Mamatas, Nick – Unter meinem Dach

_Das Königreich Weinbergia grüßt die Welt_

In naher Zukunft: Der Krieg der USA gegen den Terror ist eskaliert, und Vater Daniel Weinberg hat die Schnauze voll: Er bastelt zusammen mit seinem Sohn Herbert eine Atombombe, erklärt sein Grundstück auf Long Island zur unabhängigen Nation und bietet den Kriegsgegnern der USA Friedensverträge an. Weinbergia wird fortan zum Mekka der Aussteiger.

Aber kann die junge Nation dem Druck standhalten? Können Pizzalieferungen aus dem angrenzenden imperialistischen Ausland die frischgebackene Atommacht lange genug am Leben erhalten? Reichen die Bierdosen im Kühlschrank, um eine langfristige Blockade durch die amerikanischen Soldaten auszusitzen? Mama Weinberg bezweifelt dies irgendwie und begibt sich ins Exil.

_Der Autor_

Nick Mamatas ist ein junger amerikanischer Autor griechischer Abstammung, der mit seinen Romanen „Abwärts: Move underground“ und „Northern Gothic“ aufhorchen ließ und viel positive Kritik einheimste. „Unter meinem Dach“ ist sein neuester Roman und für den deutschen Kurd-Laßwitz-Preis 2008 nominiert.

_Handlung_

Der junge Herbert Weinberg ist ein Gedankenleser und erzählt uns, seinem Publikum, haarklein, welche haarsträubenden Dinge er auf diesem Wege über seine lieben Mitmenschen erfährt. Dabei bemüht er sich, keine Vorurteile seinen Blick verstellen zu lassen. Auch nicht über die amerikanischen Soldaten, die sein Haus umstellt haben. Und das kam so …

Vater Daniel hat seinen ersten und dann noch den Ersatz-Job verloren, weil mal wieder eine Sparwelle durch die Firma fegte. Nun sammelt er dies und das. Aber weil Daniel ein findiger Bursche ist, weiß er auch, woher man sich spaltbares Material besorgt. Zusammen mit seinem Sohn Herbie durchforstet er die nächste Müllkippe auf Long Island, um nach Rauchmeldern und Barometern zu suchen. Rauchmelder enthalten ein Bauteil aus Americium, und dies lässt sich durch diverse chemische Prozesse in Uran-235 und -238 umwandeln.

Vater hat ein altes Hippie-Handbuch gefunden und mixt nun das spaltbare Material in seinem Keller. Um ein Haar werden er und Sohnemann von Mami Weinberg (Geri) erwischt, doch sie können sie noch einmal beschwindeln. Sobald sie zwei Komponenten sowie den nötigen Sprengstoff und Zünder beisammen haben, stopft Paps die Höllenmaschine in seinen großen Gartenzwerg und stellt diesen harmlos aussehenden Zeitgenossen wieder in seinem weitläufigen Garten auf. Dann erklärt er die Unabhängigkeit seines Königreichs. Es ist nicht ganz zufällig der 11. September, der Patriot Day.

Im Zeitalter der modernen Kommunikationsmittel ist auch das Unterfangen der Verkündung nicht schwierig. Paps muss seine Unabhängigkeitserklärung nur übers Radio verlautbaren und per Fax und Mail an die Regierungen aller existierenden Länder schicken. Den Feinden Amerikas bietet er einen Friedensvertrag an, denn er hat es satt, dass Amerika so viele Feinde hat. Als Erstes tauchen die Nachbarn auf, dann das FBI, das sich dezent nach Weinberg erkundigt. Herbie kann die Gedanken der Agenten lesen. Schließlich stehen eines Morgens die Panzer der Armee am Rande des Grundstücks, und der Befehlshaber fordert Danny auf, sich zu ergeben.

Die befreundete Republik Palau warnt die USA vor einem internationalen Zwischenfall und versichert Weinbergia ihres Beistandes und ihrer Solidarität. Wo ist Palau überhaupt, fragt sich Herbie und wird in der Südsee fündig. Aha, 1992 von den USA in die Unabhängigkeit entlassen, schau an. Der Beinahe-Zwischenfall veranlasst Mama Weinberg, schon immer etwas nervöser, das Haus zu verlassen und sich in die Obhut eines Rechtsanwalts zu begeben. Sie versucht, Herbie da rauszuholen, bevor das Haus zerbombt wird.

Nicht lange, da erfreuen sich Vater und Sohn Weinberg der Solidarität diverser Nachbarn. Bemerkenswert sind zwei Frauen mit Pizza, die einfach hier wohnen bleiben wollen. Die ältere, Adrienne, hat es offenbar darauf abgesehen, den König zum Ehebruch zu verleiten, und die jüngere, Kelly, wirft ein Auge auf den halbwüchsigen Prinzen Herbie, der besser mit Computern als mit Mädchen umgehen kann. Weinbergia bietet mehr und mehr Aussteigern Asyl. Die Paranoia des modernen Amerika schlägt zwar hohe Wellen, doch Papa Weinberg lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

Leider schafft es Mama Weinberg, Herbie loszueisen und mit sich zu nehmen. Sie hat sich einer christlichen Erweckungsgruppe angeschlossen und tritt mit ihrer Geschichte im Fernsehen auf. Unterdessen beobachtet Herbie per Gedankenlesen, wie sich die Lage in Weinbergia zuspitzt. Als Papa Weinberg beschließt, eine Expedition ins feindliche Ausland zu wagen, um die unabhängige Exklave des nächsten Supermarktes zu besuchen, glaubt die amerikanische Armee, nun sei die Gelegenheit günstig.

Doch die Dinge entwickeln sich keineswegs so, wie alle erwartet haben …

_Mein Eindruck_

Ich habe diesen kurzweiligen Roman binnen eines Nachmittags und Abends gelesen. Da die Sätze so kurz sind und das Geschehen so einfach zu verstehen ist, braucht man seine Hirnzellen nicht allzu sehr anzustrengen, um den Sinn und die Botschaft zu kapieren. Das meiste liest sich sowieso wie eine Episode aus der Familien-Soap-Parodie „Die Simpsons“. Manchmal allerdings gerät die internationale „Politik“ in den Fokus des Geschehens – wenn man den Solidarpakt mit Palau dazurechnen darf. Denn einer der Gründe, warum das Buch so unterhaltsam ist, liegt darin, dass stets Interessensvertreter nur direkt und persönlich auftauchen (auch per Gedankenlesung), so dass ständig ein lebhafter Dialog besteht.

|Der Austritt|

Natürlich wundert sich der deutsche Leser, wieso überhaupt ein Amerikaner auf die Idee kommen kann, sich und sein Grundstück für unabhängig zu erklären. Das ist in der amerikanischen Verfassung und Unabhängigkeitserklärung begründet. Bekanntlich sind die USA eine Union von Staaten, die dem Bund beigetreten sind. Nach der Eroberung der Indianergebiete mussten sich die Territorien erst den Status des Bundesstaates erwerben. Theoretisch könnten sie ihn auch wieder verlieren (wie es Springfield im [Simpsons-Film]http://www.powermetal.de/video/review-1149.html ergeht) oder gar aus dem Staatenbund austreten. Autarkiebestrebungen hat es offenbar immer wieder gegeben, und Vermont ist bekanntermaßen einer der renitentesten Bundesstaaten. Klar, dass Vermont dem neuen Weinbergia seine Solidarität erklärt.

|Vorbilder|

Die Grundidee des Austrittes aus der Union ist nicht gerade taufrisch. Schon 1985 veröffentlichte Marc Laidlaw, ein Vertreter des Cyberpunk in der SF, seinen satirischen Roman [„Dad’s Nuke“]http://en.wikipedia.org/wiki/Dad’s__Nuke (deutsch bei |Goldmann| 1987 unter dem Titel „Papis Bombe“). Darin errichtet ein Familienvater ein Atomkraftwerk auf seinem Grundstück. Die USA sind zu dem Zeitpunkt allerdings schon in einen Flickenteppich von Kleinstaaten zerfallen. Auch die Idee kleinster unabhängiger Staaten ist weltweit immer wieder umgesetzt worden. Diese Mikrostaaten geben eigene Briefmarken etc. heraus, was den Sammlern nur recht sein kann.

|Warum Autonomie?|

Die Grundfrage finde ich nicht besonders gut beantwortet: Warum erklärt sich Weinberg überhaupt für unabhängig und gründet einen Staat? Nun, die USA haben ja bekanntlich dem „Terror“ an sich den „Krieg“ erklärt und mit dem Patriot Act und dem Heimatschutzministerium das Fundament für ein faschistisches Regierungssystem gelegt. Der Rechtsruck schränkt bürgerliche Freiheiten ein, lässt der Wirtschaft freie Hand und schließt Minderheiten aus – von der Paranoia hinsichtlich feindlicher Ausländer ganz zu schweigen. Weinberg bietet eine Alternative: Sein Friedensangebot an den islamischen Orient und das Asyl, das er sogar misstrauisch beäugten Kanadiern („die weiße Gefahr!“) gewährt, sind ein Beispiel für den guten Amerikaner, wie es ihn irgendwann mal gegeben haben mag.

|Guter oder schlechter Amerikaner?|

Die Nachbarn stellen prompt die kritische Frage, ob Weinberg ein guter oder ein mieser Amerikaner sei. Weinberg sagt, er sei überhaupt kein Amerikaner mehr. Na, wenn das nicht mieser Patriotismus ist! Fortan müssen die Weinbergs und ihre Asylanten Wache schieben. Die Frage nach der Liebe des Vaterlandes ist das immer gleiche Totschlagargument, das sich jeder Kritiker der Regierung in den USA gefallen lassen muss. Man muss offenbar sieben Kinder vorweisen können, um wie die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhaus Nancy Pelosi den Präsidenten kritisieren zu dürfen.

|Panorama der Neurosen|

Herbie kann die Gedanken aller lesen. Seine Fähigkeit wird nie auch nur im Ansatz begründet, aber es ein gutes Mittel des Autors, um Herbie zu einem allwissenden Erzähler zu machen. Auf diese Weise erleben wir nicht nur den recht begrenzten subjektiven Blickwinkel Herbies und seines Vaters, sondern auch die ansonsten verborgenen Meinungen, Ansichten und Gefühle der Menschen um ihn herum.

Ein kleiner Mikrokosmos entsteht, den ich sehr interessant gestaltet fand. Die Widersprüche zwischen Gedanken und Worten lassen jede Menge Ironie entstehen. Hier werden dann die Werte und Verklemmtheiten der amerikanischen Mittelklasse à la „Desperate Housewives“ und anderen Suburbia-Dramen auf die Schippe genommen. Dass auch die Zwangsneurosen der Militärs bloßgestellt werden, versteht sich von selbst. Der Showdown im Supermarkt bietet wieder köstliche satirische Action, mit Ironie vermengt.

|Die Übersetzung|

Ich will die Druckfehler außer Acht lassen und mich auf die Stilfehler und dergleichen beschränken. Auf Seite 29 wird Herbies Dad mit „ihre Lordschaft“ bezeichnet. Richtiger wäre wohl angesichts seines männlichen Geschlechts, von „seiner Lordschaft“ zu sprechen.

Auf Seite 61 steht ganz unten der holprige Satz: „Es fiel schwer, zu denken, geschweige den, die Gedanken anderer Leute aufzuschnappen.“ Statt „den“ sollte es „denn“ heißen, und ob das erste Komma vor „zu denken“ stehen muss, bezweifle ich.

Ansonsten ist Körbers Übersetzung ein Paradebeispiel für lebhaften und anschaulichen Stil, der insbesondere idiomatische Redewendungen ausgezeichnet ins Deutsche überträgt. Die Figuren reden wie Deutsche ihre eigene Umgangssprache und wirken so wesentlich realistischer, als wenn sie gestelztes literarisches Deutsch (im Original natürlich Englisch) reden würden.

Wundervoll passend finde ich das Titelbild. Man muss schon genau hinsehen, um die kleine Bombe zwischen all den Sternen auf der Flagge zu finden.

_Unterm Strich_

„Unter meinem Dach“ ist eine flotte und sehr humorvolle Satire über den heutigen Zustand der amerikanischen Gesellschaft. Sie ist zunehmend von Paranoia und dem Verschwinden der Mittelschicht geprägt (was ja bei uns auch nicht anders ist). Die Simpsons lassen schön grüßen, inklusive amerikanisch-christlicher Erweckungsbewegung. (Offenbar darf nie eine Epiphanie fehlen.)

Als Sciencefiction kann man nur zwei Aspekte bezeichnen: den Austritt aus der Union und das Gedankenlesen des Erzählers. Wer also eine kurzweilige Satire auf den American Way of Life lesen möchte, die auf dem aktuellen technischen und kulturellen Stand ist, der ist hier an der richtigen Adresse.

Der relativ hohe Preis von knapp 13 Euro ergibt sich aus der niedrigen Auflage. |Edition Phantasia| ist eben keiner der großen Verlage. Aber dafür werden hier die interessantesten Bücher innerhalb des phantastischen Genres verlegt.

|Originaltitel: Under my Roof, 2007
149 Seiten
Aus dem US-Englischen von Joachim Körber|
http://www.edition-phantasia.de

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