstreicht die Relativität des hier angebotenen Handlungsverlaufs. Und eine Laune der Natur verändert auch Huberts Schicksal.

Die Protestanten

Die Kritik an den Unarten der hier geschilderten apostolischen Kirche – Unterdrückung, Hirnwäsche, Völkermord – wird nur noch übertroffen von der ätzenden Satire, mit der der Autor die neuenglischen Protestanten bedenkt. Wenn sie keine importierten Schwarzen unterdrücken können, dann eben die Ureinwohner. Unter dem Eindruck des Vietnamkriegs geschrieben und 1976 nach dessen Ende veröffentlicht, erinnert „The Alteration“ auch an die Haltung der G.I.s gegenüber dem Vietkong und an Machos, die verächtlich auf Frauen herabsehen.

Das Nachwort

Franz Rottensteiner, der bekannte österreichische Herausgeber der „Phantastischen Bibliothek“ des Suhrkamp-Verlags, hat im Nachwort einige erhellende Worte gefunden. Er ordnet „Die Verwandlung“ in den Kanon der SF-Werke ein, die alternative Geschichtsverläufe schildern. Darunter sind Werke von Dick, Moore, Roberts und Basil („Wenn das der Führer wüsste“), aber Norman Spinrads indizierten Roman „Der stählerne Traum“ nennt er nicht.

Immerhin geht Rottensteiner auf die Vorzüge von „Die Verwandlung“ ein. Der Autor, so sagt er, schildere eine Gesellschaft, in der die Wissenschaft und der Zweifel am Glauben keinen Einfluss auf die Menschen gehabt haben, die in ihr leben. Sie hängen dem einzig wahren Glauben an – und versuchen mehr oder weniger danach zu leben. Die meisten sind im Grunde zufrieden mit ihrer Existenz, und sei sie, etwa als Kastrat, noch so ungewöhnlich. Sie sind meist mit sich im Reinen und kennen ihren Ort.

Es ist auch keine technisch rückständige Gesellschaft, denn es gibt Autos, Expresszüge, Gaslicht und Dieselmotoren (da diesen nicht auf elektrische Zündung angewiesen sind), in Neuengland noch dazu riesige Luftschiffe. Aber der Witz ist ja, dass diese Technik um Jahrhunderte der unseren hinterher hinkt. Das ist aber kein Nachteil für die gesellschaftliche Entwicklung, die sowieso nicht auf „Veränderung“ (im doppelten Sinne „alteration“) ausgerichtet ist. Der Skandal besteht – für uns – in der Anmaßung der absoluten Macht der Kirche: Der Papst lässt nicht nur kastrieren, um einen guten Sänger zu bekommen; er lässt auch Geheimexperimente anstellen, um die Bevölkerung zu dezimieren, was zu Missgeburten führt.

Die Übersetzung

Walter Brumm, ein Veteran unter den Übersetzern des Heyne-Verlags, hat sämtliche Fachbegriffe aus den unterschiedlichen Künsten (Gesang, Komposition) und Technologien (Energie, Luftfahrt usw.) einwandfrei übersetzt. Der Text liest sich flüssig und problemlos. Leider haben sich ein paar Druck- und Stilfehler eingeschlichen.

S. 60: „Ich sehe.“ Gemeint ist: „Ich verstehe.“ Das hätte Brumm auch schreiben können.

S. 159: „ein fabriges Hemd“ = „ein farbiges Hemd“

S. 169: „Sie wollen an mich machen, dass ich kein Mann werden kann.“ Es sollte „mir“ statt „mich“ heißen.

S. 174: „nach Eintritt der Fahrt“ sollte besser „nach Antritt der Fahrt“ oder „Eintritt der Fahrbewegung“ heißen.

S. 192: „waum“ statt „warum“

S. 248: „Valerianis Arten“ statt „Valerianis Arien“ (die Hubert singt)

Unterm Strich

„Die Verwandlung“ ist ein recht unterhaltsamer Roman, eher vergnüglich als schreckenerregend, eher abenteuerlich als actionreich. Sicher, es gibt das eine oder andere Abenteuer, das Hubert in London und auf der Landstraße zu bestehen hat, aber ingesamt meint es das Schicksal gut mit ihm. Und so nehmen wir eher Anteil an seinem Werdegang, an seinen geistig-moralischen Entdeckungen und Auseinandersetzungen.

Streckenweise liest sich das Buch wie ein Jugendroman, mit schlemischen Ausflügen zu verbotener lektüre und heimlichen Liebesszenen auf dem Lande. In den Szenen mit dem Liebespaar wirkt das Buch aber wie ein Erotikroman. Der Autor liebte es, seine Landsleute durch Erotik zu provozieren.

In „Die Verwandlung“ ist Erotik jedoch kein Selbstzweck, sondern der Urgrund, aus dem die Rebellion der Liebenden gegen die Unterdrückung erwächst, die ihnen die allgegenwärtige Kirche auferlegt. Lyall ist ja als Hauskaplan so etwas wie der Sittenwächter, der stets mit am Tisch der Familie sitzt, eine Art Blockwart. Als er diese Rolle ins Gegenteil verkehrt und quasi den Bock zum Gärtner im Garten der Liebe macht, tritt die weltliche Obrigkeit in Aktion, mit tödlicher Konsequenz. Jemand muss ihn verraten haben.

Ich habe „Die Verwandlung“ viel zu lange Jahre sträflich vernachlässigt. Es ist ein guter und intelligenter, eine einfallsreicher und mitfühlender Roman, der seine Figuren nicht verrät oder im Stich lässt. Aber die Geschichte verrät auch einen schwarzen Humor, der für etliche Ironien sorgt, so etwa das Schicksal von Abt Thynne, unter dem Hubert diente, und der nun ausgerechnet im heißen Madras Seiner Heiligkeit dienen darf.

Lesetipp

Keith Roberts: „Die Ermordung Ihrer Majestät Elisabeth I.“, auch „Pavane“.

Taschenbuch: 253 Seiten
Originaltitel: The Alteration (1976)
Aus dem Englischen übertragen von Walter Brumm
ISBN-13: 978-3453313101

www.heyne.de

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