Peace, David – 1974

„Red Riding Quartet“ nennt David Peace seine Tetralogie, die sich um das England der 70er und frühen 80er Jahre dreht. „1974“ ist deren erster Teil, der international viel Beachtung fand und von der Presse als eines der spektakulärsten Debüts der letzten Jahre gefeiert wird. „1974“ ist ein unglaublich harter Brocken – schwer verdaulich einerseits, absolut atemberaubend andererseits. Ein Krimi, der so düster und desillusionierend ist, dass es schwer fällt, Vergleiche zu ziehen.

Der Dezember 1974 ist ein harter Monat für den neuen Gerichtsreporter der Yorkshire Post in Leeds, Edward Dunford. Kaum hat er seinen Job angetreten, stirbt zunächst sein Vater. Doch auch beruflich kommt einiges auf ihn zu: Ein junges Mädchen, Clare Kemplay, wird vermisst gemeldet und wenige Tage später grausam zugerichtet und ermordet aufgefunden.

Dunford recherchiert in dem Fall, knüpft Beziehungen zwischen diesem Mord und zwei weiteren spurlos verschwundenen Mädchen. Er sucht nach Verbindungen zwischen den drei Fällen und sticht mit seinen Nachforschungen in ein Wespennest. Als dann auch noch Dunfords Kollege Barry Gannon bei einem „Autounfall“ ums Leben kommt, steht er plötzlich mitten in einem undurchsichtigen Dickicht aus Korruption und Vertuschung, in das nicht nur die Ermittlungsbehörden verstrickt sind, sondern auch einige hochrangige Persönlichkeiten der Stadt …

Aus der Masse der Kriminalromane sticht David Peace mit seinem Werk deutlich hervor. Bei Peace läuft vieles entgegen der gängigen Klischees. Hier sind die Polizisten die Bösen und die Journalisten die Guten, die ohne Furcht nach der Wahrheit suchen. Zeitlich überschneidet sich der Roman mit einem dunklen Kapitel in der Geschichte Yorkshires. Es war etwa zur gleichen Zeit, als der so genannte Yorkshire Ripper sein Unwesen trieb und vierzehn Frauen ermordete. Fünf Jahre lang lebten die Menschen in Yorkshire in der Furcht vor dem Ripper. Mit dieser Furcht ist auch der im Westen Yorkshires geborene David Peace aufgewachsen, so dass ein Teil des Romans sicherlich auch die Bewältigung dieser Ereignisse beinhaltet.

„1974“ ist ein Roman, wie man ihn so schnell vermutlich nicht wieder zu lesen bekommen wird. Ein |Krimi Noir|, wie er düsterer und beklemmender kaum sein könnte. Vergleiche lassen sich höchstens zu James Ellroy ziehen. Beide Autoren ähneln sich in gewissen Zügen. Beide stricken Geschichten, die ein undurchsichtiges Geflecht von Macht und Korruption, von Gewalt und Brutalität enthalten, und beide ziehen ihren düsteren, schwer durchdringbaren Plot mit einer ähnlichen Sprachgewalt und Faszination auf.

Peaces Stil wirk dabei etwas abgehackt und gewöhnungsbedürftig. Knappster Satzbau, Einwortsätze, eingestreute Songtitel und Schlagzeilen, die nebenbei im Radio laufen und den Geist der Zeit heraufbeschwören, Zitate, die stets wiederholt werden – Peaces sprachliche Mittel erscheinen schlicht, wirken aber umso eindringlicher. Man braucht eine gewisse Einlesezeit, um mit diesem Stil warm zu werden, aber dann beginnt er mit jeder Seite, sich machtvoller zu entfalten. Ähnlich schlicht und knapp, aber gleichzeitig sprachgewaltig wirkt auch James Ellroys [„L.A. Confidential“ 1187 auf mich.

Peace webt eine dichte Atmosphäre und baut einen kontinuierlich aufstrebenden Spannungsbogen auf, der den Leser nägelkauend weiterlesen lässt. Man kommt ab einem bestimmten Punkt nicht mehr von dem Buch los und will, von bösen Vorahnungen geplagt, möglichst bald wissen, wie sich Geschichte und Figuren weiterentwickeln.

Dabei fällt der Einstieg zunächst nicht ganz leicht. Peace verlangt dem Leser ein hohes Maß an Konzentration ab, weniger aufgrund des sprachlichen Stils, sondern mehr aufgrund der großen Mengen auftauchender Namen und Figuren. Gerade in den ersten Kapiteln haut Peace dem Leser die Namen um die Ohren, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Peace treibt die Geschichte in einem geradezu halsbrecherischen Erzähltempo ihrem dunklen Höhepunkt entgegen und nimmt den Leser mit auf eine düstere Achterbahnfahrt. Alles in einen Zusammenhang einzuordnen, fällt dabei nicht immer ganz leicht. Peaces Romangebilde ist eben sehr komplex.

Ganz im Zeichen dieser Komplexität steht auch Peaces Umgang mit Klischees. Er stellt vieles auf den Kopf, vertauscht Gut und Böse und zeichnet kein Schwarzweiß-Gemälde. Auch Edward Dunford, der auf der Suche nach der Wahrheit hinter der Story ist, ist längst kein strahlender Held. Er hat einige unsympathische Züge und behandelt seine Mitmenschen nicht immer gerade nett, was sich besonders an seinem Umgang mit Frauen zeigt. Es gibt keine per Definition rein Guten, so wie es keine irgendwelchen Klischees entsprechenden Bösen gibt. Auch das lässt sich durchaus als Qualitätsmerkmal festhalten, denn es fordert den Leser.

„1974“ ist dabei nicht nur ein Krimi, sondern gleichermaßen eine Gesellschaftsstudie und ein Spiegel seiner Zeit. Mangelnde Moral in gut situierten Kreisen, die Käuflichkeit von so ziemlich jedem und das Interesse der Öffentlichkeit an grausamen Kapitalverbrechen, dessen Halbwertszeit sich nach dem medialen Unterhaltungswert der Meldung richtet.

Das Szenario, das Dunford durch seine Ermittlungen am Ende des Romans entblättert, ist gleichermaßen schockierend und düster. Man ahnt, dass der Antiheld Dunford kein gutes Ende nehmen wird und dass es auch für den Fall an sich kein Happyend geben kann. Alles gipfelt in einem außerordentlich blutigen Finale. Dunford verknüpft die unterschiedlichen Handlungsebenen, zieht die richtigen Schlüsse und steht am Ende vor der grausamen Wahrheit, ohne selbst genau zu wissen, wie er damit umgehen soll. Entsprechend düster, verstörend und bluttriefend fällt das Finale aus, und entsprechend düster ist auch der Abschied von Dunford.

Und ein kleines bisschen ist man am Ende auch froh, dass es vorüber ist, während man gleichzeitig bedauert, dass der Roman zu Ende ist. „1974“ ruft zwiespältige Gefühle hervor und verlangt dem Leser einiges ab. Dennoch blickt man erwartungsfroh nach vorn und wartet ungeduldig auf die Fortsetzung des „Red Riding Quartet“. Peace hat einfach eine packende und faszinierende Art, die zwar etwas anstrengend sein mag, aber eben auch so fesselnd ist, dass man davon nur schwer loskommt.

Kurzum: Preisauszeichnungen und überschwängliches Presselob hat David Peace sich redlich verdient. Sein Debütroman sticht aus der Masse der Kriminalliteratur äußerst positiv hervor. Ian Rankin sieht David Peace als „die Zukunft des Kriminalromans“. Wenn sich das bewahrheiten sollte, sieht die Zukunft des Kriminalromans in der Tat sehr gut aus. Peace weiß zu fesseln, inszeniert einen düsteren Plot und eine beklemmende Gesellschaftsstudie. „1974“ ist nicht nur ein ausgezeichneter Kriminalroman, sondern auch ein Stück Zeitgeschichte. Sprachlich wie inhaltlich ein harter, schwer verdaulicher Brocken, aber dafür einer, der garantiert im Gedächtnis haften bleibt und obendrein Lust auf die weiteren Teile des „Red Riding Quartet“ macht.