Binding, Tim – Cliffhanger

|“Neuerdings glotzt du mich nur noch an. Weiß Gott, was du dabei denkst.“ Gott wusste es allerdings. Zum Glück sonst niemand. Das hoffte ich zumindest.|

Denn Al Greenwood hat keinen anderen Gedanken als seine Frau, die er neuerdings nur noch anglotzt, um die Ecke zu bringen!

Der britische Autor Tim Binding war bis vor kurzem ein unbeschriebenes Blatt für mich – bis ich im Börsenblatt eine Anzeige zu seinem aktuellen Roman „Cliffhanger“ fand und sofort von der kurzen Inhaltsbeschreibung begeistert war. Manchmal findet man ganz zufällig eben auch noch kleine literarische Schmückstückchen …

_Am Abgrund stehen_

Al Greenwood hat ein Problem, nämlich seine Frau Audrey. An ihr hasst er jeden schwabbeligen Zentimeter, ihre gehässige Art ist ihm verhasst, er mag nicht, wie sie isst, spricht oder sich verhält – kurz: Er kann sie nicht ausstehen. Deswegen hat er beschlossen, sie umzubringen. An einem regnerischen Abend schickt er sie los zu einem Spaziergang zu den Klippen. Eingehüllt in ihren gelben Regenmantel, stapft sie los, während Al sich auf einem Nebenweg zu den Klippen schleicht. Als er dort eine weinende Frau im gelben Regenmantel entdeckt, stößt er sie kurzerhand in den Abgrund. Freudestrahlend tänzelt er beinahe nach Hause, stößt euphorisch die Haustür auf, stürmt in sein neues eigenes Heim – und entdeckt dann seine Frau Audrey, die putzmunter und ziemlich rollig im Wohnzimmer auf ihn wartet.

Schockschwerenot! Wen hat er bloß die Klippen hinunter gestürzt und wo war Audrey in der Zwischenzeit? Denn sie taucht durchnässt und in ungewohnter Stimmung zu Hause auf … Was ist bloß in der Zwischenzeit passiert? Al versteht die Welt nicht mehr. Nur einen Tag später erfährt er, dass die junge Miranda spurlos verschwunden ist. Miranda ist die Tochter seiner ehemaligen Affäre und somit mit großer Wahrscheinlichkeit auch seine eigene Tochter! Al ist verzweifelt; Miranda war ihm näher als irgendjemand sonst. Regelmäßig hat er sich mit ihr in seinem Wohnwagen getroffen, um zu reden und sie besser kennenzulernen. Wie konnte er bloß seine über 50-jährige beleibte Frau mit der jungen und schlanken Miranda verwechseln? Al versteht die Welt nicht mehr, doch scheint alles darauf hinzudeuten, dass es Miranda war, die ihr Ende an den Klippen gefunden hat.

Doch noch mehr Überraschungen warten auf Al: Seine Nachbarin, von ihm eher weniger liebevoll Mrs. Schnüffelnase getauft, stürzt nach vielen Schnäpsen und einigen Joints die heimische Treppe hinunter. Wieder ist Al dabei, auch wenn er dieser Frau keinen Schubs gegeben hat. Er lässt seine Nachbarin leblos liegen, aber kurze Zeit später sitzt auch sie in seinem eigenen Hause! Sie war nur bewusstlos, kann sich aber nicht richtig bewegen und quartiert sich daher im Hause Greenwood ein, um sich wieder zu erholen. Das geht allerdings nur mit großzügigem Grasnachschub, den Al im nachbarlichen Haus in den Sofakissen eingenäht findet. Nach einer Taxifahrt entdeckt Al eine vergessene Sporttasche in seinem Taxi. Der Herr Major hat sie dort vergessen, allerdings enthält die Tasche nicht die vermuteten Sportsachen, sondern lauter Dessous. Al behält das Corpus Delicti kurzerhand und will sich einen Spaß aus der ganzen Sache machen.

Derweil lebt seine Ehe wieder auf. Audrey ist wie ausgewechselt, fällt fast täglich über ihn her, ist bester Laune und geht inzwischen sogar ins Fitnessstudio. Al beschließt, die Frau von den Klippen zu vergessen, denn dieser misslungene Klippenstoß war offensichtlich das Beste, was seiner Ehe passieren konnte. Noch ahnt er aber nicht, was den wahren Sinneswandel bei Audrey bewirkt hat …

_Von Fischen, bekifften Nachbarinnen und gefährlichen Klippen_

Schade, dass ich Tim Binding noch nicht früher entdeckt habe, denn „Cliffhanger“ ist ein wahrer Schatz britischen schwarzen Humors. Glücklicherweise versucht Binding nicht, den mysteriösen Klippensturz durch übersinnliche Phänomene zu erklären, sondern klärt am Ende alles logisch auf. So bleibt der Leser breit grinsend und zufrieden zurück.

Was das Buch auszeichnet, sind zunächst seine Charaktere, die alle irgendwo einen kleinen oder auch großen Schatten haben. Al Greenwood beschließt einfach mal so, seine verhasste Ehefrau loszuwerden und sie in die Tiefe zu stürzen. Gewissensbisse hat er erst, als er vermuten muss, dass er stattdessen seine Tochter aus dem Leben befördert hat. Als seine Frau aber immer zugänglicher wird, verdrängt er auch dieses schlechte Gewissen schnell. Seine größte Leidenschaft sind die zwei Kois im Gartenteich, die leben wie Gott in Frankreich. Ihnen zuliebe hat er einen künstlichen Wasserfall angelegt, der einem Kunstwerk gleicht. Die Fische schwimmen in einem perfekt temperierten Becken und bekommen stets die leckersten Köstlichkeiten zu essen. Seinen Karpfen widmet Al mehr Zeit als seiner Frau, seinem Job oder irgendetwas sonst. Sie sind sein Hobby und seine große Liebe.

In Detective Inspector Rump findet er einen Gleichgesinnten. War Rump eigentlich zu seiner Befragung bei den Greenwoods, so geht das Gespräch bald in ein Fachgesimpel über Karpfen über, als Rump erfährt, dass Greenwood zwei wahre Prachtstücke im eigenen Teich zu schwimmen hat. Die Ermittlung wird schnell zur Nebensache, was auch gut ist, denn Audrey hält sich bei der polizeilichen Befragung nicht an die Version, die Al vorher mit ihr abgesprochen hatte, und behauptet kackfrech, sie wäre den ganzen Abend zu Hause gewesen. Auweia, das stimmt doch nun wirklich nicht, und angesichts der überneugierigen Nachbarin ist Al sich sicher, dass diese Lüge schnell auffliegen muss, denn keinen Schritt können die Greenwoods tun, ohne dass die benachbarte Alice Blackstock es mitbekommt. Und tatsächlich hat sie sogar Al an den Klippen bemerkt, als sie auf einem Baum herumgeklettert ist, um ihre Wäscheleine zu retten.

Doch die liebe Frau Blackstock hat nicht nur scheußliche Angst vor ihrem Zahnarzt, sondern vor allem ein schweres Drogenproblem. Mit ihrem heimischen Grasvorrat könnte sie eine ganze Kompanie über Monate hinweg versorgen. Sie ist auch nicht geizig und gibt gerne von dem guten Stoff ab; so überrascht sie die Greenwoods mit interessanten Gemüsekroketten, die eher aussehen wie „behaarte Männerhoden“, weil die „Petersilie“ nicht fein genug gehackt ist. Erst als Al in ganz anderen Welten schwebt, geht ihm auf, dass es keine Petersilie war, sondern das gute Gras aus Mrs. Blackstocks Kissen.

Audrey hat eine mysteriöse Wandlung durchgemacht, dennoch wird sie dem Leser nur wenig sympathisch, denn als Menschenfreundin kann man sie nicht gerade bezeichnen. Auch die Nebencharaktere haben Potenzial, allen voran der frisch verliebte Inspector, der seine Befragungen dazu nutzt, um mehr über Karpfen zu erfahren. Sein Job wird da schnell zur Nebensache. Auch der Major, der statt Joggingsachen Damenwäsche mit sich führt, oder Mirandas Exlover Kim, der seine Frau an ein Seil bindet, um des nachts mit ihr spazieren zu gehen, gefallen gut.

Bei Binding gibt es keine normalen Menschen, alle haben ihre Ticks, aber es sind lustige Spleens, die einem zum Lachen bringen und von Bindung hervorragend komisch dargestellt werden.

_Witz komm raus, du bist umzingelt_

Der zweite Aspekt, der „Cliffhanger“ zu einem wahren Leseschatz macht, ist Bindings genialer Schreibstil. Sein Buch lässt sich nicht nur wunderbar flüssig lesen, sondern der Autor verwendet herrliche Metaphern, die den Leser immer wieder zum Schmunzeln verleiten. Die Bilder, die Tim Binding verwendet, sind natürlich überzeichnet, aber dennoch passen sie meist wie die Faust aufs Auge; zwei Beispiele:

|Obendrein war sie helle, auf Draht, interessiert, hatte einen super Schulabschluss und konnte so geschmeidig vom zweiten in den dritten Gang schalten, wie ein Vaselinefinger in den Verdauungskanal fluscht.| Oder: |“Ich bin ziemlich sicher, dass es die Bauchwassersucht war. Alle ersten Anzeichen sprachen dafür, aufgeblähter Leib, Glotzaugen.“ Hörte sich an wie Audrey nach anderthalb Flaschen Merlot.|

Dieser herrliche Schreibstil, der stete Wortwitz und die Situationskomik sorgen für ein kurzweiliges und erheiterndes Lesevergnügen. In Al Greenwoods Leben geht alles schief, und Tim Binding findet die richtigen Worte, um diese kuriosen und absurden Szenen zu beschreiben. Fast nie verwendet er Metaphern, wie man sie schon tausendmal zuvor gelesen hat, immer fällt ihm etwas Neues ein, auf das man selbst nie gekommen wäre. Und trotzdem sind die Bilder stimmig. Auch wenn die Handlung ab der Hälfte des Buches angesichts der chaotischen Zustände etwas zu zerfransen droht, liest man gerne weiter, weil man sich in Bindings Sätzen und Beschreibungen verlieren und in sie verlieben kann.

Ich bin wirklich froh, dass ich diesen kleinen Schatz durch Zufall entdeckt habe, denn jedem Satz, jeder Beschreibung merkt man Tim Bindings Schreibtalent an, jede Zeile liest man gerne – manche sogar noch lieber als andere. Schräge Figuren, skurrile Geschichten und köstliche Situationskomik – das sind gleich drei Wünsche auf einmal. Aber bei Tim Binding geht das!

http://www.marebuch.de/

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