Grangé, Jean-Christophe – Choral des Todes

|“Der Schrei war in der Orgel eingesperrt. Er sirrte in den Orgelpfeifen und hallte in der ganzen Kirche wider. Gedämpft. Dumpf. Entrückt.“|

Mit diesen unheimlichen Sätzen beginnt Jean-Christophe Grangés neuester Thriller. In der armenischen Gemeinde wird der Organist in der Kirche ermordet und der Polizist Lionel Kasdan ist zufällig in der Nähe und daher als erster am Tatort. Auch wenn er eigentlich im Ruhestand ist, lässt ihn dieser Mord in der eigenen Gemeinde nicht los. Nur ein kleiner Blutfleck zeugt von Gewaltanwendung, sonst hätte man glauben mögen, der Organist hätte einen Herzinfarkt erlitten – und tatsächlich hat er das auch, wie die Obduktion zeigt. Seine Trommelfelle wurden völlig zerstört, und der daraus resultierende Schmerz hat den Organisten Wilhelm Götz getötet. Seine Schmerzensschreie waren es, die noch in der Kirche hallten, als Kasdan am Tatort ankam.

Die Spurensuche fördert einen interessanten Fußabdruck zutage – einen kleinen Abdruck von einem Basketballschuh in Größe 36. Einer der Chorjungen muss den Mord demnach beobachtet haben. Doch merkwürdigerweise kann Kasdan bei seiner Befragung bei keinem der Jungen ein auffälliges Verhalten fest stellen. Kasdans Neugierde ist geweckt, und so stellt er auf eigene Faust Untersuchungen an.

Cédric Volokine befindet sich zur Zeit des Mordes in einer Entzugsklinik. Seine Heroinsucht hat den Polizisten vom Jugendschutzdezernat in diese missliche Lage gebracht. Dann aber erfährt er von dem Mord an Götz und verlässt die Klinik, um auf eigene Faust zu ermitteln. So dauert es nicht lange, bis die offiziellen Ermittler, Kasdan und Volokine sich gegenseitig auf die Füße treten. Kasdan glaubt an einen politischen Hintergrund, da Wilhelm Götz einst aus Chile geflohen ist, Volokine aber ist überzeugt, dass der homosexuelle Organist sich an den Chorjungen vergangen hat und ein sexuelles Motiv im Vordergrund steht. Zunächst aber verlaufen beide Spuren im Sande.

Bald geschehen weitere Morde – wieder finden sich Schuhabdrücke in Größe 36 am Tatort. Handelt es sich dabei vielleicht um die Spuren des Täters statt des Zeugen? Volokine ist davon überzeugt, und je weiter er zusammen mit Kasdan in den Hintergründen der Morde herum gräbt, desto mehr scheint es, als habe er Recht. Kasdan und Volokine, die sich schnell zu einem Ermittlerduo zusammen schließen, müssen bald einsehen, dass die Chorjungen keine Engel sind, sondern den Tod bringen. Doch was hat sie dazu gebracht, diese Morde zu begehen? Die Spuren führen zu einer kleinen Kolonie in Südamerika, in der grausame Dinge vor sich gegangen sind, die ihre Fühler bis nach Frankreich ausgestreckt haben …

_Tödliche Melodien_

Schon mit seinen einleitenden Sätzen schafft Jean-Christophe Grangé eine düstere Atmosphäre, die mich von der ersten Seite an mitgerissen hat. Lionel Kasdan ist so früh am Tatort, dass er die Todesschreie des Organisten noch hören kann. Eine wahrlich grausige Vorstellung. Kurz darauf verrät Grangé uns, wie Götz gestorben ist und jagt uns damit den nächsten kalten Schauer über den Rücken. Kaum vorstellbar, dass jemand einen solch starken Schmerz erleiden kann, dass er daran stirbt. Aber genau das ist hier passiert. Dann plätschern die Ermittlungen zunächst vor sich hin, die Zuständigkeiten müssen geklärt und alte Feindschaften aus dem Weg geräumt werden, bis wir erfahren, dass die Chorjungen womöglich keine Zeugen, sondern Täter waren. Ein weiterer Paukenschlag, den man erstmal verdauen muss. Jean-Christophe Grangé scheut sich wieder einmal nicht, auch die schlimmsten Verbrechen zu beschreiben. Dieses Mal entführt er uns gedanklich nach Südamerika. Die Spur führt nach Chile. Kasdan glaubt, dass Götz vor seinen Folterern aus Chile geflohen ist. Doch dann erfährt er, dass Götz selbst zu den Folterern gezählt hat.

Gemeinsam kommen Kasdan und Volokine einer geheimnisvollen Gemeinschaft auf die Spur, die in einer kleinen Enklave in Chile gelebt hat. Ihre Spuren ziehen sich aber bis nach Frankreich – hat sich dort womöglich eine ähnliche Kolonie etabliert? Das geniale Ermittlerduo entdeckt, dass in verschiedenen Gemeinden immer wieder Chorjungen verschwunden sind – immer die mit den besten Stimmen. Dann macht Volokine einen ehemaligen Chorjungen ausfindig, der einst eine Engelsstimme hatte und der von einem „Menschenfresser“ berichtet, der die talentierten Chorjungen zu sich geholt hat. Doch was hat dieser ominöse Menschenfresser mit den Engelsstimmen im Sinne? Kasdan und Volokine kommen diesem Geheimnis nur sehr, sehr langsam auf die Spur.

Genau diese ausführlichen, intensiven und aufreibenden Ermittlungen sind es, die mich beim Lesen wieder einmal fasziniert haben. Nur ganz allmählich decken die beiden Schicht um Schicht auf, bis sie das gesamte Geheimnis vor Augen haben. Und was beide nicht ahnen: Einer von ihnen hängt tiefer in der gesamten Geschichte drin als er sich vorstellen kann …

_Todesengel_

Jean-Christophe Grangé schafft es in seinen Büchern immer wieder, gut konstruierte Kriminalfälle zu präsentieren, die sich in den allermeisten Fällen deutlich von der Masse abheben. Seine Stärke ist es dabei, immer nur so viele Informationen preis zu geben, dass man an das Buch gefesselt wird. Zudem schafft er es, diese Informationen am Ende schlüssig zu einem Ganzen zusammen zu setzen. Auch im vorliegenden Buch gelingt Grangé das ausgesprochen überzeugend. Für den deutschen Leser mag es allerdings etwas befremdlich sein, dass er einen alten Nazi-Schergen ausgräbt, der sich seine eigene Kolonie aufgebaut hat, in der die Einwohner in traditionellen bayerischen Trachten herumlaufen. Ich denke, die Geschichte hätte ebenso gut funktioniert, wenn kein alter Nazi die Fäden gezogen hätte. Dies ist aus meiner Sicht allerdings auch der einzige inhaltliche Kritikpunkt.

_Aufreibende Vitae_

Mit Lionel Kasdan und Cédric Volokine haben sich zwei Ermittler gefunden, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Doch ein Blick hinter die Fassade offenbart, dass sie auch einiges gemeinsam haben. Kasdan befindet sich bereits im Ruhestand, sein Sohn hat den Kontakt zu ihm abgebrochen, seine Frau ist tot. Aber noch etwas anderes aus seiner Vergangenheit treibt ihn herum, das wir erst sehr spät erfahren. Volokine dagegen ist ein junger Draufgänger. Er hängt an der Nadel und kennt sich im Drogenmilieu bestens aus. Dennoch hat er eine Mission: Er kämpft mit allen Mitteln gegen Pädophile. Genau das hat ihn im Fall Götz auf den Plan gerufen. Aber auch Volokines Vergangenheit ist nicht minder bewegt. Auch hier müssen wir lange warten, bis wir einen Blick in diese bewegte Vergangenheit werfen können.

Beide Figuren gefielen mir unglaublich gut, auch wenn sie auf den ersten Blick alles andere als Sympathieträger sind. Sie haben Ecken und Kanten, kämpfen mit ihren Eigenarten und gegen ihre inneren Dämonen. Beide haben ihr Säcklein zu tragen und ahnen, dass es dem jeweils anderen genauso geht. Aus dieser Ahnung entsteht zunächst eine Partnerschaft, später sogar eine richtige Freundschaft. Lange können wir nur ahnen, welche Dämonen die beiden herumtreiben und was sie in der Vergangenheit miterleben mussten. Was uns Grangé schlussendlich präsentiert, wäre mir natürlich im Leben nie eingefallen, doch passen diese Offenbarungen stimmig ins Gesamtbild. Kasdan und Volokine als ermittelndes Duo haben mich auf ganzer Linie überzeugt, denn immer ist man als Leser bemüht, sie zu durchschauen und ihre Motive zu verstehen. Endlich zu erfahren, was die beiden umtreibt, fesselt einen über weite Strecken ans Buch.

_Ärgerliches_

Leider trüben viele Tipp- und Grammatikfehler den Lesefluss. Dutzende von Fehlern sind mir beim Lesen regelrecht in die Augen gesprungen, manchmal fehlte ein Wort, manchmal war eines doppelt. Dann wiederum fehlten die Kommata beim erweiterten Infinitiv, während ein Komma beim einfachen Infinitiv gesetzt wurde. Einmal fand ich ein Komma mitten in einem Wort und einmal zierten gleich zwei Fehler einen „Satz“, der nur aus zwei Wörtern bestand: „Kein Anwort“. Auch die Übersetzung wurde offensichtlich nicht gründlich Korrektur gelesen, denn dann hätte einem Lektor auffallen müssen, dass es nicht „Irländer“ heißt, sondern „Ire“. So viele Fehler dürfen definitiv nicht passieren, schon gar nicht in einem großen Verlag wie Ehrenwirth.

_Unter dem Strich_

Auch mit seinem neuesten Werk hat Jean-Christophe Grangé mich hervorragend unterhalten. Seine Bücher muss man sich meistens erst erarbeiten, da sie sehr umfangreich sind, zahlreiche verschiedene Figuren auftauchen und da die Kriminalfälle meist hochkomplex gestrickt sind. Und so ist es auch hier. Zudem benennt Grangé wirklich jede Straße in Paris, durch die Kasdan und Volokine auf ihren Streifzügen fahren, meiner Ansicht nach ist das etwas zu viel Lokalkolorit bzw. ein zu detaillierter, denn selbst wenn man Paris kennt, dürften einem die einzelnen Straßennamen und Gebäude dennoch unbekannt sein. Einen Informationsgewinn durch diese genauen Beschreibungen kann ich daher nicht erkennen.

Dafür punktet Grangé dieses Mal mit seinen beiden Hauptfiguren Kasdan und Volokine, die beide mit einer mehr als bewegten Vergangenheit aufwarten können und die sich hervorragend ergänzen. Beide haben ihre Eigenarten, die sie für uns greifbar und interessant machen. Von den beiden würde man wirklich gerne mehr lesen.

Bleibt demnach nur zu hoffen, dass Grangés nächstes Buch besser lektoriert wird, dann dürfte einem ungetrübten Lesevergnügen nichts mehr im Wege stehen!

|Gebundene Ausgabe: 571 Seiten
ISBN-13: 978-3431037937
Originaltitel: |Miserere|
Deutsch von Thorsten Schmidt|

_Grangé beim Buchwurm:_
[Das Herz der Hölle 4569
[Der steinerne Kreis 1349
[Das schwarze Blut 2286
[Das Imperium der Wölfe 1348
[Die purpurnen Flüsse 936

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