Officer, Charles / Page, Jake – Entdeckung der Arktis, Die

Was sind das nur für seltsame Menschen, die es hinaufzieht in eine Welt, die etwa so einladend ist wie die Rückseite des Mondes? Tatsächlich gibt es weitaus angenehmere Reiseziele auf der guten Mutter Erde, doch wie so oft darf man die (Neu-)Gier ihrer angeblich vernunftbegabten Bewohner nicht unterschätzen: Wo es schwierig bis unmöglich ist hinzugelangen, muss es ganz besonders interessant sein!

Seit zweieinhalb Jahrtausenden (!) zieht es daher den Menschen in den Norden, der damals noch bevölkert war (oder wurde) mit allerlei finsteren Gottheiten, Ungeheuern und anderen ungeselligen Zeitgenossen. Lässt sich die Geschichte der Arktisforschung angesichts einer solchen gewaltigen Zeitspanne auf weniger als 300 Seiten zusammenfassen? Wie wir sehen werden, geht es; vorzüglich sogar, wenn hinter der Feder jemand sitzt, der sein Handwerk versteht.

Hier sind es sogar zwei Autoren, die sich den Lorbeer teilen dürfen. Die Wissenschaftsjournalisten Charles Officer und Jake Page profitieren nicht nur von den Ergebnissen einer kundigen Recherche, sondern mindestens ebenso von ihrer Bereitschaft und ihrer Fähigkeit, die Fakten zu ordnen und auszuwählen. Das Ergebnis ist eine Darstellung, die sich in eine Einleitung, eine Vorgeschichte, einen dreiteiligen Hauptteil, ein Nachwort und einen Ausblick gliedert, die Erkundung der Arktis klipp und klar und vor allem überzeugend nachzeichnet und überdies fabelhaft zu lesen ist.

Besagte Einleitung führt in die Natur der Arktis ein, stellt auf wenigen Seiten Informationen über Klima, Relief, Tierwelt oder Meeresströmungen vor, die zu ergründen es Jahrhunderte entsagungsvoller Forschungen bedurft hatte und für die unsere Entdeckungsreisenden der Vergangenheit ohne Zögern ihren rechten Arm gegeben hätten. Wer meint, Officers & Pages Blitzseminar rieche zu sehr nach Kreidestaub, führe sich nur die Schwierigkeiten der Reiseplanung in einem Land vor Augen, in dem am Pol die einzige Himmelsrichtung der Süden ist und die Sonne entweder ein halbes Jahr wie angenagelt am Firmament hängt (= Sommer) oder im Winter dieselbe Zeitspanne durch völlige Abwesenheit glänzt (bzw. eben nicht) …

Im zweite Teil ihres Buches beschreiben unsere Autoren die notgedrungen recht lückenhaft bleibende Vorgeschichte der eigentlichen Arktiserkundungen. Mit der Überlieferung ist es so eine Sache; Naturkatastrophen, Kriege und die übliche menschliche Gleichgültigkeit im Umgang mit dem, was längst Verblichene zusammengetragen haben, lassen die Rekonstruktion der ersten beiden Jahrtausende nur teilweise gelingen. Immerhin wissen wir von wagemutigen Phöniziern, neugierigen Griechen und raublustigen Nordmännern, und in Gestalt der Brüder Zeno aus Venedig treten uns bereits zwei typische Repräsentanten einer ganz besonderen Gruppe von Forschungsreisenden entgegen: die Aufschneider und Lügenbolde, die geschickt die einstige Unendlichkeit der Welt nutzten, um von gefährlichen Fahrten und ruhmreichen Abenteuern zu „berichten“, die sich ausschließlich in ihrem Hinterkopf abgespielt hatten. Die Zenos markieren eine lange Reihe verdächtiger Arktisreisen, die ihren Höhepunkt sogar erst im 20. Jahrhundert finden sollten, wie wir weiter unten noch feststellen werden.

Etwa ab 1500 wurde es ernst mit der Arktisforschung, als sich zum Wissensdurst handfeste wirtschaftliche und militärische Interessen gesellten, die mit mehr als einem Spritzer Patriotismus garniert wurden. Die Briten, die Russen und die Skandinavier suchten nach einer Nordostpassage von der Nordsee zum Pazifik, weil es verständlicherweise mühsam und zeitaufwändig war, erst den gesamten afrikanischen Kontinent umrunden zu müssen, um dorthin zu gelangen. (Den Suez-Kanal gibt es erst seit 1869.)

Auf der amerikanischen Hälfte der Erde stand man vor einem ähnlichen Problem: Wollte man (im Osten startend) die Westküste Nordamerikas oder die lukrativen asiatischen Gewässer auf dem Seeweg erreichen, musste man eine riesige Außenkurve um Südamerika schlagen; schön, wenn es eine Abkürzung im Norden gäbe: eine Nordwestpassage. Auch hier waren es vor allem die Briten und die Skandinavier, die sich auf die Suche begaben (während die Nordamerikaner verständlicherweise den Standpunkt vertraten, es sei wesentlich einfacher, ein paar Hafenstädte an der Westküste zu errichten.)

Und als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beide Passagen endlich gefunden (und gleich wieder wegen ihrer witterungsbedingten Untauglichkeit für die Schifffahrt verworfen) worden waren, rückte das letzte Ziel in den Mittelpunkt des Interesses: der Nordpol, „höchster“ Punkt unseres Erdballs, eigentlich nur ein beliebiger Punkt in einer öden Landschaft, dessen Erreichen höchstens den sportlichen Ehrgeiz befriedigen konnte.

Den darf man allerdings nicht unterschätzen; ganz besonders nicht in einer Welt, in der Nationalstolz buchstäblich tödlich ernst genommen wird. Also stürmten sie los, die Polarexpeditionen aus (fast) allen Ländern der Nordhalbkugel. Die meisten kamen nicht einmal in die Nähe ihres Ziels; nicht wenige blieben (zur Freude der stets hungrigen Eisbären und Polarfüchse) für immer im hohen Norden.

Siehe da: Es erscheinen neben vielen ernsthaften Aspiranten wieder unsere Möchtegern-Arktisfahrer, deren prominentester Vertreter ausgerechnet der Mann ist, der den Nordpol im Jahre 1909 erreicht haben will. Tatsächlich weiß auch heute niemand so recht, ob Robert E. Peary das wirklich gelungen ist. Die Beweisdecke war denkbar dünn, Peary bemerkenswert wortkarg, die Anerkennung des Polsieges primär eine politische Entscheidung. In der Darstellung dieses äußerst dubiosen Kapitels der Entdeckungsgeschichte erreicht „Die Entdeckung der Arktis“ in der Tat die Qualitäten eines Kriminalromans, wie der sonst stets mit Misstrauen zu betrachtende Hochjubel-Profi „Kirkus Review“ auf dem Cover dröhnt.

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