Agatha Christie – Rolltreppe ins Grab. Unheimliche Geschichten

Die womöglich berühmteste Kriminalschriftstellerin der Welt bereicherte auch das phantastische Genre mit Kurzgeschichten um Begegnungen mit dem Jenseits, die für diesen seltenen deutschen Auswahlband zusammengestellt wurden; obwohl die Storys angejahrt sind, ist diese Sammlung unterhaltsam und nicht nur als Kuriosum interessant.

Inhalt

– Der Hund des Todes (The Hound of Death*, 1933): Bereits die bösen „Hunnen“ mussten im I. Weltkrieg lernen, dass überirdische Mächte ihre Hände über Schwester Marie-Angélique halten, deren Präsenz nun auch ein Erbschleicher unterschätzt.

– Das rote Signal (The Red Signal*, 1924): Böse Vorahnungen und geisterhafte Warnungen – Dermot West ist gewarnt, doch leider sprechen die Stimmen des Schicksals wie üblich in Rätseln.

– Die Lampe (The Lamp*, 1933): Im einsamen Haus wartet der Geisterjunge geduldig auf einen neuen Spielkameraden.

– Die Zigeunerin (The Gipsy*, 1933): Träume sind eben doch nicht immer Schäume, wie der geplagte Dickie Carpenter zu seinem Nachteil erfahren muss.

– Der vierte Mann (The Fourth Man*, 1925): Die Schöne lässt das Biest selbst nach ihrem Tod nicht in Frieden, bis die geplagte Seele eines Tages rigorose Maßnahmen ergreift.

– Am falschen Draht (Wireless*, 1926): Neumodischer Kram kommt der alten Mrs. Harter nicht ins Haus, aber der rührend um seine reiche Erbtante besorgte Neffe stellt ihr ein Radio ins Zimmer, das ganz erstaunliche Wellen empfängt.

– Poirot geht stehlen (The Veiled Lady, 1924): Wer Hercule Poirot in ein Verbrechen verwickeln möchte, sollte darauf achten, dass seine Maske wirklich perfekt sitzt.

– Das Geheimnis des blauen Kruges (The Mystery of the Blue Jar*, 1924): Mancher Geist sucht ruhelos die Lebenden heim, um erlittenes Unrecht zu rächen, heißt es, doch es gibt auch jenes Sprichwort, dass jeden Tag ein Einfaltspinsel geboren wird.

– Der seltsame Fall des Sir Arthur Carmichael (The Strange Case of Sir Arthur Carmichael*, 1933): Besagter Adliger benimmt sich nach einem Schlaganfall merkwürdig, was seine Schwiegermutter ins Spiel bringt, von der man sagt, sie sei eine Hexe.

– Rolltreppe ins Grab (The Call of Wings*, 1933): Silas Hamers ist reich aber unzufrieden. Doch sein Leben erfährt eine entscheidende Wendung, als er eines Tages in der U-Bahn den griechischen Hirtengott Pan trifft.

– Die Puppe der Schneiderin (The Dressmaker’s Doll, 1958): Die hässliche Schneiderpuppe jagt den Bediensteten eine Heidenangst ein und macht Anstalten, den gesamten Haushalt zu übernehmen.

– SOS (S. O. S.*, 1926): Eine Autopanne führt Mortimer Cleveland ins einsame Landhaus der seltsamen Familie Dinsmead aber möglicherweise nicht mehr hinaus.

– Die letzte Sitzung (The Last Séance*, 1926): Ein Medium wird nachlässig und lernt auf die harte Tour, dass sich die Geister buchstäblich ihr Pfund Fleisch holen, wenn man sie zu sehr belästigt.

– Auch Pünktlichkeit kann töten (Dead Man’s Mirror; 1937): Gervase Chevenix-Gore, blaublütiger Multimillionär mit vielen Macken, ist tot; zuvor hat er Detektiv Hercule Poirot in sein von vielen armen Verwandten bevölkertes Haus gerufen.

– Der Traum (The Dream, 1939): Für Hugo Cornworthy, kam der Tod, wie er geträumt hatte, durch eine Kugel aus dem eigenen Revolver. Doch wer hatte wirklich den Finger am Abzug, fragt sich Hercule Poirot.

– Spiegelbild (In a Glass Darkly, 1934): Der Blick in diesen Spiegel verhindert scheinbar einen Mord, doch sollte wirklich genau hinschauen.

Autorin mit vielen Talenten

Agatha Christie (1890-1976) ist vor allem dank der Verlage Scherz und Fischer im deutschen Sprachraum berühmt. Über Jahre und Jahrzehnte wurde sie mit einer Geduld, die heute außerirdisch anmutet, zur „Queen of Crime“ aufgebaut; ein Ruf, der so solide ist, dass er noch heute, viele Jahre nach Christies Tod, ungeachtet der Tatsache, dass sie diesen Ruf zwar durchaus aber nicht allein verdient, hierzulande fest in den Hinterköpfen nicht nur von Krimi-Freunden fest verankert ist.

Nachdem das kriminalistische Œvre Christies mit einer strategischen Sorgfalt, die dem Disney-Studio zur Ehre gereichen würde, regelmäßig neu und schließlich sogar ungekürzt veröffentlicht wurde, war es nur eine Frage der Zeit, bis sich das Interesse auch auf das übrige Werk der Autorin richten würde. Agatha Christie war keineswegs auf Hercule Poirot oder Miss Marple oder auf Kriminalromane überhaupt fixiert. Vor allen in ihren frühen Jahren als Schriftstellerin experimentierte sie fleißig und zeigte sich zuallererst als Profi: Geschrieben wurde (ab 1920), was Geld brachte! Unter dem Pseudonym „Mary Westmacott“ brachte Christie u. a. ein halbes Dutzend tränendrüsendrückender Liebesromane unter das schmachtende Publikum.

Und Agatha Christie verfasste Spukgeschichten; solche, in denen finstere Gespenster unter weißen Laken die Lebenden heimsuchen, aber auch Phantastik, die das psychologische Element in den Vordergrund stellt. In diesem Zusammenhang beschäftigte sich die Autorin immer wieder mit der Frage, ob das, was der Mensch das Übernatürliche nennt, nicht eher Ausfluss seines Geistes ist, der in Krise oder Krankheit zu Fehlfunktionen neigt.

Es liegt geisterhaft in der Luft

Christies Interesse war durchaus persönlich; während ihr Leben zwar lang und abwechslungsreich war aber meist wenig spektakulär verlief, stand die Autorin 1926 im Mittelpunkt eines Rätsels: Agatha Christie verschwand für elf Tage spurlos, tauchte aber unversehrt wieder auf. Sie selbst gab Gedächtnisverlust als Ursache an, ausgelöst offenbar durch die Entdeckung, von Archibald Christie, ihrem ersten Ehemann, betrogen zu werden.

Die Beschäftigung mit dem (Para-) Psychologischen gehörte darüber hinaus quasi zum guten Ton in den gehobenen Kreisen der britischen Gesellschaft. „Die letzte Séance“ oder „Das rote Signal“ künden von der zeitgenössischen Marotte, diese scheinbar letzte der Wissenschaft noch verschlossene Grenze zu überschreiten oder wenigstens einen Blick auf das „unentdeckte Land“ jenseits des Todes zu werfen. Hinzu kamen die populär trivialisierten Theorien, die Sigmund Freud, C. G. Jung oder andere Pioniere der Psychoanalyse in diesen Jahren entwickelten.

Allerdings muss Christies Psychologen-Latein schon damals wenig überzeugend gewirkt haben. Heute wirken gerade diese Geschichten hausbacken und sind eher von historischem oder nostalgischem Interesse – Sendboten einer versunkenen Epoche, als sich das Wissen über die Welt noch scheinbar innerhalb eines Menschenleben zu komplettieren schien.

Handwerk besteht länger

Besser gehalten haben sich die klassischen Geistergeschichten. „Die Puppe der Schneiderin“ ist ein kleines Kabinettstück, spannend, gruselig und witzig zugleich und damit den Beweis führend, dass Furcht und Vergnügen eng verwandt sind. Mit der Titelgeschichte – entstanden schon vor dem I. Weltkrieg damit eines ihrer frühsten Werke überhaupt – wandelt Christie auf den Spuren Algernon Blackwoods und spielt geschickt mit dem Konzept einer anderen, geheimnisvollen, ‚heidnischen‘ Welt, die neben der unseren existiert und sich mit ihr überschneidet.

Für „The Hound of Death“ ließ sich Christie von Arthur Machen inspirieren, der 1914 eine Geschichte über geisterhafte Bogenschützen schrieb, die ihren bedrängten englischen Landsleuten in der Schlacht von Mons beistanden. Aus dieser Story wurde rasch eine Legende, die schließlich für wahr gehalten wurde und als Paradebeispiel für eine kollektive Täuschung in die Geschichte einging.

„Der Zigeuner“ thematisiert einen Albtraum, unter dem die junge Agatha Christie lange Zeit litt. Stets gelang es ihr, rechtzeitig zu erwachen, bevor der befürchtete „Revolvermann“ sie zu fassen bekam. Umso größer war die Furcht, ihr könne dies eines Nachts nicht mehr gelingen – eine Furcht, die Christie in dieser Geschichte in Worte fasste und zu bannen versuchte.

Die Mysterien einer Sammlung

Ein kriminalistisches Rätsel der eigenen Art birgt die Frage nach der Herkunftsgeschichte jener Geschichten, die hier als „Aktionsband“ des Scherz-Verlags selig auf den Buchmarkt gebracht wurden. Viele Jahre tauchten diese volumenstarken Bände preiswert und in ca. 380 Seiten Standard-Stärke dort auf, wo sie Storys präsentierten, die in neuen Zusammenstellungen wieder und wieder veröffentlicht wurden.

In diesem Fall stellte der vorgegebene Rahmen Herausgeber Joachim Körber vor ein Problem. Agatha Christie hat in ihrer mehr als ein halbes Jahrhundert währenden Schriftsteller-Karriere durchaus mehr phantastische Geschichten geschrieben als uns hier präsentiert werden. Doch der Scherz-Verlag besaß offenbar primär die Rechte an der Sammlung „The Hound of Death and Other Stories“ (1933, in der Auflistung der Storys jeweils kenntlich gemacht durch ein *), die im Original etwas über 200 Seiten stark ist. Im Laufe der Jahre wurden diese Geschichten über mehrere Scherz-Sammelbände mit Christie-Storys („Mörderblumen“, „Mördergarn“, „Ein diplomatischer Zwischenfall“) verstreut. (Eine erste deutsche Gesamtausgabe erschien erst 2010 als Band 41 in „Die offizielle Sammlung Agatha Christie“, die von der Hachette Collections in Paris herausgegeben wurde und nicht im freien Handel erhältlich war.)

Offensichtlich reichte es nicht, den Band auf Länge zu bringen. Also wurden einige Hercule-Poirot-Geschichten eingeschmuggelt („Hercule Poirot geht stehlen“, „Auch Pünktlichkeit kann töten“, „Der Traum“), die zwar immer lesenswert sind aber an dieser Stelle nichts verloren haben, handelt es sich doch um lupenreine Mini-Krimis. Freilich hatte Christie selbst 1933 die berühmte Story „The Witness for the Prosecution“ (dt. „Zeugin der Anklage“) in „The Hound of Death“ aufgenommen. (In dieser deutschen Ausgabe fehlt sie übrigens.)

Da „The Hound of Death“ hierzulande niemals erschienen ist, bietet „Rolltreppe ins Grab“ (ungeachtet des dämlichen Titels) die seltene Gelegenheit, die ‚übernatürliche‘ Agatha Christie kennenzulernen. Vor allem die Liebhaber des gut abgehangenen Grusels sollten sich dies nicht entgehen lassen.

Autorin

Agatha Miller wurde am 15. September 1890 in Torquay, England, geboren. Einer für die Zeit vor und nach 1900 typischen Kindheit und Jugend folgte 1914 die Hochzeit mit Colonel Archibald Christie, einem schneidigen Piloten der Königlichen Luftwaffe. Diese Ehe brachte eine Tochter, Rosalind, aber sonst wenig Gutes hervor, da der Colonel seinen Hang zur Untreue nie unter Kontrolle bekam. 1928 folgte die Scheidung.

Da hatte Agatha (die den Nachnamen des Ex Gatten nicht ablegte, da sie inzwischen als „Agatha Christie“ berühmt geworden war) ihre beispiellose Schriftstellerkarriere bereits gestartet. 1920 veröffentlichte sie mit „The Mysterious Affair at Styles“ (dt. „Das fehlende Glied in der Kette“) ihren ersten Roman, dem sie in den nächsten fünfeinhalb Jahrzehnten 79 weitere Bücher folgen ließ, von denen vor allem die Krimis mit Hercule Poirot und Miss Marple weltweite Bestseller wurden.

Ein eigenes Kapitel, das an dieser Stelle nicht vertieft werden kann, bilden die zahlreichen Kino und TV Filme, die auf Agatha Christie Vorlagen basieren. Sie belegen das außerordentliche handwerkliche Geschick einer Autorin, die den Geschmack eines breiten Publikums über Jahrzehnte zielgerade treffen konnte (und sich auch nicht zu schade war, unter dem Pseudonym Mary Westmacott sechs romantische Schnulzen zu schreiben).

Mit ihrem zweiten Gatten, dem Archäologen Sir Max Mallowan, unternahm Christie zahlreiche Reisen durch den Orient, nahm an Ausgrabungen teil und schrieb auch darüber. 1971 wurde sie geadelt. Dame Agatha Christie starb am 12. Januar 1976. (Wer mehr über Leben und Werk der A. C. erfahren möchte, wende sich hierher.)

Taschenbuch: 382 Seiten
Originalausgabe = dt. Erstausgabe
Übersetzung: Marfa Berger, Hella von Brackel, Günter Eichel, Maria Meinert, Edith Walter

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