Gwynne, Phillip – Vor dem Regen

_Das geschieht:_

Detective Frances „Dusty“ Buchanon ist Beamtin der Mordkommission der Northern Territory Police Force im nordaustralischen Darwin. Privat leidet sie noch unter dem Ende einer langjährigen Beziehung, und auch beruflich läuft es schlecht: Gerade wurde ihr der Fall einer ermordeten Touristin entzogen, in den Dusty viel Arbeit und Emotionen investiert hatte.

Eher unwillig folgt die Polizistin einem Hinweis, der sie tief ins öde Outback führt. Dort haben Veteranen des Vietnamkriegs ein Buschcamp errichtet, in dem sie sich ungestört treffen und feiern können. Ein traumatisierter und drogensüchtiger Ex-Soldat will dort in einem Fluss beim Angel auf die Leiche einer thailändischen Frau gestoßen sein. Als Dusty dies überprüft, stößt sie tatsächlich auf eine tote Asiatin, der ein Messer im Leib steckt, doch als wenig später ein Kollege von der Spurensicherung erscheint, ist die Leiche verschwunden.

Schlimmer noch: Es gibt keine Beweise für ihre Existenz. Dusty leidet unter Halluzinationen, so schlussfolgert ihre ungeliebte Vorgesetzte, und schiebt sie ins Polizeiarchiv und damit ins berufliche Abseits ab. Doch Dusty will diese Schmach nicht hinnehmen. Sie beginnt auf eigene Faust zu ermitteln.

Dies führt sie ins Rotlichtmilieu von Darwin und in brenzlige Situationen, in denen ihr schon einmal ein neugieriges Schwein aus der Bredouille helfen muss. Nach und nach kommt Dusty einem verwickelten Mordfall auf die Spur, der sogar mit dem Fall der getöteten Touristin in Verbindung steht. Dies spornt Dusty an, umso eifriger nachzuforschen – und es steigert die Unruhe und den Handlungsdrang derer, die sich vor der lästigen Polizei sicher wähnten …

_Mord und Verdruss in der australischen Provinz_

Zwischen Darwin im Norden Australiens und Schottland im Norden der britischen Hauptinsel scheint es ungeahnte Parallelen zu geben. Jedenfalls fühlt sich der Krimi-Freund bei der Lektüre von „Vor dem Regen“ immer wieder in das Edinburgh des Ian Rankin versetzt. Zwischen Frances Buchanon und John Rebus klaffen zwar buchstäblich Welten. Dennoch erzählen sowohl Rankin als auch Phillip Gwynne ebenso spannend wie humorvoll von zwei notorischen Querköpfen, die es ausgerechnet in den Polizeidienst verschlagen hat.

Zwar gehört „Dusty“ Buchanon genau dorthin. Dies würde sie jedoch nie offen zugeben. Sie lebt für die Ermittlung, sie ist gut ausgebildet und eifrig. Darüber hinaus verfügt sie über jenes Quäntchen Zusatz-Intelligenz, das viele Vorgesetzte hassen, weil es Unruhe in ihren bürokratischen Alltag bringt oder – noch schlimmer – sie so dumm aussehen lässt, wie sie (manchmal) tatsächlich sind. Dustys Arbeitsalltag besteht daher mindestens zu gleichen Teilen aus der eigentlichen Polizeiarbeit sowie dem Kampf gegen das System.

Unkonventionelle Menschen sind umgangsschwierig. Als weiteres Element kommt die Tatsache ins Spiel, dass Dusty sich oft selbst am meisten im Weg steht. Darwin stellt sich in der Schilderung von Phillip Gwynne zudem als geografisch und kulturell ziemlich abgelegene Provinzstadt mit einem außerordentlich kreislaufbelastenden Klima dar: Der „Build Up“ des Originaltitels bezeichnet die Monate Oktober bis Dezember, die im tropischen Nordaustralien durch eine ständig zunehmende, drückende Hitze gekennzeichnet sind, bevor endlich die Regenzeit einsetzt.

|Simple Verbrechen in einem komplexen Fall|

Gwynne versinnbildlicht mit diesem Titel außerdem den Höhepunkt eines Geschehens, das den dramatischen und erlösenden Durchbruch in einer lange durch Lügen, Irrtümer und Missverständnisse geprägten Mordermittlung beschreibt. Für die lange Durststrecke kann man weder Dusty noch ihre Kollegen wirklich verantwortlich machen, denn der Verfasser kreiert einen Plot, der dem Zufall persönlich staunende Anerkennung abfordern dürfte. Dies ist nicht negativkritisch gemeint, da Gwynne eine rundum spannende Geschichte erzählt. Doch an ein Miträtseln des Lesers im Sinn eines „Whodunit“ ist hier sicher nicht zu denken.

Die Glaubwürdigkeit der Handlung wird arg strapaziert, wenn Gwynne zwei Verbrechen eine gemeinsame Wurzel schafft, die logisch nicht in einen Zusammenhang zu bringen sind, es sei denn, der Leser lässt sich damit ködern, dass manche Geschichte so absurd ist, dass sie einfach nur wahr sein kann. Also entwickelt Gwynne eine hässliche Bluttat zu einer Kette tragischer, bizarrer und komischer Vorfälle, die „Vor dem Regen“ in einen letztlich zwar funktionierenden aber überkonstruierten Krimi verwandeln.

|Der Autor will uns etwas sagen|

Dass dieser Aspekt nebensächlich erscheint, verdankt das Buch dem Geschick eines Schriftstellers, der sich nicht von Genregrenzen einengen lassen möchte. „Vor dem Regen“ ist nicht ’nur‘ Krimi, sondern auch Sittenbild einer australischen Stadt, deren Verhältnisse Phillip Gwynne gut vertraut sind. Darwin ist ein Musterbeispiel für eine multikulturelle Gemeinschaft, die längst nicht so harmonisch ist, wie ihre Befürworter und andere Gutmenschen gern behaupten.

Der Norden Australiens bildet eine Schnittstelle zum indischen und pazifischen Raum und ein Einfallstor nach und für Südostasien. Der kulturelle Kontrast zum ‚weißen‘ Australien der europäischen Einwanderer bedingt zahlreiche Vorurteile; Gwynne schildert u. a. sarkastisch ein Thailand, das zur ‚Bezugsquelle‘ junger, hübscher (Zwangs-) Prostituierter heruntergekommen ist. Hinzu kommen ältere Differenzen mit den Aborigines, die in ihrem eigenen Land weiterhin nur eine geduldete Randexistenz fristen. Last but not least hat auch Australien eine eigene Vietnam-Geschichte. 47.000 mit den USA verbündete Soldaten zogen in den Krieg. Die Heimkehrer litten und leiden unter den bekannten psychischen Spätfolgen.

In seinem Bemühen, den Leser nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu belehren, bleibt der Kinder- und Jugendbuchautor Gwynne erkennbar, der seine pädagogischen Bestrebungen nun auf erwachsene Leser ausweitet. Ihm ist dabei zugutezuhalten, dass diesem Bemühen niemals die Geschichte zum Opfer fällt. „Vor dem Regen“ wurde ohne erhobenen Zeigefinger geschrieben. Für einen Missionar ist Gwynne außerdem viel zu witzig.

|Die Welt ist ein Irrenhaus|

Sein Humor ist trocken und manchmal rabenschwarz. Auch vor echtem Slapstick schreckt er nicht zurück; als im Zuge der Ermittlung ein Hausschwein zu Tode kommt, schmückt Gwynne dies nicht nur zu einer verrückten Episode aus, sondern integriert diesen Vorfall später in die Krimi-Handlung.

Die Mordkommission der Northern Territory Police Force wird zum Hort oft sehr drastischer Cop-Witze. Dustys Kollegen sind sämtlich exzentrisch überzeichnet, wobei der Leser bald merkt, dass der Autor seine ‚Heldin‘ keineswegs ausklammert. Ihr desolates Privatleben endet mit einem Paukenschlag, der „Vor dem Regen“ eigentlich für eine Fortsetzung prädestiniert.

Sehr effektvoll lässt Gwynne absurde Szenen abrupt ins Tragische umkippen. Hinter dem Schein, so demonstriert er auf diese Weise, verbirgt sich eine Realität, die bei näherer Betrachtung einen Missstand markiert, der eigentlich zum Himmel schreit. Erneut und dieses Mal erst recht verkneift sich Gwynne empörte Appelle an ein Tribunal der Gerechtigkeit, dem sich der Leser gefälligst einzugliedern hat. Er holt seine Leser viel geschickter ab und bringt sie dorthin, wo er sie sehen möchte, ohne sie zu drangsalieren oder zu langweilen.

Folgerichtig folgt ihm besagter Leser freiwillig und gern. Dies krönt Phillip Gwynne zwar nicht zur „Krimi-Sensation aus Australien“, wie wir auf dem deutschen Cover lesen müssen, aber sein Roman stellt tatsächlich |“Thrillerstoff am oberen Ende der Skala“| dar, wie ein weiterer werbewirksamer Trompetenstoß verkündet.

_Autor_

Geboren 1958 in Melbourne und aufgewachsen in Südaustralien, wurde Phillip Gwynne als junger Mann professioneller Football-Spieler. Eine Verletzung beendete diese Karriere; sie wurde durch ein Studium der Meeresbiologie an der James Cook University ersetzt. Anschließend begann Gwynne zu reisen. Im Rahmen längerer Auslandsaufenthalte arbeitete er u. a. Lehrer in Thailand oder Programmierer in Belgien.

Nach seiner Rückkehr nach Australien begann Gwynne zu schreiben. Die Legende besagt, dass er dazu inspiriert wurde, weil er seinem Sohn so unterhaltsame Gute-Nacht-Geschichten erzählte. Gwynne besuchte ein Schriftsteller-Seminar des australischen Kinderbuch-Autoren Libby Gleeson. 1998 erschien „Deadly, Unna?“ (dt. „Wir Goonyas, ihr Nungas“), Gwynnes erstes, mehrfach preisgekröntes und verfilmtes Buch für jugendliche Leser, dem weitere folgten. 2008 veröffentlichte Gwynne den Kriminalroman „The Build Up“ (dt. „Vor dem Regen“).

Mit seiner Familie lebt Phillip Gwynne in den Blue Mountains im australischen Neusüdwales.

|Taschenbuch: 384 Seiten
Originaltitel: The Build Up (Sydney : Pan Macmillan Australia 2008)
Übersetzung: Carsten Mayer
ISBN-13: 978-3-442-37427-4

Als eBook: Juni 2010 (Blanvalet Verlag)
ISBN-13: 978-3-641-04287-5|
[www.randomhouse.de/blanvalet]http://www.randomhouse.de/blanvalet

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