Dunnett, Dorothy – Niccolòs Aufstieg (Das Haus Niccolò 1)

Claes ist mit Felix, dem Sohn seiner Dienstherrin, und Julius, deren Rechtskonsulent, auf einem Boot unterwegs nach Brügge. An einer Schleuse treffen sie auf ein anderes Boot, beladen mit einem seltsam klobigen, langen Teil sowie mit illustren Passagieren besetzt: ein schottischer Bischof samt Gefolge, eine vornehme Kaufmannstochter auf dem Weg nach Hause und ein recht hochnäsiger Lord mit seinem Hund. Im Verlauf dieses ohnehin schon eher unangenehmen Treffens kommt es zu einem Unfall, infolgedessen die Ladung des wartenden Bootes sinkt. Aber nicht nur die Versenkung der Ladung hat weitreichende Folgen …

Dorothy Dunnetts Geschichte über das bewegte Leben eines jungen Färberlehrlings ist nicht so leicht beizukommen. Schon allein der historische Hintergrund droht den Umfang zu sprengen. Deshalb hier nur das Nötigste:

_1459:_ In England toben die Rosenkriege. Der regierende König Heinrich VI. aus dem Hause Lancaster ist aus vielerlei Gründen in seiner Heimat höchst unbeliebt, nicht zuletzt, weil er den hundertjährigen Krieg gegen Frankreich verloren hat. Außerdem ist er krank.

Der schottische König Jakob II. weiß nicht so recht, auf welche Seite der englischen Bürgerkriegsparteien er sich schlagen soll, York oder Lancaster. Abgesehen davon ist Schottland ohnehin noch vom Unabhängigkeitskrieg geschwächt. Auf jeden Fall aber ist ihm ein Dorn im Auge, dass England noch immer eine letzte schottische Burg besetzt hält, Roxburgh Castle.

Frankreich dagegen weiß genau, wen es unterstützen will. Dem selbst auf eher wackligem Thron sitzenden Karl VII., der überhaupt nur dank Jeanne d’Arc König geworden ist, ist es lieber, in England regiert der schwache Lancaster als ein starker York. Denn Karl VII. hat nicht nur Probleme mit England. Im Königreich Neapel wurde das französische Herrscherhaus der Anjou durch das spanische Haus Aragon ersetzt, was die Franzosen gerne rückgängig machen würden. Außerdem hat der Dauphin, der spätere Ludwig XI., sich mit seinem Vater überworfen und nach Burgund abgesetzt.

Der Herzog von Burgund und Flandern, Philipp der Gute, seinerseits hat sich – obwohl sein Territorium offiziell zu Frankreich gehört! – bereits im Hundertjährigen Krieg auf Seiten Englands geschlagen, da der französische König – damals noch Dauphin – Philipps Vater hat ermorden lassen.

Ferdinand I. von Neapel wehrt sich derweil mit Unterstützung Mailands gegen die Franzosen und ihre Verbündeten, darunter die Venezianer.
Venedigs Stern ist allerdings bereits im Sinken begrifen. Das Osmanische Reich blockiert einen Großteil des Handels mit dem Osten, durch den Venedig groß geworden ist, unabhängig davon hat Portugal inzwischen einen Seeweg nach Indien entdeckt, wodurch Venedig sein Monopol auf den Gewürzhandel verloren hat.

In Mailand regiert Francesco Sforza, der Sohn eines Condottiere, eines Söldnerführers, in Florenz Cosimo di Medici. Beiden ist keineswegs an einer Ausdehnung von Frankreichs Machtbereich gelegen. Gleichzeitig unterhalten sie rege Geschäftsbeziehungen mit dem Dauphin.

Pius II. dagegen scheint es egal zu sein, wer auf welchem Thron sitzt. Er will nur endlich Frieden haben, damit er sowohl England als auch Frankreich finanziell in die Pflicht nehmen kann, denn er will einen neuen Kreuzzug gegen die Osmanen, die 1453 Konstantinopel erobert haben und für den Geschmack des Papstes viel zu begehrliche Blicke nach Westen werfen.

Auf dieses Gewirr aus politischen Bündnissen wurden ein weiteres aus finanziellen Verwicklungen und Beziehungen geflochten. Im Zentrum des Interesses steht dabei das Alaun, ein Mineral, das unter anderem zum Fixieren der Farben beim Stofffärben benutzt wurde. Je reiner das Alaun, desto besser die Wirkung. Alaun wird an verschiedenen Orten gewonnen, doch die ergiebigsten und reinsten Vorkommen liegen in Phökea, das inzwischen zum osmanischen Reich gehört. Da das christliche Abendland mit den Osmanen aus religiösen Gründen nicht Handel treiben darf, haben die Osmanen eine Lizenz an christliche Handelsleute vergeben, die dadurch quasi eine Monopolstellung genießen.

Außerdem spielt natürlich Geld eine Rolle. Das Bankensystem ist neu erfunden und hat geradezu ein neues Universum eröffnet. Gehandelt wird nicht mehr nur mit Waren wie Tuch, Gewürzen oder Edelsteinen, sondern zum ersten Mal auch mit Dienstleistungen. So werden Kriege seit einiger Zeit nicht mehr nur von Rittern geführt, die aufgrund ihres Lehensverhältnisses ihren Herrschern Waffendienste schuldeten, sondern vielfach von Söldnern, die für ihre Dienste ausgerüstet und bezahlt werden. Das gilt vor allem für Italien mit seinen vielen kleinen Stadtstaaten. – Mit der Erfindung des Wechsels können finanzielle Forderungen an Leute weitergegeben werden, die mit dem ursprünglichen Handelsgeschäft gar nichts zu tun hatten. Dadurch wird mehr denn je das Geld auch zum politischen Instrument, was wiederum zur Folge hat, dass Nachrichten zu einer der bestbezahlten Waren gehören, und damit auch Chiffriercodes. Zuverlässige Kurierdienste sind Gold wert!

_Charaktere_

In diesen Kontext setzt die Autorin ihre Hauptfigur. Claes, wie er vorerst genannt wird, ist ein gutmütiger, stets lachender Bursche, der ständig in Schwierigkeiten gerät und für seinen Unfug schon so manche Prügelstrafe aushalten musste. Was erstaunlich ist, denn den Sohn seiner Herrin kann er – meistens zumindest – aus größeren Schwierigkeiten heraushalten. Bei den Mädchen ist Claes äußerst beliebt, aber auch bei den übrigen Arbeitern im Färbergeschäft seiner Herrin, der Witwe Marian de Charetty, denn er besitzt nicht nur Charme, sondern auch Witz und die Gabe, andere Menschen sehr treffend nachzuahmen.

Was die Leute weniger zur Kenntnis nehmen, ist seine ungewöhnliche mathematische Begabung. Claes kann hervorragend mit Zahlen umgehen. Und mit Chiffren … Den meisten seiner Bekannten scheint ebenfalls zu entgehen, dass seine Fähigkeit, Menschen zu parodieren, von einer hervorragenden Beobachtungsgabe herrührt. Und dass sein Erfolg, Felix vom gröbsten Unfug fernzuhalten, daher kommt, dass Claes generell sehr gut mit Menschen umgehen kann.

Der Witwe Charetty entgehen diese Eigenschaften durchaus nicht. Immerhin hat sie ihn von seinem zehnten Lebensjahr an großgezogen. Abgesehen davon scheint sie aber auch noch etwas über ihn zu wissen, was sonst niemand weiß. Es hat mit Claes Herkunft zu tun. Seine Mutter war die Tochter eines Kaufmanns aus Genf. Sein Vater aber, sagt man, sei ein Dienstbote gewesen! Aber ist das wirklich die Wahrheit? Duldet die Witwe Charetty Claes plötzlich erwachendes Interesse am Geschäft nur aufgrund seiner unbestritten nützlichen Fähigkeiten?

Felix jedenfalls scheint ein Problem damit zu haben. Er mochte Claes, so lange dieser der etwas dümmliche, gutmütige Bursche war, mit dem man alles anstellen konnte, ohne dass er je etwas nachtrug. Je mehr Claes allerdings erreicht, desto mehr verändert sich sein Verhalten. Er wird selbstbewusster. Der etwas eitle und gleichzeitig faule Felix beobachtet diese Veränderung mit Skepsis und einer gewissen Portion Neid.

Abgesehen von diesen unmittelbaren Angehörigen der Familie Charetty wartet Dorothy Dunnett mit einer wahren Flut an weiteren Charakteren auf. Ein durchaus nicht kleiner Teil davon ist historisch belegt, so sämtliche Vertreter der Medici, ein Großteil der Kaufleute in Brügge sowie diverse ausländische Personen, angefangen beim Schatzmeister des Dauphin über den Leibarzt des Herzogs von Mailand bis hin zu einem Abkömmling griechischer Fürsten. Die zeitgenössischen Herrscher werden zwar erwähnt, außer dem Dauphin taucht jedoch keiner persönlich auf.

Trotz dieser Masse an Charakteren unterschiedlichster Couleur ist es der Autorin gelungen, ihnen allen ein persönliches Profil zu verleihen. Nicht unbedingt immer von gleicher Tiefe, aber stets so, dass sie nicht plakativ oder hölzern wirken.

_Die Handlung_ dagegen lässt sich zunächst eher träge an. Der Leser erlebt mit, wie aus der Puppe Claes allmählich der Schmetterling Nicholas schlüpft, wobei sich die Autorin dafür viel Zeit nimmt. Obwohl dem Leser recht bald bewusst wird, dass Nicholas von nahezu allen seinen Mitmenschen unterschätzt wird, weiß die Autorin das wahre Ausmaß von Nicholas‘ Aktivitäten bis zum Schluss bedeckt zu halten.

Ansonsten bietet die Handlung eher wenig Bewegung. Die Hauptgewichtung liegt auf Gesprächen, die – vor allem bei geschäftlichen oder politischen Themen – zu einem erheblichen Teil aus Andeutungen bestehen. Ein weiterer zentraler Punkt besteht im Zeit- und Lokalkolorit. Ereignisse, die jährliche Höhepunkte bedeuten – wie die Ankunft der venezianischen Flandern-Galeeren voller Luxusgüter oder der Karneval – werden sehr stimmungsvoll dargestellt; Gewänder und Kopfbedeckungen werden beschrieben, ohne übermäßig ins Detail zu gehen; die Ehe und sämtliche damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge sind ein Thema; und natürlich nicht zu vergessen der Klatsch, der zum Teil gutmütig, zum Teil aber auch äußerst boshaft die Wertvorstellungen und Ansichten aller Bevölkerungsschichten wiedergibt. All das summiert sich zu einem sehr lebendigen, plastischen Bild einer wohlhabenden Kaufmannsstadt zur Zeit der Renaissance.

Da sich die Entwicklung der Ereignisse eher unauffällig vollzieht, hat der Leser allerdings gelegentlich den Eindruck, dass sich im Grunde überhaupt nichts tut. Trotz der malerischen und gelungenen Ausarbeitung des historischen Hintergrunds zieht sich das Geschehen stellenweise doch ziemlich. Zwar bietet der Handlungsverlauf ein paar kleine Höhepunkte – diverse Anschläge auf Claes/Nicholas‘ Leben, einen Werkstattbrand, zwei Duelle und einen kurzen Ausschnitt aus dem Krieg in Italien – doch fast alle bleiben ohne größere Auswirkungen, soll heißen: auf den Verlauf von Nicholas‘ Aufstieg haben sie kaum Einfluss. So etwas wie Spannung kommt folglich erst ganz am Ende auf, als sich herausstellt, was genau Nicholas da eigentlich in Gang gesetzt hat.

Wer also von seiner Lektüre vor allem Action, Spannung oder Dramatik erwartet, der wird sich bei diesem Buch wahrscheinlich langweilen. |Das Haus Niccolò| ist, zumindest was den ersten Band betrifft, eine Geschichte der leisen Töne und entwickelt seine Stimmung nur allmählich. Außerdem braucht man Zeit, um sich einzulesen. Davon abgesehen jedoch bietet „Niccolòs Aufstieg“ ein gelungenes Bild einer bewegten Epoche, viele interessante Charaktere und am Ende eine gewisse Überraschung. Das Rätsel um Nicholas‘ wahre Herkunft dürfte dabei den roten Faden für die folgenden Bände bilden.

_Dorothy Dunnett_ stammte aus Schottland und studierte in Edinburgh und Glasgow. Ihr erster Roman „Das Königsspiel“, Teil I der |Lymond Chronicles|, erschien interessanterweise zuerst in den USA, da das Manuskript von britischen Verlagen abgelehnt wurde. Letztlich wuchs der Zyklus auf sechs Bände an. Zu ihren Werken zählen neben den |Lymond Chronicles| und |Das Haus Niccolò| vor allem „The King Hereafter“, ein Roman über den historischen Macbeth, sowie eine Reihe von Kriminalromanen. Dorothy Dunnet starb 2001 in Dunfermline.

http://www.dorothydunnett.de
http://www.ddra.org/Deutsch/startseite.html

|Originaltitel: The house of Niccolò, Niccolò Rising
Deutsche Erstausgabe 1986 bei |Wunderlich/Rowohlt|, übersetzt von Margaret Carroux und Sonja Schleichert
Neuübersetzung 2006 von Britta Mümmler und
Mechtild Sandberg-Ciletti
736 Seiten,gebunden mit Schutzumschlag, Lesebändchen, farbige Vorsätze, Karten, Lesezeichen mit den Hauptfiguren|

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