Arkadi und Boris Strugatzki – Das Experiment

„Das Experiment ist das Experiment“ … Verzweiflung, Schicksalsergebenheit, Desinteresse, Lethargie – all das kann aus diesem einen Satz sprechen, den die Bewohner der „Stadt“ ständig wiederholen und vor allem in undurchsichtigen Situationen resigniert plappern. Was ist das Experiment? Wer sind die Experimentatoren, wer die mysteriösen Mentoren?

Die Autoren

Die Strugatzki-Brüder gelten unumstritten als die besten SF-Autoren Russlands. Viele ihrer Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und zählen zu den bedeutendsten SF-Werken des 20. Jahrhunderts. Arkadi Strugatzki starb im Jahre 1991 – damit endete eine der faszinierendsten Kooperationen der Literaturgeschichte.

Inhalt

Andrej Woronin ist Müllfahrer in der Stadt. Hier gilt das Gesetz auf das Recht zur abwechslungsreichen Arbeit, so dass jeder Bewohner – also jedes „Versuchskaninchen“, denn das scheinen die Bewohner der ominösen Stadt zu sein – in regelmäßigen Abständen seinen Arbeitsplatz wechselt. Dabei ist es völlig irrelevant, ob man studierter Arzt, Philosoph oder im Falle von Andrej Astronom ist, oder ob man Unteroffizier der Wehrmacht, Heckenschütze in Korea oder was auch immer auf der Erde war.

An diesem Tag scheint ein neuer Abschnitt des Experiments zu beginnen: Unüberschaubare Massen an Pavianen tauchen plötzlich in der Stadt auf, verwüsten weite Gebiete und sind von der Polizei – die auf ein neues Gesetz hin keine Waffengewalt mehr besitzt – nicht einzudämmen. Andrej ist einer der Freiwilligen, die sich unter dem Kommando des ex-faschistischen Wehrmachtsoffiziers Fritz Geiger den Affen entgegenstellen. Trotzdem muss eingesehen werden, dass ab diesem Tag mit den Affen auszukommen ist – Das Experiment ist das Experiment. Sobald die Sonne abgeschaltet wird, werden Verrückte und Irre durch die Straßen gejagt, um der Affenbande einen Gegenpol zu bieten.

Die Bevölkerung der Stadt setzt sich aus den unterschiedlichsten Menschen jeglicher Nationalität und aus den verschiedensten Zeiten zusammen. In diesem Vielvölkerchaos versteht trotzdem jeder die Sprache seiner Mitmenschen. Es dauerte lange, bis Andrej überzeugt war, dass Isja (und viele andere Menschen) nicht plötzlich Russisch sprachen, sondern jeder in seiner eigenen Sprache kommuniziert. Das ist ein Aspekt der Welt des Experiments. Warum es auch Gesindel gibt, kann Andrej nicht verstehen. Aber wenn man das Experiment versteht, ist es schief gelaufen, so Andrejs Mentor. Das Experiment ist das Experiment.

Andrej durchläuft verschiedene Gesellschaftsschichten und entwickelt sich dabei vom fanatischen Kommunisten mit der Überzeugung, dass das Experiment dazu dient, eine kommunistische Gesellschaft zu perfektionieren, um sie dann auf die Erde zu übertragen, über einen unfähigen Juristen und liberalen Chefredakteur zu einem Mitglied der Oberschicht, die sich in der Form erst nach dem Putsch von Fritz Geiger manifestiert. Andrej ist plötzlich erster Berater des Präsidenten Geiger und führt ein geordnetes, anspruchsvolles Leben unmittelbar an der Spitze der Hierarchie. Warum er diesen Posten aufgibt, um in den unbekannten und verbotenen Norden des merkwürdigen Landes zu ziehen, kann er sich auch nicht erklären. Das Experiment ist das Experiment.

Auf dieser Mission, bis an die Grenzen seines Überlebenswillens und seiner Kräfte belastet, zeichnet sich die Erkenntnis ab, was es mit dem Experiment, das schon als gescheitert galt, auf sich hat …

Kritik

Andrej scheint in der realen, uns bekannten Welt, eine gebrochene Persönlichkeit zu sein, wie so viele Menschen, die den Weg in das Experiment gefunden haben. Allerdings ist er aus anderen Gründen hier als die meisten, die in dem Werk erwähnt werden: Aus Überzeugung für die Sache, aus Fanatismus. Die meisten anderen sind Flüchtlinge vor der Realität, die zum Teil keinen anderen Ausweg hatten, zum Teil resignierten und von ihren Mentoren überredet wurden. Andererseits steht da der nachdenklich stimmende Satz eines alten Katholiken, der sagt, man befinde sich in der Hölle, im Leben nach dem Tod …

Gerade Andrejs Überzeugung scheint ihn von den anderen abzuheben, macht ihn zu einer wichtigen Figur für die Experimentatoren – auch wenn alle die gleichen Chancen haben, scheint für die meisten Anwesenden der stillstehende Rhytmus des künstlichen Lebenszyklus in der Stadt das Ziel zu sein. Andrej (und einige andere, wie zum Beispiel der Jude Isja) dagegen ist ständig auf der Suche, vermeidet den Stillstand – auch wenn die Versuchung zu mehreren Gelegenheiten kaum zu überwinden war.

Eine Schlüsselszene stellt Andrejs unfreiwilliges Schachspiel mit dem Großen Strategen (leicht als Stalin zu interpretieren) im unheimlichen Roten Haus dar, wo seine Grundakzeptanz dem Experiment gegenüber in etwas anderes verändert wird. Er sagt: Etwas war in mir zerbrochen … Doch hat er (vom Gesamtkontext her betrachtet) nicht im Gegenteil etwas gewonnen? Sich etwas Selbstständigkeit bewahrt und damit die Chance, das Experiment voranzutreiben?

Schwierig wird es während der Forschungsmission in den Norden, die Suche nach der Antistadt. Hier verläuft Andrej sich mehrfach in verwirrenden Gedankengängen, die stark zum Nachdenken anregen – So zum Beispiel seine agressive Rede vor den Denkmälern, die (nach menschlichen Charakterzügen) seine radikale Kritik nicht hören wollen und sich seinem Widersacher zu wenden, der von Größe und Ehrerbietung spricht und die Denkmäler in ihrem Dünkel bestärkt.

Dass sich alle Legenden und Gerüchte um die nördlichen Ebenen als wahr erweisen (Eisenköpfe, Kristallpalast …), hilft den meisten Mitgliedern der Expedition nicht mehr. Aber Andrej und sein treuer Begleiter überwinden diese Hürden der Bequemlichkeit und referieren über den Tempel, der aus den Taten der Menschheit erwächst und nicht zerstört werden kann. Für Andrej setzt sich nur die Erkenntnis durch, dass er unwichtig ist für den Lauf der Geschichte, ob er kämpft oder schläft sei einerlei, und nur unbewusst nähert er sich der großen Erkenntnis über den Sinn des Experiments, der auch dem Leser verschlossen bleibt.

Wer sind die großen Mächtigen im Hintergrund, die Experimentatoren? Man weiß es nicht. Wer sind die mysteriösen Mentoren? Wie es scheint, bilden sie eine Art personifiziertes Gewissen der Versuchspersonen. Jeder hat seinen eigenen Mentor, der immer wieder erscheint und die Menschen in ihren Handlungen bestärkt oder orakelhafte Sprüche von sich gibt. Dabei scheint er mit dem Unterbewusstsein der speziellen Person zu interagieren, denn anscheinend bringt er die Dinge zur Sprache, die jemand (in diesem Fall Andrej) gedacht, sich aber noch nicht bewusst gemacht hat – eben die Funktion eines Gewissens. Was ist das Experiment denn nun wirklich? Ich glaube, das muss jeder Leser für sich selbst herausfinden …

Ein wenig wird das Lesevergnügen geschmälert durch viele Druck- und/oder Schreibfehler, die eigentlich, zumal in einer derartigen Sonderausgabe, vermeidbar sein müssen. Nichtsdestotrotz ein empfehlenswertes Buch!

Fazit

Es ist nicht damit getan, das Buch zu lesen. Man kann es eigentlich nicht ausschließlich zur Unterhaltung lesen, dazu ist es zu verworren und nachdenklich geschrieben. Und wenn man es durchgelesen hat, kann man es nicht einfach zur Seite legen und sich etwas anderem widmen, auch wenn das vielleicht gar nicht schlecht wäre, um „runterzukommen“ und die Gedanken zu ordnen. Aber der tiefsinnige Weg Andrejs durch das Experiment endet für uns nicht nach der Lektüre, denn wie der Mentor lächelnd bemerkt: „Den ersten Kreis haben Sie durchschritten.“ Und eines sollte man nicht vergessen: Das Experiment ist das Experiment …

Taschenbuch: 523 Seiten
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