Carsten Stroud – Niceville (Niceville-Trilogie 1)

Das düstere Geheimnis einer kleinen Stadt führt zu einer verhängnisvollen Verquickung von Spuk und Schwerkriminalität … – Mystery-Thriller im Stil von Stephen King und Lee Child; Realität und Spuk werden nüchtern aber atmosphärisch dargeboten, der Plot ist verzwickt und beeindruckt durch unerwartete Verknüpfungen, das Tempo ist jederzeit hoch, die Figurenzeichnung stimmig, und über schwarzen Humor verfügt der Verfasser auch: Das Ergebnis ist eine zwar (noch) sinnarm um sich selbst kreisende Geschichte, die jedoch zunehmend in ihren Bann zieht und ausgezeichnet unterhält.

Das geschieht:

Niceville ist nur auf den ersten Blick eine idyllische Kleinstadt in den US-amerikanischen Südstaaten. Ihre Weste weist mehr als einige schwarze Flecken auf. Düstere Legenden ranken sich meist um Tallulah‘s Wall, eine Bergwand, die Niceville hoch überragt. Auf dem Scheitel liegt Crater Sink, ein scheinbar bodenloser, mit pechschwarzem Wasser gefüllter Teich, um den bereits die Ureinwohner einst einen weiten Bogen schlugen.

Ex-Elitesoldat Nick Kavenaugh rechnete mit einem ruhigen Leben, nachdem er die Anwältin Kate Walker geheiratet, den Dienst quittiert und als Detective bei der County Police angeheuert hatte. Doch Niceville ist ein Ort, der das Böse ebenso wie das Mysteriöse anzieht. Hier verschwinden deutlich mehr Menschen als es die Statistik erlaubt. Erst im Vorjahr ermittelte Kavenaugh im Fall des achtjährigen Rainey Teague, der sich buchstäblich in Nichts auflöste und später im Inneren einer unterirdischen, seit neunzig Jahren fest verschlossenen Gruft auftauchte. Dieses Rätsel blieb ebenso ungelöst wie der Selbstmord des Vaters und das Verschwinden der Mutter, die sich womöglich im Crater Sink ertränkt hat.

Aktuell fordert das reale Verbrechen Kavenaughs Aufmerksamkeit. Eine Bank wurde überfallen, über 2 Mio. Dollar griffen sich die Räuber, die auf der Flucht vier Polizeibeamte förmlich hinrichteten. Der korrupte Polizist Coker und sein Kumpan Danzinger wollten ihren Komplizen Zane umbringen. Der Anschlag misslang, und nun lauert Zane auf seine Gelegenheit zur Rache. Ebenfalls in das mörderische Spiel verwickelt sind Kavenaughs krimineller Schwager Byron Deitz und der Psychopath Tony Bock, dem Kate vor Gericht eine empfindliche Niederlage bereitet hat. Weitere Beteiligte sind nicht von dieser Welt. Schattenhafte Kreaturen mischen sich mörderisch ins ohnehin undurchsichtige Geschehen, bis man einander in und um Niceville endgültig nicht mehr trauen kann …

Unsere kleine aber wenig feine Stadt

Wenn eine mit ‚Fakten‘ gespickte Geschichte erzählt wird und trotzdem Gespenster im Spiel sind, wird das Schubladendenken von Verlagswerbern und Lesern auf eine harte Probe gestellt. Sind besagte Gespenster geile/frigide, schuhkaufsüchtige oder blutabstinente Vampire (bzw. Hexen und Werwölfe), greift die Eselsbrücke „urban (chick) fantasy“. Ansonsten werfen ratlose Kritiker die Story in das Sammelbecken „Mystery“.

Carsten Stroud macht es den Erbsenzählern voller Bosheit und Einfallsreichtum richtig schwer. „Niceville“ ist ebenso lupenreiner Thriller, besetzt mit moralfreien Berufskriminellen, für die Mord und Totschlag zum ‚Arbeitsalltag‘ gehören, wie harter Horror, dessen Spukgestalten ähnlich rigoros gegen ihre Opfer vorgehen. Ein bisschen Lee Child hier, ein wenig Stephen King dort, und abgeschmeckt wird das Ganze mit einer ordentlichen Prise Joe R. Lansdale. Wer’s ein wenig ‚literarischer‘ mag (bzw. mit literaturhistorischer Bildung angeben möchte), lässt die Namen höher gesetzter und schreibender Südstaaten-Prominenz einfließen; William Faulkner (Nobelpreis 1949) macht sich immer gut.

Im Falle Thornton Wilders (Pulitzer-Preis 1938) ergibt solches „name dropping“ sogar Sinn: Den genannten Preis erhielt dieser Autor für sein Theaterstück „Our Town“ (dt. „Unsere kleine Stadt“), das Panorama der (allerdings neuenglischen) Kleinstadt Grover’s Corners, hinter deren traulicher Kulisse dramatische und hässliche Wahrheiten ans Tageslicht drängen.

Vergangenheit und Gegenwart in unguter Verbindung

In Grover’s Corners gehen keine Geister um, weshalb „Niceville“ ein besonders zynisch gewählter Stadtname ist: „Nett“ im Sinne von gutnachbarschaftlicher Nähe ging es hier nach Auskunft des Verfassers wohl niemals zu. Schon bevor das Hightech-Verbrechen des 21. Jahrhunderts in Niceville Fuß fasste, war diese Stadt kein angenehmes Pflaster. Die vier Gründerfamilien hassten einander buchstäblich bis aufs Blut sowie über den Tod hinaus, was bis in die Gegenwart so geblieben ist.

Darüber hinaus gründeten sie Niceville an einem Ort, den man besser gemieden hätte. Was die Archive nicht hergeben, ergänzen Legenden: Im Schatten von Tallulah’s Wall ging es schon vor dem Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts mächtig um. Die diesseitige Welt hat hier sogar ein Loch: Crater Sink ist das Schnittzentrum von Hüben und Drüben, was durch die Angewohnheit, sich hier zu ertränken oder kriminelles Beweisgut zu entsorgen, zusätzlich verstärkt wird.

Nicevilles richtig üble Schurken sind ebenso schwer zu fassen wie Nicevilles Geister. Verfasser Stroud postuliert eine ganze Welt doppelter Identitäten. Der mörderische Bankräuber-Chef ist ein hochrangiger Polizist, der nach sich selbst fahndet und diese Chance gut zu nutzen weiß; sein Komplize arbeitet für die Firma, die den überfallenen Geldtransport organsierte; ein bestohlener Sicherheitsmann verdient als Wirtschaftsspion dazu, ein Psychopath schwärzt anonym Mitbürger an. Selbst Kriegsheld und Ehrenmann Nick Kavenaugh hütet ein übles Geheimnis und übt sich darüber hinaus nach Feierabend in Selbstjustiz.

Vielversprechender Auftakt zu deutlich Größerem

„Niceville“ bildet den Auftakt zu einer Roman-Trilogie, weshalb Autor Stroud sich viel Zeit nimmt, uns die Stadt und ihre Bewohner vorzustellen. Es macht außerdem deutlich, dass der Zickzackkurs der hier erzählten Geschichte möglicherweise Absicht ist und diese letztlich doch irgendwohin führen wird. In der Tat zeichnen sich schon in der zweiten Hälfte dieses ersten Teils weitreichende Verbindungen ab. Nicht nur die lebenden Figuren sind durch verwandtschaftliche oder freundschaftliche/feindschaftliche, jedenfalls selten zufällige Bande miteinander verknüpft. Auch die eindeutig toten Bürger von Niceville und ihre menschlich wirkenden aber alles andere als menschlich handelnden Handlanger passen sich in dieses Gefüge ein. Zu allem Überfluss geraten sowohl Gauner als auch Gendarmen in Nicevilles übernatürliche Gefilde, was die Lage kompliziert werden lässt.

Denn zwar manipuliert aber zunächst quasi unabhängig von dem, was im Crater Sink wartet, erzählt der ‚übernatürliche‘ Handlungsstrang eine Rachegeschichte, die vor einem Jahrhundert begann und sich ungebrochen fortsetzt. Schon hier gelingt Stroud nicht nur eine solide Gruselstory. Er versteht es, sie zusätzlich mit wahrlich schauerlichen Elementen aufzuwerten: Das Bild der Pechvögel, die der Niceville-Fehden zum Opfer fielen, und sich nun untot immer wieder gegenseitig begraben und exhumieren, ist ungemein einprägsam.

Bemerkenswert ist die Eleganz, mit der Stroud auch den ‚realen‘ Ereignissen Glaubwürdigkeit verleiht. Er kennt sich im Polizei- und Geheimdienst-Milieu aus, kennt die Arbeitsweisen von Fahndern aller Art und kann sich erschreckend gut in die Köpfe ihrer Gegner versetzen: Noch der übelste Strolch wird dank Stroud zur Persönlichkeit, sogar Schwächen werden offenbart, ohne dass damit eine Läuterung verbunden wäre. Ganz nüchtern stellt Mehrfach-Mörder Croker fest, dass der böse Einfluss von Niceville ihn womöglich zu einem richtig schlechten Menschen werden ließ – ein skrupelfreier Krimineller sei er jedoch schon vorher gewesen.

Wie soll & wird dies enden?

Der Tenor ist völlig frei von Sentimentalitäten, Seifenschaum und Leerlauf lässt Stroud ebenfalls außen vor; man kann ihm dafür nicht dankbar genug sein. Ein knochentrockener und rabenschwarzer Humor – gut gewahrt in der Übersetzung – ist nicht Selbstzweck, sondern passt in Strouds Welt. Der beinahe dokumentarische Stil darf aber keineswegs mit Emotionslosigkeit verwechselt werden: Stroud vermag Gefühle sehr gut zum Ausdruck zu bringen. Er suhlt sich jedoch nicht darin, denn er hat Wichtigeres zu tun: Er erzählt eine Geschichte.

Im letzten Drittel geschieht deshalb, was der Leser kaum für möglich hält: Die ohnehin jederzeit rasante Handlung nimmt noch einmal Tempo auf. Erste Schicksale erfüllen sich, was in „Niceville“ freilich kein Grund ist, aus der Handlung auszusteigen: Die Toten kehren zurück, und manchmal wissen sie nicht einmal, dass sie tot sind, was für zusätzliche Verwirrung sorgt.

Wer dachte, die Karten seien mit diesem Auftaktband gemischt und verteilt, sieht sich angenehm getäuscht: Dieses Spiel unterteilt sich in Runden, und es wird lang dauern, da die Teilnehmer etwa gleichstark sind. Stroud liebt die Bewegung, und er beherrscht sie als Stilmittel perfekt. Von einem Kapitel zum nächsten wirft er scheinbar tief fundamentierte Verhältnisse einfach um und gruppiert ihre Einzelteile neu. Im Hintergrund läuft das große Geschehen weiter. Strouds Story läuft wie auf Schienen, die sich allerdings immer wieder kreuzen, ineinanderlaufen und trennen.

Dies rührt ein zumindest für altgediente Leser selten gewordenes Gefühl auf: Muss man „Niceville“ schließlich verlassen, ist da sofort die Ungeduld zu erfahren, wie es weitergeht. Stroud bringt die Handlung zu einem Abschluss, der gleichzeitig zur Basis für die Fortsetzung wird. Es gibt Hinweise darauf, wie die Geschichte weitergeht; man ahnt bzw. weiß, dass dabei echte Spannung im Spiel sein wird. Hoffentlich bleibt Stroud gesund und munter, um sein „Niceville“-Garn bis zum sicherlich bitteren, dramatischen Ende spinnen zu können!

Autor

„Carsten Stroud war Surfer, Bootsbauer an der Baja California und Berufstaucher in der US Army. Er hielt sich in geheimer Mission in den gefährlichsten Gegenden der Dritten Welt auf. Er ist Journalist und preisgekrönter Sachbuchautor, seine Romane sind Bestseller in den USA.“

Auf solchen wohl als werbewirksam erachteten Dummfug beschränken sich die derzeit kreisenden ‚Infos‘ über den Journalisten, Sachbuch- und Romanautoren Stroud, der übrigens 1946 geboren wurde. Auch auf seiner eigenen Website gefällt der Verfasser sich darin, seine ‚Biografie‘ als primär humorvolle Fingerübung abzufassen. Also beschränken auch wir uns an dieser Stelle darauf zu erwähnen, dass Stroud ein Faible für Uniformen – Polizei und Militär – besitzt, deren Träger in mehreren Büchern und zahlreichen Artikeln ins rechte Licht setzt sowie seit 1990 mehrere Thriller veröffentlicht hat, in denen Polizisten u. a. Uniformträger abenteuerlich ihren Jobs nachgehen und von denen es „Cuba Strait“ (2003) zum Stolz seines Verfassers auf „Fidel Castros Liste verbotener Bücher“ – nähere Informationen fehlen wohl nicht grundlos – geschafft haben soll.

Carsten Stroud im Internet

Niceville-Trilogie

(2012) Niceville (Niceville)
(2013) Niceville: Die Rückkehr (The Homecoming)
(2015) Niceville: Der Aufbruch (The Reckoning)

Taschenbuch: 506 Seiten
Originaltitel: Niceville (New York : Albert A. Knopf 2012)
Übersetzung: Dirk van Gunsteren
http://www.dumont-buchverlag.de

eBook: 1462 KB
ISBN: 978-3-8321-8621-0
http://www.dumont-buchverlag.de

MP3-Download: 459 min. (gekürzte Lesung), gesprochen von Michael Hansonis
ISBN-13: 978-3-8371-1352-5
http://www.randomhouse.de/Hoerbuch

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)