McDevitt, Jack – Sanduhr Gottes, Die

Der Verlag hat dem Beginn der Geschichte eine Eloge anglo-amerikanischer Rezensionen vorangestellt, welche belegen sollen, dass das vorliegende Buch ein Meisterwerk ist. Wie immer sind die Lobeshymnen mehr oder weniger zutreffend. Vor allem Stephen King liegt wieder einmal völlig daneben, wenn er McDevitt als „wahren Erben von Isaac Asimov und Arthur C. Clarke“ anpreist, denn die von McDevitt erschaffenen Charaktere sind weder holzschnittartig noch flach wie Briefmarken, wie man dies von Asimov und (vor allem) von Clarke kennt. Richtig ist aber zweifellos, dass McDevitts neues Buch ein Meisterwerk ist, welches trotz der erschreckenden Länge von fast 700 Seiten auf nahezu allen Gebieten überzeugt.

So ist die Geschichte im naturwissenschaftlich-technischen Bereich hervorragend erdacht und wird vom Autor souverän und glaubwürdig umgesetzt. Bezüglich Spannungsgehalt, kreativer Ideen und packender Momente lässt sich „Deepsix“ wohl kaum noch übertreffen. Hinzu kommt die hinreißend abenteuerliche Atmosphäre, jener besondere |sense of wonder|, der manchmal und nur im günstigsten Fall der phantastischen Literatur innewohnt. |Last but not least| sind zudem die Protagonisten glaubwürdig, lebendig und überzeugend geraten, sodass der Leser keinerlei Mühe hat, sich mit ihnen zu identifizieren oder zumindest ihre Emotionen und Beweggründe nachzuvollziehen. Vor allem Letzteres versteht der Autor blendend. Die Schilderung des Charakters des berühmten Essayisten und Besserwissers Gregory MacAllister ist einfach superb. Schon nach wenigen sehr prägnanten Zeilen erschließt sich dem Leser ein kohärentes Bild eines zwar intelligenten, aber wenig mitfühlenden oder gar sozial engagierten Karrieristen, der sich durch freche (und teilweise ungerechte) Angriffe auf andere Menschen seine Berühmtheit erschrieben hat. Polarisieren gehört zu seinem Handwerk, welches er meisterhaft beherrscht. Doch dann findet sich dieser Mann unvermittelt und teilweise durch eigenes Verschulden auf einem dem Tode geweihten Planeten wieder und muss um sein eigenes und das Leben seiner Kameraden kämpfen, von denen einer ausgerechnet eines seiner ehemaligen Opfer ist.

Hier vielleicht kurz zur Handlung: Im Jahre 2204 besucht eine wissenschaftliche Expedition den erdähnlichen, allerdings zur Zeit unter einer Eiszeit leidenden Planeten Maleiva III. Die Mission scheitert und endet im Desaster. Nachdem einige Expeditionsmitglieder gestorben sind, flüchtet man, ohne die Welt näher erforscht zu haben und gibt dem ehemaligen Expeditionsleiter die Schuld am Scheitern. Erst knapp zwanzig Jahre später kehrt eine weitere Expedition zurück, denn Maleiva III wird in Kürze mit einem planetaren Gasriesen kollidieren und völlig zerstört werden. Fast zu spät wird man darauf aufmerksam, dass auf Maleiva einst eine intelligente Rasse gelebt haben muss, die aber durch die derzeitige Eiszeit wohl untergegangen zu sein scheint. Eilig fordert man eine Landefähre an, um noch einige Artefakte bergen zu können.

Ausgerechnet Priscilla Hutchins, genannt Hutch, ereilt der eilige Ruf, ist sie doch eigentlich Shuttlepilotin mit archäologischer Erfahrung und dem aufmerksamen Leser aus McDevitts tollem Roman „The Engines of God“ (dt. „Gottes Maschinen“, 1996) noch bestens in Erinnerung.

So landen Hutch und einige Helfer auf Maleiva III und merken bald, dass der Planet eine wahre Fundgrube ist. Kurz nach ihrer Ankunft erscheint noch eine zweite Landefähre, die zu einem großen Luxusraumschiff gehört, welches reiche Passagiere an Bord hat, die sich den Untergang des Planeten anschauen wollen. An Bord der Fähre befindet sich auch Gregory MacAllister, während an Bord von Hutchs Fähre der ehemalige Expeditionsleiter Randall Nightingale ist, der nun nach Jahren ausgerechnet und völlig zufällig auf jenen Planeten zurückkehrt, der dereinst seinen beruflichen und persönlichen Ruin verursachte.

Als bei einem Erdbeben beide Landefähren zerstört werden, sind Hutch, MacAllister, Nightingale und die anderen Überlebenden auf Maleiva III gefangen. Der Versuch, eine andere Landefähre zu organisieren, scheitert und so bleibt den Menschen nur eine letzte Chance: Eine Wanderung im Angesicht des Todes über den fremden und gefährlichen Planeten zu einer Landefähre, welche die erste Expedition vor 20 Jahren zurücklassen musste, und von der keiner weiß, ob sie überhaupt noch funktionsfähig ist…

So weit die überaus prickelnde Ausgangssituation von „Die Sanduhr Gottes“. Dem Autor gelingt es bis zum Ende hin fast mühelos, die Spannung aufrecht zu erhalten. Lediglich der letzte Rettungsversuch zieht sich gegen Ende der Geschichte etwas hin.

Neben den faszinierend lebendigen und glaubwürdigen Charakteren besticht vor allem die abenteuerliche Atmosphäre des Romans. Die vielfältigen Überraschungen, die Maleiva III zu bieten hat, machen dem Buch alle Ehre. Es spricht für den Autor, dass der Leser bis zum Ende daran zweifelt, ob die Rettung gelingt, denn ein Happy End scheint alles andere als selbstverständlich.

Während die Havarierten auf Maleiva III weilen, entdeckt man im Orbit ein künstliches Objekt, welches bald deutlich macht, dass es auf dem erdähnlichen Planeten eine Art Fahrstuhl in den Weltraum gegeben haben muss. Doch wie passt dies zu den ersten Funden Hutchs und ihrer Kollegen, die anzudeuten schienen, dass die einstigen intelligenten Bewohner des Planeten eine Kultur auf mittelalterlichem Niveau gehabt haben dürften?

Während die vielfältige und bunte Natur des Planeten rund um den nicht vereisten Äquator den Havarierten die Reise zur zurückgelassenen Landefähre zu einem gefährlichen Spießrutenlauf macht, werden immer neue Mysterien auf und rund um Maleiva II entdeckt.

Viel zu spät wird den Menschen klar, wie tragisch die Zerstörung des Planeten wirklich ist, welches Wissen verloren gehen wird. Dies ist die eigentliche Tragödie der vorliegenden Erzählung.

Während die Havarierten um ihr Überleben und um die Rückkehr in den Orbit kämpfen, gibt glücklicherweise das eine oder andere Mysterium sein Geheimnis preis. Dies hält den Leser nicht nur bei Laune, sondern macht das Buch definitiv zu einem wahrlich unvergleichlichen Lesegenuss.

Bezüglich Spannung und schmissigem Stil ist Jack McDevitt sowieso ein absoluter Meister seines Fachs, wie seine anderen, bisher alle bei Bastei Lübbe erschienenen Romane unter Beweis gestellt haben, auch wenn manchmal die Themenwahl des Autors eher unglücklich bzw. überraschungsarm erscheint. Nach drei ganz hervorragenden Romanen („Erstkontakt“, „Die Legende von Christopher Sim“ und „Gottes Maschinen“) schienen sich erste kreative Ermüdungserscheinungen beim Autor breit zu machen, war jedes folgende Buch etwas schlechter als das vorangegangene. Tiefpunkt war hier sicherlich „Mondsplitter“, ein eher langweiliger „Ziegelstein“ von Buch über den drohenden Aufschlag eines großen Kometen auf dem Mond. Erst mit „Spuren im Nichts“ zeigte die Niveaukurve des Autors wieder eindeutig nach oben.

Deshalb ist es um so erfreulicher, dass „Die Sanduhr Gottes“ diesen Trend fortsetzt und bestätigt, dass der Autor einer der genialsten zeitgenössischen SF-Abenteuer-Schriftsteller ist.

Betrachtet man die aktuellen Veröffentlichungen deutscher Verlage der letzten Jahre, so ist dieses Buch für alle Liebhaber abenteuerlicher Science-Fiction sogar so etwas wie eine wunderbare Oase in einer riesigen Wüste, denn seit dem Erscheinen von Mary Doria Russells hervorragenden (zusammengehörigen) Romanen „Sperling“ und „Gottes Kinder“ ist sicherlich kein dermaßen spannendes, abenteuerliches und rundum gelungenes Buch mehr im deutschen Sprachraum auf dem Gebiet der SF erschienen.

Dabei ist besonders bemerkenswert, dass der Autor keine Schwächen zu haben scheint (nimmt man einmal die eine oder andere Seite zu viel aus).

Stilistisch ist McDevitt nahezu perfekt, was sicherlich dank der hervorragenden Übersetzungsarbeit von Frauke Meier und einem guten Lektorat voll zur Geltung kommt, welches sich diesmal bemüht zu haben scheint, gravierende grammatische Fehler auszumerzen, nicht so wie dies z.B. im kürzlich erschienen „Die Narbe“ von China Miéville der Fall war.

Die Protagonisten des Autors sind ausgefeilt und es gelingt ihm, diese sich psychisch weiterentwickeln zu lassen. Selbst die geschilderten Nebenfiguren sind bestechend. Bestes Beispiel dafür ist der Kotzbrocken von Wissenschaftler, nach dem man den Gasriesen benannt hat und der vom Autor kurz eingeführt wird, obwohl dieser Protagonist zu Beginn der Haupthandlung bereits verstorben ist. Trotzdem nimmt sich McDevitt knapp eine Seite Zeit, um den Namenspatron des gewaltigen Planeten vorzustellen, und schüttelt dabei ein erschreckendes Psychoprofil aus dem Ärmel, welches über alle Maßen beeindruckend gerät. Wäre das vorliegende Buch ein Film, so könnte man mit Fug und Recht behaupten, es sei „bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt“.

Dies ist jedoch nur eine von unzähligen Stärken des Autors, die hier gar nicht alle detailliert gewürdigt werden können.

Egal ob die abenteuerliche Atmosphäre, die feine Idee des letzten Rettungsversuchs (hierfür wird sich der naturwissenschaftlich interessierte Leser begeistern können), die spannende Handlung, die eine Unmenge Höhepunkte hervorbringt (egal ob es eine Flutwelle, ein Erdbeben, angreifende Tiere oder ein abstürzender Fahrstuhl ist) oder die faszinierenden Entdeckungen über die Zivilisation auf Maleiva III, für jeden Leser hält der Autor etwas bereit, was ihn ansprechen könnte. McDevitt beherrscht jedes dieser Gebiete souverän und ist damit sicherlich eine absolute Ausnahmeerscheinung.

Dies wird auch deutlich, wenn man die positiven Rezensionen des Buches im anglo-amerikanischen Sprachraum betrachtet, die zu Beginn der Taschenbuchausgabe angeführt werden. Die Ausführungen des talentierten SF-Autor Robert J. Sawyer sprechen hier für sich.

„Deepsix“ / „Die Sanduhr Gottes“ darf sicherlich als Meilenstein der Unterhaltungs-SF angesehen werden und ist vielleicht der bisher in dieser Hinsicht beste SF-Roman des neuen Jahrtausends.

Bleibt nur zu hoffen, dass der Autor dieses Niveau konservieren kann.

Für Juli 2004 hat der Bastei-Lübbe-Verlag einen neuen Roman des Autors unter dem Titel „Chindi“ angekündigt, in dem erneut Priscilla „Hutch“ Hutchins die Protagonistin sein soll.

_Gunther Barnewald_ © 2004
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