Brodno ist ein Viertel der polnischen Hauptstadt Warschau, das für seine vielen Plattenbauten bekannt ist. In sozialistischer Vergangenheit rasch und kostengünstig hochgezogen, beginnen sie zu bröckeln und sind im „neuen“ Polen recht unbeliebt, weshalb viele Wohnungen leerstehen. Für das junge Paar Agnieszka und Robert ist das von Vorteil, denn Wohnraum ist billig in diesen Mietshäusern.
Die Freude an der ersten gemeinsamen Wohnung verfliegt indes rasch, denn just beim Einzug wird in einem der Fahrstuhlschächte der Kopf eines Mieters gefunden. Offensichtlich hat der Mann in einem Anfall selbstmörderischer Angst durch das Türfenster kriechen wollen und wurde durch den anfahrenden Fahrstuhl enthauptet.
Agnieszka ist folgerichtig in den nächsten Tagen recht nervös. Das verstärkt sich, als sie Stimmen zu hören beginnt und ein grässlich entstelltes Kinderphantom zu sehen glaubt. Etwas Schreckliches ist offensichtlich in diesem Gebäude geschehen. Leider merkt Robert überhaupt nichts und ist deshalb keine Unterstützung. Zwar erleben auch andere Mieter inzwischen Seltsames, doch es ist ein anonymes Wohnen in diesen Mauern.
Die Erscheinungen nehmen an Intensität und Bedrohlichkeit zu. Schließlich wird es unmöglich, das Haus zu verlassen. Für die Außenwelt scheint es nicht mehr zu existieren. Innen steigt die Spannung. Man ist dem Fremden jetzt ausgeliefert, aber es bleibt mehr als genug Raum für Eifersüchteleien und Zank. Erst allmählich wird deutlich, dass auch dies von der unbekannten Macht geschürt wird. Das Haus verwandelt sich in einen brodelnden Kessel ungezügelter Emotionen, der mit der Zunahme bizarrer Manifestationen überkocht. Die Ursache des Grauens muss gefunden und entschärft werden, doch nur ein alkoholkranker Journalist, ein pubertierender Jungmann und die verängstigte Agnieszka finden die Kraft, sich dieser Herausforderung zu stellen …
Ein „Domofon“ ist eine Wechselsprechanlage. Man findet sie an den Eingängen großer Mietshäuser, wo sie den Mieter im zehnten Stock mit dem Hausgast verbindet, der weit außer Sicht und gesichtslos Einlass fordert. Schon in der Realität ist so ein Gerät also eine fragwürdige Errungenschaft. Zygmunt Miloszewski geht einen Schritt weiter und verwandelt ein ganzes Mietshaus in eine gigantische Relaisstation zwischen der Realität und dem Jenseits. Die Realität vermischt sich mit der Vergangenheit, und Menschen lassen sich von Gespenstern nicht mehr unterscheiden; kein Wunder, ist doch in diesem Haus die Existenz für beide so traurig, dass sie ohne echtes Leben zu vegetieren scheinen.
Miloszewski wollte keinen ’normalen‘ Gruselroman schreiben. Schon die Struktur soll dies deutlich machen. „Domofon“ erzählt keine fortlaufende Handlung, sondern setzt sich aus Fragmenten zusammen. Die Geschichten der Hausbewohner bleiben zunächst so isoliert, wie die Mieter in diesem Plattenbau leben. Hinzu kommen unkommentierte Tonbandaufnahmen, die ein schon abgeschlossenes Geschehen dokumentieren. Erst allmählich setzt sich das Gesamtbild zusammen – eine Möglichkeit, die diffuse Grenzlinie zwischen der Realität und dem Übernatürlichen zu betonen und den Leser in Unsicherheit zu versetzen: Was geht da wirklich vor?
„Domofon“ ist also Horror mit Anspruch, was angesichts der ermüdenden, nie versiegenden Flut flachgründiger Genre-Machwerke vor allem aus dem Angelsächsischen, aber auch aus dem Deutschen zunächst eine erfreuliche Abwechslung verspricht. Allerdings wirkt Miloszewski zumindest übersetzt recht angestrengt und hölzern. Außerdem soll „Domofon“ um jeden Preis Originalität an den Tag legen. Hier ist der Verfasser gescheitert, denn hinter seinen Verfremdungen und stilistischen Experimenten kommen im letzten Drittel, wenn die Auflösung naht, die bekannten Elemente – und Klischees – zum Vorschein.
Besessen vom Bösen; schwarzer Schleim, der durch die Wände schwitzt; Visionen und Erscheinungen; Flüche aus düsterer Vergangenheit – in dieser Hinsicht trifft das auf dem Cover wiedergegebene Zitat zu: „Domofon“ ist eine „klassische“ Horrorgeschichte, und blutig ist sie auch. Wenn der sich schier endlos ziehende, statische Mittelteil endlich überwunden ist, kommt sie sogar in Schwung. Die finale Konfrontation mit dem Bösen ist nicht ohne Reiz, weil es die Erwartungen – im positiven Sinn – enttäuscht. Originell ist es im Kern leider nicht. Das Böse verabschiedet sich zu beiläufig. Warum es einen ganzen Wohnblock terrorisiert hat, um letztlich auf die Erfüllung seiner Rache zu verzichten, bleibt unklar bzw. kann nicht überzeugen.
Die zentralen Figuren eines modernen Unterhaltungsromans zeichnen sich durch Brüche und Schwächen aus. Miloszewski berücksichtigt das nicht nur – er übertreibt es. Zumindest sei die Frage gestattet, ob es in seiner Absicht lag, ’sein‘ Haus ausschließlich mit abstoßenden und unsympathischen Zeitgenossen zu bevölkern, an deren Schicksal der Leser keinerlei Anteil nimmt. Falls diese Frage bejaht werden muss, hat der Verfasser viel zu gute Arbeit geleistet. Genauso treffend ist der Vorwurf, dass er reine Pappkameraden mit einer seelischen ‚Tiefgründigkeit‘ beschreibt, die einer Vorabend-Soap-Serie entliehen wurde.
Viel zu ausführlich beschreibt Miloszewski Figuren, deren Schicksal bald besiegelt ist. Wie sich herausstellt, sind ihre Vorgeschichten in der Regel völlig unerheblich für die eigentliche Handlung. Wieso sich also mit ihnen auseinandersetzen? Schlimmer noch: Personen wie die Polizisten Kuzniecow und Niemiec werden aufwändig eingeführt, um irgendwann einfach aus dem Geschehen zu verschwinden. Dafür erscheint im letzten Drittel ein Allwissender, der die Fäden der Handlung endlich rafft und den Weg ins Finale öffnet.
So belegt „Domofon“ in erster Linie den Ehrgeiz eines noch unerfahrenen Schriftstellers, der einer im Grunde sehr einfachen Geschichte zu viel Ballast aufpackt, es am notwendigen Timing fehlen lässt und sie damit ins Straucheln geraten lässt. Denn „Domofon“ entpuppt sich als ganz normale Gespenstergeschichte, die als solche erzählt werden müsste. Dass sie an einem vergleichsweise ‚exotischen‘ Ort – einer polnischen Vorstadt – spielt, verleiht ihr keinen Bonus, zumal Miloszewski kaum Gebrauch davon macht. „Domofon“ könnte in jedem Wohnblock auf der Welt spielen.
Folgerichtig tritt Miloszewski in einen Wettbewerb mit vielen Autoren, und dabei schneidet er (noch) schlecht ab. Stephen King – und jetzt muss dieser Name doch endlich fallen – hätte „Domofon“ eleganter, weil schwungvoll, ökonomisch und damit effizient über die Runden gebracht. Miloszewski verliert mehr als einmal die Aufmerksamkeit seiner Leser. Um das pseudo-literarische Beiwerk gestrafft, könnte „Domofon“ ein kurzer, aber unterhaltsamer Horrorroman sein. Leider soll er auch ‚intellektuell‘ sein, und das merkt man ihm zu seinem Nachteil an.
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