Gerritsen, Tess – Leichenraub

Im Jahre 1830 war die Medizin in Europa und Übersee bereits recht fortschrittlich. Universitäten mit ihren erfahrenen Doktoren und Professoren der Medizin bildeten die angehenden und zukünftigen Ärzte theoretisch und praktisch aus. Ärzte gehörten damals auch schon der sozialen Oberschicht an, und Studenten aus armem Hause mussten entweder zu Geld gekommen sein oder ein einflussreicher Gönner ebnete dem jungen Mann den Weg zu Respekt und Einkommen.

In den Krankenhäusern war der Chefarzt im Grunde ein Alleinherrscher, ein Gott in Weiß und für viele Kranke die letzte Hoffnung. Assistenzärzte und Studenten wurden ausgenutzt und oftmals mit sich und den Patienten allein gelassen. Hygiene in den Hospitale und Krankenhäuser war nur wenig bekannt und wurde nicht umgesetzt, oftmals einfach nur aus Unkenntnis.

Wie es auch heute der Fall ist, mussten die jungen Männer Leichen obduzieren, um den menschlicher Körper und seine komplexen Organe analytisch und mit den Augen und Fingern eines Mediziners verstehen zu können. Typische Krankheitszeichen oder Mangelerscheinungen konnten so identifiziert werden und Rückschlüsse auf den Krankheitsverlauf zulassen.

Mit der steigenden Anzahl von Universitäten stieg ebenso die Nachfrage nach Leichen zur Obduktion. Hingerichtete Verbrecher wurden per Gesetz auf den Vivisektionstisch der angehenden Studenten gelegt und für Studienzwecke seziert, ansonsten gab es nur die illegale Möglichkeit, entwendete Leichen von zwielichtigen Leichenräubern zu kaufen. Natürlich galt so eine Tat als ungesetzlich, und für dieses Vergehen erwartete den Leichenräuber der Galgen, doch das Geld, das man für eine ‚frische‘ Leiche bekommen konnte, war es wert, das Risiko einzugehen.

Tess Gerritsen hat in ihrem aktuellen Roman „Leichenraub“ bei |Limes| diese Thematik in einem spannenden Roman zum Leben erweckt.

_Inhalt_

Julia Hamil, die gerade ihre Ehe beendet und ein Haus samt Anwesen in Boston gekauft hat, stürzt sich in die Restauration und Renovierung ihres neuen Heimes. Haus und Garten bedürfen neben ihrem persönlichen Selbstbewusstsein eine Menge an Aufarbeitung. Bei der Gartenarbeit stößt sie auf etwas recht Hartes und scheinbar Großes, wahrscheinlich einen Stein, den sie in wilder Entschlossenheit ausgraben will. Doch beim näheren Hinsehen entpuppt sich der Stein als Totenschädel, und Julia sieht vor sich nicht mehr ihren neu erworbenen, chaotischen Garten, sondern vielmehr unerwarteterweise ein Grab.

Die Leiche wird von der forensischen Abteilung unter der Leitung der Pathologin Dr. Maura Isles ausgegraben und untersucht. Es handelt sich um die Gebeine einer jungen Frau, die vor circa 200 Jahren ermordet wurde – die Verletzungen des Schädelknochens lassen keine andere Vermutung zu.

Geschockt und verwirrt, fühlt sich Julia in ihrer neuen Bleibe nun etwas unwohl, denn auch die Vorbesitzerin, eine alte Frau, fand man leblos in ihrem Garten, allerdings war sie da schon seit knapp drei Wochen tot. Nur wenige Tage später bekommt Julia einen Anruf aus Maine. Es ist der Cousin der Vorbesitzerin, Henry Paige, der in sechs Kartons alle Dokumente der alten Frau besitzt. Ihn interessiert, was es mit den alten Knochen auf dem Anwesen auf sich hat. Wer war die junge Frau, die eines gewaltsamen Todes starb und heimlich verscharrt wurde? Anhand der Dokumente versuchen er und Julia die Vergangenheit zu rekonstruieren, um etwaige Hinweise darauf zu finden, was sich vor knapp zwei Jahrhunderten abgespielt haben könnte.

Die alten Briefe, unterzeichnet von einer Person mit den Initialen O. W. H., führen Julia und Henry in das Jahr 1830 in Boston. Hier ist der Tod allgegenwärtig in den Armenvierteln und Krankenhäusern der wachsenden Stadt. Der junge Student Norris Marshall, der an der medizinischen Fakultät in Boston studiert und auf einer Farm in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, verdient sich etwas Geld für seinen Lebens- und Ausbildungsunterhalt mit dem Ausgraben und Verkaufen von Leichen für die medizinische Hochschule. Er ist ein talentierter und ehrgeiziger Medizinstudent, der in der Medizin seine wahre Berufung sieht und davon träumt, später ein angesehener und erfolgreicher Arzt zu sein, so dass er seine soziale Unterschicht endlich hinter sich lassen kann.

Rose Connolly, eine junge irische Frau, die gerade in die Staaten ausgewandert ist, um sich eine neue Existenz aufzubauen, wacht in einem Bostoner Krankenhaus am Bett ihrer Schwester Aurina, die kurz vor der Entbindung steht. Hier lernt die junge Frau auch Norris Marshall kennen, der mit seinem Doktorvater und anderen medizinischen Studenten die morgendliche Visite durchgeht. Die schwangere Frau ist schwach, und unkontrollierte Blutungen setzen eine komplizierte Geburt in Gang. Kurz nach der Geburt stirbt Aurina an Schwäche und Meggie, ihrer neugeborenen Tochter, droht das Waisenhaus, doch Rose fühlt sich ihrer Schwester verpflichtet und nimmt sich ihrer jungen Nichte an. Sie arbeitet als Schneiderin für ihren Schwager, einen Trinker und groben Mann, der nur seine eigenen Vorteile sieht.

Eines Abend entdeckt Rose in der Nähe des Krankenhauses die Leiche einer Krankenschwester, die fast ausgeweidet wurde. Die Tat musste in den letzten Minuten geschehen sein und Rose sieht einen dunkel gekleideten Mann mit weißem, todesähnlichem Gesicht, der sich ihr nähert. Sie flieht panisch durch die dreckigen Straßenschluchten und läuft Norris Marshall, der mit einem Studienkollegen unterwegs ist, in die Arme.

Als in den nächsten Nächten wiederum eine Krankenschwester dem „Reaper“ zum Opfer fällt und Norris durch Zufall die verstümmelte Leiche findet, wird er selbst zum Tatverdächtigen. Denn die Verletzungen der toten Frauen legen den Verdacht nahe, dass es sich um jemanden handeln muss, der medizinische Kenntnisse vorweisen kann bzw. vielleicht Tiere wie Kälber und Schweine getötet und ausgenommen hat. Beides hat spricht daher als Indiz gegen den jungen Medizinstudenten, der nun um seiner eigenen Sicherheit willen den wahren „Sensenmann“, den er leibhaftig bei dem zweiten Opfer gesehen hat, finden muss – sonst befinden sich seine medizinische Laufbahn und sein Leben in höchster Gefahr.

Rose hingegen, die er als Zeugin benötigt und zu der er sich immer mehr hingezogen fühlt, wird von einem unbekannten Mann gebeten, ihm ihre Nichte Meggie zu überlassen – gegen ein großzügiges Entgelt, das alle ihre finanziellen Sorgen und Nöte im Nu verschwinden lassen könnte. Doch Rose ist nicht bestechlich und sieht sich nun zusammen mit ihrer kleinen Nichte einer Gefahr ausgesetzt, die sie nicht erkennen kann. Verzweifelt wendet sie sich vertrauensvoll an Norris Marshall und bringt sich damit noch mehr in Gefahr.

_Kritik_

Tess Gerritsen hat mit „Leichenraub“ einen Thriller geschrieben, der diemsal nicht die Reihe um Dr. Maura Isles fortsetzt. Zu Beginn kommt diese kurz vor, als sie Julia darauf hinweist, dass die junge Frau, deren Skelett sie im Garten fand, ermordet wurde. Also gibt es nur ein kurzes Gastspiel, aber die Haupthandlung ist spannend und interessant genug und kommt auch ohne die erfahrene und bei der Leserschaft beliebte Pathologin aus.

„Leichenraub“ ist eher ein historischer Krimi und als solcher literarisches Neuland, auf dem sich Gerritsen bewegt. Sie nimmt diese Hürde aber formidabel und inszeniert den Historienkrimi gekonnt, einfallsreich und spannend. Die Story spielt sich in zwei Zeitebenen ab: einmal natürlich die Gegenwart mit der jungen Julia und ihrer schaurigen Entdeckung und Spurensuche, und das Jahre 1830, das das historische Element bestimmt und den größten Erzählumfang einnimmt.

Tess Gerritsen, die selbst Ärztin ist, weiß, wovon sie schreibt und wie sie plastisch und realistisch ihr Wissen dem Leser zu vermitteln hat. Die Medizin ist hierbei die zentrale Figur, die den menschlichen Protagonisten so manches Mal den Platz auf der Bühne nimmt. Die Behandlungstechniken, die Hygiene der damaligen Zeit, die Forensik und Pathologie mussten ohne die technischen Möglichkeiten der heutigen Zivilisation auskommen, und viele kranke Menschen mussten schlicht aus mangelndem Wissen ihr Leben lassen. Ohne Antibiotika oder Radiologie und sonstige medizinische Technik waren die Ärzte nur auf ihr eher spärliches Wissen angewiesen, das sie entweder fachgerecht erlernten oder sich durch Kollegen und Experimente selbst aneignen konnten. Auch diese Aspekte erklärt die Autorin interessant und lehrreich und man sollte sich wundern, wie spannend medizinische Geschichte erzählt werden kann.

Die Story eines Frauenmörders ähnelt natürlich sehr seinem englischen Verwandten „Jack the Ripper“; auch dieser muss medizinische Grundkenntnisse gehabt haben, also ist die Idee eines unheimlichen Frauenmörders aus dem medizinischen Umfeld insofern nichts Neues. In der Handlung gibt es generell wenig Überraschendes; nach einem gut erkennbaren Muster wird der Leser schon im letzten Drittel der Handlung wahrscheinlich richtig kombinieren und die Identität des Täters offenbart haben. Die geschilderten Vorgänge sowie die Entwicklung die Protagonisten und ihr Zusammenspiel sind dagegen spannend und abwechslungsreich geraten, aber auch dies nur vor dem medizinischen Hintergrund. Die Grundstimmung ist unheimlich; die düsteren Hinterhöfe und Straßen Bostons, die mangelnde Hygiene in den damaligen Krankenhäusern und auch die detailreiche Schilderung der Vivisektion eines Leichnams oder der Raub einer Leiche im Schutze der Nacht auf einem Friedhof jagen dem Leser einen wohligen Schauder über den Rücken.

Die Protagonisten sind mit kräftiger Linienführung gezeichnet, allen voran der talentierte Jungstudent Norris Marshall, der seiner Vergangenheit entfliehen möchte und jede Mühe auf sich nimmt, um seine Zukunft möglichst erfolgreich und beständig abzusichern.

Als Kritikpunkt empfinde ich den gegenwärtigen Handlungsstrang, der mir recht überflüssig erscheint; hier hätte es gar keinen Wechsel zwischen den zeitlichen Ebenen geben müssen. Zu verwirrend sind die Sprünge und die Erklärungen; am Anfang und am Ende sind diese noch gut platziert, aber zwischendurch hemmen sie einfach die aufkommende Spannung der eigentlichen Handlung.

_Fazit_

„Leichenraub“ von Tess Gerritsen ist ein empfehlenswerter Thriller. Um das Prädikat sehr gut zu erreichen, hätte sich die Autorin auf die Erzählebene der Vergangenheit beschränken sollen. Ein historischer Thriller sollte der Erwartungshaltung genügen, gut recherchiert worden zu sein und sich auf Fakten und Beweise zu stützen, was der Autorin auch großartig gelingt. Ich hoffe, dass sie weitere Thriller im historischen Bereich verfassen wird, da sie auch hier zeigt, wie brillant man Medizin in einen spannenden Thriller umzusetzen vermag. „Leichenraub“ ist allerdings ein in sich abgeschlossener Roman, so dass es keine weiteren Episoden geben wird.

|Originaltitel: The Bone Garden, 2007
Übersetzung: Andreas Jäger
442 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-8090-2539-9|
http://www.limes-verlag.de

_Tess Gerritsen auf |Buchwurm.info|:_
[„Todsünde“ 451
[„Die Chirurgin“ 1189
[„Der Meister“ 1345
[„Roter Engel“ 1783
[„Schwesternmord“ 1859
[„Akte Weiß: Das Geheimlabor“ 2436
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