_Inhalt_
La Hague im Nordwesten der Normandie ist ein winziges Dorf, das halb im Niemandsland und halb im Meer zu liegen scheint. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin kam hierher, um zu lernen, mit dem Verlust zu leben: Ihr Geliebter starb, und mit seinem Tod kam der Schmerz, und nach dem Schmerz kam die Leere.
Das raue Klima La Hagues passt gut zu dem zerrissenen Seelenleben der Trauernden. Sie darf für ein ornithologisches Institut arbeiten, klettert durch die Klippen, zählt Vögel und Eier und wird miserabel bezahlt. Sie lebt in der oberen Wohnung in einem zweigeschossigen Haus, das beinahe im Meer steht. Unter ihr hausen ein Bildhauer und seine schöne, gelangweilte Schwester. Dann gibt es da noch Max, der geistig etwas langsam ist, und Lilli, die ein Bistro führt. Ihre Eltern, die jeder für sich alt werden und nicht miteinander sprechen. Die alte Nan, die einst all ihre Angehörigen ans Meer verloren hat. Und Monsieur Anselme, der Prévert-Forscher aus Passion.
Es ist ein Mikrokosmos voller stiller Momente, in denen man hört, dass hinter dem Schweigen Worte lauern, Bekenntnisse, Geheimnisse, Verbitterungen. Und doch ist alles eingespielt, jeder hält sich an die Regeln, und die Neue, die Trauernde, ist still genug, um nicht zu stören.
Doch dann kommt Lambert ins Dorf, dessen Familie hier vor langer Zeit bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen ist. Er stellt alte Wahrheiten und glatte Oberflächen in Frage, ist unbequem. Und die Mauer des Schweigens in La Hague bekommt Risse, während die hartnäckigen Fragen alte Wunden aufreißen.
Auch die Trauernde wird aufgestört in ihrer selbst gewählten Einsamkeit. Langsam, unsicher und ängstlich tasten sie und Lambert sich durch die alten Geschichten des Hafenfleckens zur Wahrheit vor – und aufeinander zu.
_Kritik_
„Die Brandungswelle“ ist ein stilistisches Meisterwerk. Der Charakter der Natur, der Menschen und der Stimmungen, die darin beschrieben werden, ist perfekt wiedergegeben: Kurze Sätze beschreiben ein schönes, dürftiges Bild: Möwen, Wellen, Klippen. Ein paar Häuser, nicht mehr neu. Tiere, die im Dorf herumwandern. Menschen, denen langes Leid oder langer Groll das Leben verbittert und die Gesichter gezeichnet hat.
Der hilflose Schmerz der Trauernden, die die Leere in sich nicht zu füllen weiß und schreiend im Wind auf den Klippen steht, geht unter die Haut. Ebenso wie die lange Einsamkeit von Menschen, die nicht zu verzeihen verstehen oder kein Interesse daran haben. Die Sinnlosigkeit einseitiger Liebe wird mit ebenso klaren, kurzen Sätzen dargelegt wie die Besessenheit des Künstlers. Und trotz dieser Kürze, dieses gerafften Stils wird das langsame Entdecken der Geheimnisse des knorrigen Orts und seiner Menschen nicht langweilig oder platt. Gegenteilig hat man das Gefühl, im Kopf der Trauernden zu sitzen und zu lauschen; mitzuerleben, wie langsam das Interesse an etwas anderem als ihrem Schmerz in ihr erwacht.
Da wir durch ihre Augen sehen und ihre Gedanken lesen, erfahren wir unvoreingenommen, was geschieht: Sie ist eine Außenstehende in diesem Dorf, akzeptiert, aber ohne Partei. Sie bewegt sich zwischen verhärteten Fronten und ist allen fern genug, dass ihr das nicht übel genommen wird.
Trotz aller Härte und Kühle, trotz aller Trauer und Melancholie, trotz Schmerz und Groll unter der Oberfläche La Hagues ist die letztendliche Aussage des Romans eine versöhnliche: Es gibt immer Hoffnung, vor allem, wenn man nicht mehr an sie glauben kann.
_Fazit_
Dieses Buch bezaubert. Wie die innere Entwicklung der Trauernden sich mit dem Geheimnis vermischt, das über dem Dorf lastet, ist absolut faszinierend. Claudie Gallay fertigt ein engmaschiges Gewebe aus Erzählkunst, das sie ganz sachte um den Leser gleiten lässt, ohne dass der es bemerkt, bis er hilflos gefangen ist und sich erst am Ende des Romans wieder befreien kann. „Die Brandungswelle“ ist schön, traurig, spannend und intensiv. Und es ist ein absoluter Volltreffer.
|Gebundene Ausgabe: 560 Seiten
Originaltitel: Les déferlantes
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
ISBN-13: 9783442752423|
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