Neil Gaiman – Zerbrechliche Dinge: Geschichten & Wunder

Sammlerstück für Gaiman- und Shadow-Fans

Ein liegengebliebener Mietwagen auf einem einsamen Highway, ein düsteres Zirkuszelt voller versteckter Geheimnisse, die flirrende Hitze der ägyptischen Wüste in ihrer menschenfeindlichen Schönheit – ganz gleich, wohin SANDMAN-Schöpfer Neil Gaiman seine Figuren führt, sie werden stets mit Abgründen konfrontiert. Abgründen, in denen manch ein Unglücklicher verloren ging. (erweiterte Verlagsinfo)

Der Autor

Neil Gaiman ist seinen Lesern vor allem als einfallsreicher Autor der Sandman-Comicbooks bekannt. Zusammen mit Terry Pratchett verfasste er auch den köstlichen Apokalypse-Roman „Gute Omen“. Er hat mit „Die Messerkönigin“ ausgezeichnete Grusel-, Fantasy- und Märchenstories vorgelegt, sowie mit „Niemalsland“, „Sternwanderer“, „American Gods“ und „Anansi Boys“ vier vielbeachtete Romane (alle bei |Heyne| verlegt). Sein Jugendbuch „Coraline“ wurde bereits verfilmt, und „Gute Omen“ könnte das gleiche schöne Schicksal widerfahren. Über seinen verstorbenen Freund und Kollegen Douglas Adams verfasste er die wirklich empfehlenswerte Biografie „Keine Panik!“ (ebenfalls bei |Heyne|).

Neil Gaiman auf Buchwurm.info:

[„Mr. Punch“ 3976
[„Sandman: Ewige Nächte“ 3498
[„Sandman 1 – Präludien & Notturni“ 3852
[„Stardust – Der Sternwanderer“ 4336
[„Sternwanderer“ 3495
[„American Gods“ 1396
[„Anansi Boys“ 3754
[„Coraline – Gefangen hinter dem Spiegel“ 1581
[„Das Graveyard-Buch“ 5918 (Hörbuch)
[„Die Bücher der Magie 5 – Verlassene Stätten“ 2522
[„Die Bücher der Magie 6″ – Abrechnungen“ 2607
[„Die Messerkönigin“ 1146
[„Die Messerkönigin“ 5514 (Hörbuch)
[„Die Wölfe in den Wänden“ 1756
[„Keine Panik! – Mit Douglas Adams per Anhalter durch die Galaxis“ 1363

Die Erzählungen

1) Kies auf der Straße der Erinnerung

Der Ich-Erzähler will belegen, dass er Geschichten der Realität vorzieht. „Mir gefällt es, wenn das Leben wie eine Geschichte verläuft“, lautet sein erster Satz. Seine Lieblingsgeschichten sind allerdings Gespenstergeschichten, nicht ohne Grund: Als er fünfzehn Jahre alt war, begegnete er einem Gespenst. Echt wahr! Es sah aus wie eine Zigeunerkönigin aus einem Bühnenstück für die Schule. Gekleidet in gelbschwarze Schattierungen, lächelnd, aber schweigend, jagte es dem Jungen namenlose Angst ein.

Mein Eindruck

Dieser nur wenige Seiten umfassende Text dient als Einstimmung auf das, was noch kommen soll. Aber es ist schon eine kleine Selbstbehauptung darin: Geschichten sind so wichtig wie das Leben selbst. Und Tim Burton hätte sicher seine helle Freude daran, wie die Zigeunerkönigin dem Jüngling Furcht einflößt – die dunkle Überhöhung des Lebens durch die Schatten des Todes.

2) Verbotene Bräute gesichtsloser Sklaven im geheimen Haus der Nacht grausiger Gelüste

Ein junger Mann versucht in mehreren Anläufen, einen kunstvollen Roman zu verfassen. Mit seinem Butler diskutiert er, wie eine Geschichte die Wirklichkeit abbilden sollte. Doch immer wieder hört er unzufrieden auf, weil er fürchtet, eine Selbstparodie zu schreiben.

Die Story: Die junge Waise Amelia Earnshaw eilt übers finstere, unheimliche Moor, bis sie zu einem Haus gelangt, wo sie Zuflucht vor den Nachstellungen des Lords Falconmere sucht und Einlass begehrt. Doch der Einzige, der ihr öffnet, ist ein alter knochiger Mann, der sie erkennt, denn dieses Haus sei ihr Erbteil. Wie sich herausstellt, ist das Haus mindestens so gruselig wie das Moor draußen. Ihre Sippe hat vor Jahrhunderten einen Pakt mit Leichenfresser-Ghulen geschlossen. Diese verlangen nun vehement die Erfüllung des Paktes, wonach sie mit Bräuten zu versorgen seien …

Bräute?, wundert sich der junge Autor und wirft seine Feder erneut aufs Manuskriptpapier. Kurz darauf besiegt er seinen Bruder, der für tot gegolten hat, in einem Fechtduell, doch dessen letzte Worte verheißen namenloses Unheil. Da fragt ihn der Rabe, der auf einer Büste hockt, ob ihm diese Schreiberei Vergnügen bereite. Das bezweifelt unser Autor irgendwie, dabei will er doch bloß gute realistische Literatur schreiben wie seine Vorbilder Poe, Radcliffe, Hoffmann, Lewis, und wie sie alle heißen, nicht solchen Phantastikschund wie all die anderen …

Mein Eindruck

Verkehrte, ironische Welt, könnte man sagen. Hier hat der Autor eine Metafiction verfasst, in der er nicht nur die Vorurteile über das, was als „phantastisch“ zu gelten hat, aufs Korn nimmt. Auch verrückt er die Perspektive so sehr, dass sich die gruseligen Geschehnisse als typische Topoi des Schauerromans gegenseitig aufheben und als natürliche Phänomene erscheinen: So ist die Welt und nicht anders – auch dies eine Spitze gegen die sogenannten „Realisten“.

Das i-Tüpfelchen bilden der überkandidelte Titel, der durch Übertreibung alle Pulpfiction-Vorwürfe ad absurdum führt, aber auch das Schlusskapitel unseres Story-Autors: Es spielt in unserer Gegenwart und ist keinen Deut weniger „phantastisch“. Man könnte sagen, diese Erzählung enthält die Literaturtheorie („Ästhetik“) von Neil Gaiman in einer Nusschale.

3) Bitterer Kaffeesatz

Unser Erzähler hat eines Tages die Nase voll und steigt aus. Er setzt sich in den Wagen, räumt seine Konten ab und fährt gen Mexiko. Doch irgendwo zwischen Kentucky und Tennessee nimmt er in einem Motel einen Mann mit, dessen Wagen auf der Landstraße liegengeblieben ist, und fährt ihn zur Unglücksstelle. Der ältere Mann outet sich als christlicher Anthropologe Jackson Anderton mit Spezialgebiet Zombiologie.

An der Straße wartet schon der Abschleppdienst, doch Anderton merkt, dass er seine Brieftasche vergessen hat. Unser Erzähler fährt zurück, holt sie und kehrt um. Doch als er an die Unglücksstelle zurückkehrt, fehlt von Jackson Anderton jede Spur. Nur sein Wagen steht noch da. Doch in seiner Aktentasche findet sich der im Gespräch erwähnte Vortrag für die Konferenz in New Orleans. Das bringt unseren Erzähler auf eine Idee …

Auf der Konferenz lernt der frischgebackene Jackson Anderton nicht nur interessante Frauen kennen, sondern auch eine authentische Santería-Priesterin, die weiß, was ein Zombie ist. Sie verbringen eine Nacht zusammen, und am anderen Morgen befindet sich Andertons Hotelzimmer an genau jenem Ort, den er in „seinem“ Vortrag beschreibt: auf Haiti in Port-au-Prince, und eines der kleinen Zombie-Kaffeemädchen nimmt ihn an der Hand, um ihn hinauszugeleiten …

Mein Eindruck

Der Übergang zwischen Leben und Tod ist fließend, wie dieser Geschichte illustriert – ein kleiner „Schlaf und ein Vergessen“ (Shakespeare) genügen schon, um unser Bewusstsein in die andere Welt zu transportieren. Der Autor definiert hier die Existenzweise des Zombies als Leben ohne Seele, was einem Leben nach dem Tod gleichkommt. Allerdings ließe sich diese Definition auf zahlreiche Menschen anwenden, von denen man im Fernsehen so hört.

4) Gustav hat den Frack an

Ein kleiner Junge sucht sich ausgerechnet einen riesigen Kontrabass als Lieblingsinstrument für den Musikunterricht aus. Doch er wird sehr gut im Unterricht und darf sogar im Musiksaal üben. Als einmal der Fachbereichsleiter mit zwei berühmten Gästen vorbeischaut, soll der Junge zeigen, was er kann. Und weil die Dame so nett und schön ist, tut er das auch. Aber danach kann er nie wieder so gut und inspiriert spielen, denn durch einen Unfall zerbricht er das Instrument, und nach der Reparatur klingt es nicht wieder so wie zuvor.

Mein Eindruck

Das „zerbrechliche Ding“ ist in diesem Fall ein einziger Moment der Genialität und Inspiration. Die Begleitumstände sind günstig und unwiederholbar. Der Autor beschwört diesen Moment einfühlsam herbei, indem er vor allem die Persönlichkeit des Jungen genau beschreibt, so dass wir uns in seine Lage versetzen können. Die Geschichte ist süß und doch bitter, denn der Moment lässt sich nie wieder reproduzieren – Instrument und Spieler verändern sich zu sehr.

5) Wie man auf Partys Mädchen anspricht

Der 15-jährige Enn ist schüchtern, hat aber einen draufgängerischen und charmanten Freund, Vic. Der lädt ihn zu einer Party ein, auf der sie Mädchen aufreißen wollen. Doch die Ortsbeschreibung stimmt nicht genau und sie landen auf einer Mädchenparty, die ziemlich schräg verläuft. Vic schleppt natürlich sofort die schönste Schnecke der ganzen Party ab, die blonde Stella.

Der schüchterne Enn setzt sich zu einem Mädchen, das ganz allein im Wintergarten sitzt. Sie erzählt ihm, sie käme aus einem anderen Universum. Ihr Volk habe den Erdbewohnern Botschaften geschickt, die aber noch nicht verstanden worden seien. Ein weiteres Mädchen outet sich als Besitz einer Familie, ein drittes Girl behauptet, der Geist eines Sternenwesens zu sein, das in der Sonne wohnt. Natürlich glaubt Enn kein Wort davon.

Doch dann kommt Vic aus dem Zimmer gerannt, in das er sich mit Stella zurückgezogen hat, um zu schmusen. Vic ist total in Panik und zerrt seinen Freund aus diesem verfluchten Haus. Stella, so viel kann Enn gerade noch sehen, ist voller Wut über diesen Verrat des Erdlings …

Mein Eindruck

Es soll ja Jungs geben, die sich eine Mädchenparty wie das Schlaraffenland vorstellen und wie eine Biene von einer Mädchen-Blüte zur nächsten flattern, um die Süße zu kosten. Nur dass sich im Fall dieser speziellen Mädchengruppe die Blüten als mehrere Nummern zu groß für die Jungs erweisen, sogar für den Charmeur Vic. Das ist sowohl ironisch als auch romantisch.

Dass die Mädchenpersönlichkeiten ganze Universen darstellen, ist die Verwirklichung der altbekannten Metapher, wonach ein menschliches Bewusstsein wie ein Universum sei. Allerdings erweisen sich diese speziellen Universen als nichtmenschlich. Nicht Enn, die junge Hauptfigur, gruselt sich deshalb, sondern vielmehr der Leser. Obwohl das Konzept dieser Universen aus der SF stammt, ist es doch für jeden leicht verständlich, der über ein wenig Vorstellungskraft verfügt. Feine Arbeit.

6) Eine Studie in Smaragdgrün

Ein Afghanistanveteran macht im London des Jahres 1881 die Bekanntschaft eines „Berateneden Detektivs“ und schließt mit ihm Freundschaft, so dass sie sich in der Folge zusammen eine Wohnung in der Baker Street mieten. Eines Morgens kommt ein Inspektor Lestrade, um den Detektiv um seine Mithilfe in einem Mordfall zu bitten. Der Detektiv weiß auch schon wo: in Shoreditch. Denn nur von dort könne der gelbe Schlamm an Lestrades Schuhen stammen.

Der Tatort, an den der Detektiv seinen Freund mitnimmt, ist gruselig. Die Leiche des Ermordeten wurde regel- und fachgerecht aufgeschlitzt, doch weit schlimmer ist das an die Wand gepinselte Wort „R-A-C-H-E“, dessen grüne Farbe nur vom Blut des nicht ganz menschlichen Toten stammen kann. Der Detektiv belehrt Lestrade, dass es hier nicht um den Namen „RACHEL“ gehe, sondern um das deutsche Wort für „revenge“. Nach der Entnahme einer Portion Asche aus dem Kamin und der Untersuchung einiger Fußspuren gehen die Herrschaften wieder.

Der Tote ist ein böhmischer Prinz und Neffe der Königin. Daher bringt Lestrade die zwei Freunde zur Königin in den Palast. Der deutsche Prinzgemahl Albert begrüßt sie und führt sie zu Ihrer Majestät, eine imposante Erscheinung in den Schatten. Mit der Berührung ihres langen Armes heilt sie die verkrüppelte Schulter des Veteranen, was er ihr niemals vergessen wird. Sie sagt kein Wort, aber was sollte man zu einer der Großen Alten auch sagen?

Der nächste Weg führt in ein Theater an der Drury Lane, recht nahe beim zwielichtigen Viertel St. Giles. Der dritte Akt des Theaterstücks ist dem Auftauchen der Großen Alten gewidmet, das nur auf den vergeblichen Protest eines römischen Priesters stößt. Danach treffen die beiden Freunde den Hauptdarsteller hinter der Bühne, wobei sich der Detektiv als Theaterproduzent aus der Neuen Welt ausgibt, der das Stück nach Manhattan Island bringen will. Leider ist der Autor des Stücks, ein Arzt, nicht zugegen. Doch wenig später schreibt er dem Detektiv einen Brief, der einiges erklärt …

Mein Eindruck

Wie der Kenner sicherlich bereits erkannt hat, herrschen in dieser Parallelwelt mit alternativem Geschichtsverlauf die Großen Alter, also Götter von den Sternen, die sich Äonen lang verborgen gehalten haben. In unserer Welt sind sie Erfindungen eines gewissen H. P. Lovecraft, doch in Neu-Albion existieren sie wirklich. Und sie haben mit den Menschen eine Mischlingsrasse gezeugt, daher das grüne Blut.

Das Christentum ist daher ebenfalls völlig unbekannt, was das Auftreten eines römischen Priesters im Theaterstück erklärt. Außerdem verraten weitere Geschöpfe der Albträume ihre Präsenz durch ihre Werbung, die jedem Abschnitt vorangestellt ist. Ein gewisser Dr. Henry Jekyll preist sein vorsintflutliches Viagra an, und ein gewisser Vlad Tepes stellt sich als „professioneller Blutentnehmer“ vor. Was den Mörder namens Rache angeht, so könnte es sich um Jack the Ripper handeln, auch wenn dessen Morde erst 1888 in die Schlagzeilen kamen.

Dieser Text ist bereits am Anfang als eine Pastiche auf Arthur Conan Doyles „Eine Studie in Scharlachrot“ erkennbar, als der Detektiv – er wird nie mit Namen genannt – den Veteranen sofort als einen Soldaten erkennt, der in Afghanistan gedient hat. Eigentlich sollte unser Chronist John Watson heißen, aber das muss ja in dieser Parallelwelt nicht unbedingt der Fall sein. Seine Initialen lauten S und M.

7) Die wahren Umstände im Fall des Verschwindens von Miss Finch

Der Erzähler ist ein britischer Drehbuchautor, der mit dem Horrorschriftsteller Jonathan und dessen Frau Jane, einer Journalistin und Bestsellerautorin, befreundet ist. Als die beiden ihn einladen, um in den Zirkus und hinterher Sushi essen zu gehen, ist er nicht abgeneigt. Die eigentliche Bitte betrifft jedoch eine gewisse Miss Finch (nicht ihr richtiger Name), die eine gewisse Nervensäge ist, um die sich Jane aber kümmern soll – der Autor soll ihr dabei helfen.

Miss Finch entpuppt sich als eine ganz in Schwarz gewandete, schwarzhaarige, sonnenbebrillte Domina, die als Beruf „Biogeologin“ angibt. Na schön. Bereits auf der Fahrt zum Zirkus nörgelt sie an Sushi herum, indem sie über Fischkrankheiten und das Aussterben bedrohter Arten doziert. Ein richtiger Sonnenschein also. Der Zirkus stellt sich als eine Reihe von Katakomben in Süd-London heraus. Wenigstens werden keine Tiere auftreten, verspricht Jane, doch das ist ein wenig voreilig gesagt.

Artisten, die als Untote, Mönche, Jungfrauen, Werwölfe und so weiter ausstaffiert sind, treten in etwas auf, das der Zirkusdirektor, der „Rocky Horror Picture“ und Alice Cooper zitiert, als sein „Theater der nächtlichen Traumwelten“ tituliert. Die rund fünfzig Besucher werden durch zehn dunkle Räume geschleust, in denen sich im Scheinwerferlicht diverse „Attraktionen“ einschlägiger Art zeigen. Nach fünf Räumen gibt’s ’ne Pause, war ja wohl Zeit. Im neunten Raum, dem der „erfüllten Wünsche“, wird Miss Finch als „Freiwillige“ rekrutiert und steht alsbald in einer Art Arena, die mit dem bevölkert ist, was sie kurz zuvor erwähnt hat: mit echten, knurrenden, hungrigen Säbelzahntigern …

Mein Eindruck

Der Zirkus ist ein Symbol der aktuellen Medienbetriebs für Unterhaltung, in dem die Schrecken von Horror und Fantasy nur noch als Zirkusattraktionen zu goutieren sind. Das Publikum weiß, dass es niemals in die Lage geraten wird, solche Schrecken am eigenen Leib zu erfahren.

Doch dann wendet sich das Blatt, als die drei Autoren und ihre Begleiterin in das Revier erfüllter Wünsche geraten. Der Schrecken, den die prähistorischen Säbelzahntiger verbreiten, ist real und furchteinflößend! Und nur Miss Finch, die sich endlich als Domina und Dompteurin beweisen kann, fühlt sich wie zu Hause. Darum verschwindet sie dort auch …

8) Sonnenvogel

Der fünfköpfige Klub der Epikuräer, der stolz auf eine 150-jährige amerikanische Tradition zurückblicken kann, hat sich mal wieder vollzählig beim Vorsitzenden Augustus Two Feathers McCoy versammelt. Betrübt und ein wenig frustriert stellen die Mitglieder fest, dass es nichts mehr gibt, was sie nicht schon gekostet haben. Selbst das tiefgefrorene Mammut und das patagonische Riesenfaultier können sie abhaken, ja sogar den Tasmanischen Teufel und den Riesenpanda. Und Käfer? Von denen gibt es zwar immer genug, aber sie schmecken alle fade.

Da schlägt Zebediah T. Crawcrustle den Suntown-Sonnenvogel als nächstes Gericht vor. Eine Erfindung? Keineswegs: Gibt es in Suntown, Kairo, Ägypten. Hm. Kommt Augustus McCoy trotzdem irgendwie bekannt vor. Doch leider sind einige der Annalen des Klubs verbrannt. Also wird es beschlossen: Der Sonnenvogel soll es sein. Am Sonntag in drei Wochen ist Abflug.

Ankunft in Suntown, Kairo, das, wie sich herausstellt, frühere Heliopolis (was nichts anders als eben Suntown bedeutet). Im Kaffeehaus von Mustapha Stroheim und seiner Familie quartieren sie sich ein. Zebediah macht sich ans Werk und legt den Köder aus, gewisse Körner und in Brandy getränkte Rosinen. Der Sonnenvogel erscheint wie vorhergesagt – aus der Sonne. Er ist kleiner als ein Truthahn und größer als ein Gockel, hat einen Hals wie ein Reiher, möglicherweise aber auch wie ein Adler.

Fangen und Erlegen sind eins, dann die Zubereitung mithilfe einer Bierdose, die in seinen ausgenommenen Leib gestellt wird. Das Fleisch erweist sich als köstlich, und Virginia Boote ist ebenso hingerissen wie Jack Newhouse, Prof. Mandalay und Augustus McCoy. Diesem fällt es wie Schuppen von den Augen: „Es ist der Phönix!“ Zebediah bejaht und fragt: „Fühlen Sie die Jahre von sich abfallen, Augustus?“ Und ob: Ein Feuer scheint ihn von innen zu verbrennen – genau wie alle anderen, mit einer Ausnahme …

Mein Eindruck

In viktorianischem Tonfall wie ein modernes Märchen von H. Rider Haggard oder Karl May erzählt, führt uns die Geschichte zu ihrem wundersamen Höhepunkt, der exakt der Legende vom Phönix entspricht, eben jenem Sonnenvogel aus Heliopolis, von dem schon die alten Dichter sangen. Die finale Wendung ist so ironisch wie moralisch gerechtfertigt. Denn die Völlerei und Zerstörungswut der Epikuräer sind natürlich Sünden, die bestraft werden müssen – so viel verlangt unser Rechtsbewusstsein. Die Pointe stellt sich am Schluss der Geschichte heraus, doch sie darf hier nicht verraten werden.

9) Fressen und gefressen werden

Ein Mann nimmt sich eine Auszeit und fährt in eine andere Stadt, wo er in eine Kneipe geht. Dort spricht ihn ein alter Bekannter namens Eddie Barrow, an den er sich kaum noch erinnert. Und den er erst recht kaum erkennt, denn Eddie Barrow hat sich entsetzlich verändert: Er ist völlig abgemagert und sieht verhärmt aus. Das Leben hat es nicht gut mit ihm gemeint. Aber er will seine Geschichte loswerden. Und die geht so:

Die Frauen fuhren schon immer auf Eddie ab, weil er so gut aussah. Das ging auch seiner alten Nachbarin Mrs. Corvier so, die das andere Zimmer auf dem Dachboden bewohnte. Sie schenkte ihm Pilze, Blumen und andere Aufmerksamkeiten. Erst als er nichts mehr von ihr hörte, besuchte er die Alte. Sie lag im Bett und stöhnte, sie brauche frisches Fleisch. Null problemo, dachte sich Eddie, und kaufte feinstes Hackfleisch. Sie verschlang es roh und wurde wieder gesund.

Dann aber verschwand die Katze, Thompson. Als er das Tier in Mrs Corviers Wohnung abgemagert und abgenagt vorfand, tötete er es. Das betrübte Mrs Corvier sehr: „Vom wem bekomme ich jetzt mein Fleisch?“ fragte sie ihn flehend. Es gab nur eine Antwort …

Kaum hat Eddie geendet, klopft es an das Fenster der Scheibe: eine langjahrige Frau, die höchstens dreißig Jahre alt sein kann. Eddie geht sofort zu ihr, nimmt sie in den Arm und zusammen schlendern sie von dannen. Sein Besucher jedoch denkt schaudernd an den Anblick von Eddies rechter Hand zurück, die nur einen Augenblick aus der Hosentasche lugte: Drei Finger sind noch übrig und ein Teil der Daumens …

Mein Eindruck

Die Geschichte erzählt von einer verzehrenden Liebe, einer buchstäblich vampirischen Liebe, die aber nicht verweigert werden kann. Eddie, dem sich die Frauen stets anboten, wird nun selbst das Opfer von einer, und sie begnügt sich nicht mit dem kleinen Finger, sondern knabbert gleich an der ganzen Hand: Frischfleisch!

Als wäre die Geschichte nicht schon makaber und ironisch genug, wird sie auch noch grotesk durch die Schlusspointe. Der Erzähler trifft im Zug eine Frau, die in einer Flasche Formaldehyd einen eingelegten Säugling transportiert: mehr Frischfleisch.

Die Geschichte verrät eine pathologische Furcht vor der verschlingenden und gebärenden Natur der Frau, an der Freud seine helle, äh, Freude gehabt hätte. Aber man sollte nicht den Fehler machen, Neil Gaiman mit dem Erzähler zu identifizieren. Es ist nur eine |persona|, also eine Maske, die er sich aufsetzt, um seinen Schabernack zu treiben.

10) Virusproduzentenkrupp

Der pseudowissenschaftliche Text beschreibt, wie sich eine fiktive Krankheit unter Leuten verbreitet, die sich stets neue Viren und solches Zeug ausdenken, um es beschreiben und katalogisieren zu können. Der Autor denkt sich neben möglichen Ursachen sogar eine Heilmethode aus, die ebenso abgefahren ist. Aber es wird schließlich offensichtlich, dass der Autor des Textes selbst Opfer dieser Krankheit geworden ist, denn sein Satzbau wird zunehmend wirrer.

Mein Eindruck

Der Text ist eine Parodie auf medizinische Texte über Krankheiten, so viel ist klar. Also kommt es darauf an, was für eine Art von Krankheit beschrieben wird. Das ist nicht so klar.


11) Goliath

Ein großwüchsiger Mann – nennen wir ihn einfach Goliath, weil das naheliegend ist – erlebt eines Tages, wie die Farben der Welt zerfließen. Wahrlich kein schöner Anblick. Zu allem Überfluss tritt ein Mann mit Hornbrille auf, der sich entschuldigt, dass so etwas nicht nochmal vorkommen soll, und wieder verschwindet. Wenige Jahre später erlebt Goliath einen ähnlichen Wirklichkeitszerfall, nämlich als seine U-Bahn eigentlich in die Station Euston einfahren soll, es dann aber mehrmals tut – ganz so, als würde das System der Realität ins Stocken geraten. Das bringt ihn auf den kühnen Gedanken, dass diese Realität vielleicht nur für ihn individuell wirklich ist, dass sich aber dahinter etwas ganz anderes verbirgt. Dann sind die Menschen vielleicht nur Speicher für irgendwelche Maschinen.

Eines Morgens wacht er in seinem 17. Lebensjahr auf – er hat eine Zeitschleife durchlaufen, kann sich aber nicht mehr an sein früheres Leben erinnern. Er geht zur Luftwaffe und steigt dort in den Geheimhaltungsstufen unaufhaltsam auf, bis ihm jener Mann mit der Hornbrille mitteilt, dass die Aliens die Erde angreifen würden und man Goliath brauche, um sie zu vernichten. Also steigt der Pilot in das supergeheime Fluggerät, um das Mutterschiff der Aliens zu vernichten, was ihm auch problemlos gelingt.

Leider teilt ihm die zentrale Realitätssteuerung mit, dass seine Rückkehr nicht eingeplant war. Kurz bevor sein Sauerstoff zur Neige geht, bittet er um eine Versetzung in sein früheres Leben …

Mein Eindruck

„Frankenstein“ trifft „Matrix“ trifft „Independence Day“ – so könnte man den Plot auf eine griffige Formel bringen. Und man fragt sich, bei wem Neil Gaiman eigentlich zuerst abgeschrieben hat, vielleicht bei Philip K. Dick und Mary Shelley. Wie auch immer – die Story ist ein flott erzähltes SF-Abenteuer mit mehr Tiefgang und Einfallsreichtum als die meisten Kyborg- und Androidengeschichten.

Für Kenner des SF-Genres ist die Story ein postmoderner Leckerbissen: Sie verbeißen sich in die genannten Fundstücke, die Gaiman neu zusammengesetzt hat. Puristen stöhnen wahrscheinlich wegen der unübersehbaren Vorbilder auf. Aber sie wissen, dass sie auf verlorenem Posten stehen.

12) Oktober hat den Vorsitz

Wieder mal haben sich die Monate am Lagerfeuer versammelt, um einander Geschichten zu erzählen. Heute hat Oktober den Vorsitz, das bedeutet, dass er als Letzter erzählen wird. Die von September stellt sich als bereits bekannt heraus, und die von Juni ist ziemlich kurz. Deshalb erklärt April sie für verrückt. Schließlich ist Oktober dran. Dies ist seine Geschichte …

Der junge Donald ist der jüngste der drei Brüder und wird von den älteren Zwillingen deshalb „Zwerg“ genannt und ständig getriezt und gehänselt. Als ihm das auch in der Schule widerfährt, beschließt er im Alter von zehn Jahren, von zu Hause wegzulaufen. An einem besonders schlimmen Freitag, nachdem ihn die Zwillinge malträtiert haben und zu ihrer Freundin gegangen sind, läuft er weg.

Er nimmt den Bus nach Westen, bis er an einen Fluss gelangt. Er erinnert sich, gelernt zu haben, dass alle Flüsse zum Meer fließen, und dort war er noch nie. Also geht er am Fluss entlang, bis er so müde wird, dass er sich bei einem leerstehenden Bauernhaus schlafen legen kann. Er erwacht bei Vollmond, als eine Stimme ihn fragt: „Woher kommst du denn?“ Wie sich herausstellt, gehört die Stimme einem Jungen namens Innig. Als Donald sagt, er komme von weit her, bewundert ihn Innig. Das gefällt Donald, und so schließen sie Freundschaft.

Zusammen erkunden sie das Land, ganz besonders aber den alten Friedhof, auf dem Innigs Grab liegt. „Innig geliebt und nie verg…“ steht darauf. So möchte Donald auch einmal von seiner Familie geliebt werden. Aber ihm geht der Proviant aus, und er möchte in einem der leeren Häuser schlafen, als Innig fort ist. Doch er weiß, das eines der Häuser zwar nicht bewohnt wird, aber trotzdem nicht leer ist. Er geht hinein …

Mein Eindruck

Diese schöne Geschichte erinnert den kundigen Leser an gewisse Autoren der Phantastik. Tatsächlich hat der Autor sie seinem großen Vorbild Ray Bradbury gewidmet. Wie in Bradburys Roman „Löwenzahnwein“ und vielen Storys (man denke auch an „October Country“) erlebt ein Junge die fremdartige Welt und findet gar nichts dabei, sich mit einem Geist anzufreunden. Der hohe Wert der Freundschaft findet sich nicht leicht und man muss bereit sein, einiges zu opfern, um sie zu erhalten und auszukosten. Eines der Opfer ist das eigene Leben …

13) Der Herr des Tals (eine „American Gods„-Novelle)

Shadow ist eine Inkarnation des nordischen Gottes Baldur, aber dazu bekennt er sich nicht und posaunt es auch nicht hinaus. Dennoch scheint man sich hier oben im schottischen Norden sehr für ihn zu interessieren. Dr. Gaskell engagiert ihn als Security für das Fest von Reichen, das in einem nahen Haus am See stattfinden soll. Er soll das Haus vor den einheimischen Störenfrieden schützen. Bei 1500 Pfund für zwei Tage Rumstehen sagt Shadow nicht nein. Aber die Kellnerin seines Gasthauses, Jennie, warnt ihn vor Gaskell und dem Haus am See. Sie stammt selbst ursprünglich aus Norwegen, ist womöglich eine Frau aus dem Wald, eine Hulder. Was weiß sie, was sie ihm nicht sagt?

Der Job im Herrenhaus am See lässt sich ganz locker an, nachdem ihn ein Vorarbeiter abgeholt und eingewiesen hat. Die Gäste kommen ebenso wie der Proviant, die Bedienung und die Utensilien per Helikopter. Shadow trägt sein Teil dazu bei, das Zeug auszuladen und zu verstauen. Mit den weiblichen Gästen bändelt er nicht an, denn der Vorarbeiter hat ihm eingeschärft, die „Nobeltussen“ nicht anzurühren. Zu guter Letzt kommt der Chef von det Janze, ein gewisser Mr. Alice, und der Vorarbeiter stellt ihm Shadow vor. Wieso das den Chef interessieren sollte, findet Shadow merkwürdig. Er hat Träume mit bösen Vorahnungen.

Diese Vorahnung trügt nicht, denn am Samstag, dem Abend von Besäufnis und Zeremonie, bauen die Gäste zwei große Scheiterhaufen auf. Vom Dachboden muss Shadow große Trommeln sowie Säcke voller „Trommelstöcke“ holen und alles vor den Scheiterhaufen bereitlegen. Am Abend geht’s dann los, und die Holzstapel werden entzündet. Jetzt endlich klärt Mr. Alice Shadow über seine wahre Rolle auf. Shadow, der Hüne, soll gegen den Champion der Einheimischen antreten, und zwar in einem Kampf Mann gegen Mann. Shadow vertrete die Seite der Menschen gegen jene Wesen, die nicht menschlich seien. Shadow erkennt lediglich, dass er aufs Kreuz gelegt wurde. Was kommt denn noch?

Dröhnende Trommeln und wildes Geheul seitens der Gäste rufen endlich den Gegner herbei: Der nackte Mann, der in die Umzäunung tritt, kommt Shadow bekannt vor: Es ist jener junge Hüne, der im Gasthaus mit seiner Mutter Tomatensuppe gegessen hat und sich über den Lärm beschwerte. Shadow sieht keinen Grund, ihn zu töten, aber er kann den ersten Schlag seines wütenden Gegners, der sich wieder über den Lärm beklagt, nicht ignorieren. Der Kampf beginnt …

Mein Eindruck

Die Erzählung führt zahlreiche Elemente zusammen, um die Beowulf-Legende zu neuem Leben zu erwecken. Grendel ist hier kein Drache aus dem See, sondern ein Hüne, der alljährlich gegen den Champion antritt, den die Menschen stellen. So wie Shadow diesmal die Rolle des Recken Beowulf ausfüllt, so spielt Mr. Alice die Rolle von Hrothgar, dem Fürsten, der Beowulf als Drachentöter engagiert.

Weil dieses Schauspiel jedes Jahr erneut aufgeführt wird, wird der Mythos stets mit neuem Leben erfüllt und weitergeführt. Der Ausgang des Kampfes entscheidet offenbar darüber, wer „Herr des Tals“ sein wird, also Herrscher über dieses Land. Und dieses Land gehörte bis ins 16. oder 17. Jahrhundert hinein den Wikingern, die es nicht Schottland, sondern Süderland bzw. Sutherland nannten, weil es südlich von ihren Ländern lag. Daher ist auch die Anwesenheit der Hulder von Bedeutung. Als Shadows Helferin entscheidet sie über den Ausgang des mythischen Kampfes, nicht etwa Shadow. Und das bekommt den Gästen gar nicht gut …

Dass eine Frau den Ausschlag gibt, ob das Ungeheuer besiegt wird und stirbt, ist mal eine neue Wendung des Mythos. Diesmal stirbt Grendel nicht, was die Enttäuschung bei Mr. Alice nicht gering werden lässt. Es war auch offenbar vorgesehen, dass Shadow den Kampf nicht überlebt – so oder so. Dass er es dennoch tut, stellt eine Gefahr für Mr. Alice dar, denn niemand soll von seinen tödlichen Schaukämpfen hier erfahren. Wo bliebe sonst die Exklusivität und die Ungestörtheit?

Nur ein Faktor war mir nicht ganz klar: die Wikinger, die Shadow in seinem Traum mehrmals sieht. Sie nennen ihn Balder, wie den Gott, doch er will nichts von ihnen wissen. Entscheidet der Ausgang des Kampfes über ihre Rückkehr nach Schottland? Gut möglich.

14) Am Ende

Am Anfang gab es den Garten, und darin stand ein Baum. Und der Herr sah, dass es gut war. Da kamen Erde und Atem in den Garten, brachten Äpfel und verteilten sie an Schlange, der am Ost-Tor Wache stand. Und so weiter …

Mein Eindruck

Es wäre witzlos, die Geschichte, die nur eine Seite einnimmt, nachzuerzählen, denn dadurch würde die Pointe verdorben werden. Wichtig ist nur, dass hier auf ironische Weise das Paradiesgleichnis erneut erzählt, aber völlig gegen den Strich gebürstet wird. Dies ist deshalb nicht der legendäre Anfang des Menschengeschlechts inklusive Sündenfall, sondern sein Gegenentwurf, in dem alles gut abläuft.

Die Übersetzung

Während die Übersetzung von „Herr des Tals“, die Karsten Singelmann anfertigte, außerordentlich stimmungsvoll und stilistisch hervorragend gelungen ist, hatte ich mit einigen Details der Riffel-Übersetzungen meine Schwierigkeiten.

Schon auf Seite 54 geht es los. Da erzählt die Santería-Priesterin dem Hochstapler „Anderton“ in New Orleans von ihrem Stammbaum. Doch die Bezeichnungen können nicht stimmen, wenn sie sagt: „Mein Bruder hatte sogar ein wenig japanisches Blut. Sein Bruder – mein Onkel – sieht sogar wie ein Japaner aus.“ Es leuchtet wohl ein, dass der Bruder ihres Bruders nicht ihr Onkel sein kann, sondern folglich der VATER ihres Bruders sein muss.

Ungewöhnliche Wörter:

Seite 163: „Tontinenversicherung“: Eine Form der Annuität, die sich für jeden Versicherten erhöht, falls andere Versicherte sterben sollten. Eine Annuität ist eine jährliche Auszahlung als Rückzahlung für eine Investition bzw. Prämieneinzahlung.

Seite 212: „Die Jalape ist alkalisch.“ Dieses Wort bezeichnet eine mexikanische Wurzel, die als Abführmittel (Laxativ) eingesetzt wird.

Fehlt eine Zeile?

Der schwierigste Fall taucht ebenfalls auf Seite 212 auf. Schwierig ist der Fall deshalb, weil ich nicht entscheiden kann, ob es sich um ein vom Autor beabsichtigtes oder um ein vom Übersetzer versehentlich verursachtes Merkmal handelt: In letzterem Fall fehlt nämlich eine Zeile!

Dies ist der fragliche Satz: „Es wurde beobachtet, dass Schlafentzug und das Kochen // von zwei Unzen kurz vor dem Zeitpunkt des Erstickens; das Gesicht schwillt an und wird aschfahl, der Rachen ist eine erbliche Neigung, und die Zunge übernimmt die natürlichen Charakteristika der Lungenflügel, zu allem Übel.“

Wie leicht zu erkennen, ergibt der ganze Satz keinerlei Sinn. Aber auch der erste Halbsatz ist sinnlos, weil ihm nämlich das sonst stets eingefügte Verb fehlt. Deshalb meine ich, dass hier eine Zeile fehlen könnte. Und das wäre nicht schön.

Unterm Strich

In seinen Erzählungen erweist sich Neil Gaiman als sehr belesener Autor, der sich oft ein besonderes Vergnügen daraus macht, entweder Vorbilder wie etwa Ray Bradbury nachzuahmen oder berühmte Autoren wie Lovecraft und Arthur Conan Doyle gegen den Strich zu bürsten. Diese postmoderne Haltung zeigt sich am deutlichsten in der Sherlock-Holmes-Parodie „Eine Studie in Smaragdgrün“ und in „Goliath“, wo sich die Hauptthemen von „Matrix“, „Independence Day“ und „Frankenstein“ treffen.

Die zufriedenstellendste postmoderne Geschichte ist sicherlich die Novelle „Der Herr des Tals“, in dem der Held Shadow aus „American Gods“ die Rolle von Beowulf spielen soll und sich als richtiger Spielverderber erweist, als er eine Frau als Helferin hinzuzieht. Hier spielt die Landschaft des schottischen Nordens eine tragende Rolle, weshalb ich mir die Geschichte auch gut als Verfilmung vorstellen könnte.

Man kann dieses Buch an jeder beliebigen Stelle aufschlagen und wird sofort eine interessante Idee, eine gewagte Beschreibung oder verblüffend-provokante Aussage finde. Ein Buch, das mit keinem Beitrag langweilig ist. Opfer der Zeitdiebe lesen die superkurzen Storys von zwei bis zehn Seiten. Leute mit mehr Zeit auf ihrem Konto können ihr Vergnügen auf bis zu 70 Seiten auskosten.

Eigentlich gefiel mir nur der Text „Virusproduzentenkrupp“ nicht. Ich fand seine medizinische Ausdrucksweise geschraubt und schwer verständlich (siehe unter „Übersetzung“), mal ganz davon abgesehen, dass die Sätze keinen Sinn ergeben (dito). WARNUNG: Manche Geschichten sind für Leser erst ab 16 Jahren geeignet, da die erotische Schilderung doch mitunter etwas drastisch ausfallen kann!

Für Gaiman-Fans dürfte die Sammlung jedoch ein Leckerbissen sein, denn es ist schon eine ganze Weile her, dass der |Heyne|-Verlag mit „Die Messerkönigin“ die letzte Storysammlung Gaimans veröffentlichte. Dieser Band ist ebenfalls ständig vergriffen oder wird zu hohen Preisen gehandelt. Fans, denen „American Gods“ gefallen hat, dürften sich auch auf die Novelle „Der Herr des Tals“ stürzen, in der Shadow erneut auftritt. Kurzum: ein Sammlerstück.

Gebunden: 329 Seiten
Originaltitel: Fragile things, 2006
Aus dem US-Englischen von Hannes & Sara Riffel sowie Karsten Singelmann
ISBN-13: 978-3-60893876-0

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