Mankell, Henning – fünfte Frau, Die

1993 werden in Algerien fünf Frauen von Fundamentalisten ermordet, vier sind Nonnen aus Frankreich, die fünfte ist eine schwedische Touristin. Ein Jahr später werden in Schweden drei Männer auf brutale Weise umgebracht. Sie waren auf den ersten Blick achtbare Bürger, bei genauerem Hinsehen entpuppen sie sich als Männer, die Frauen seelisch und körperlich schwer misshandelt haben. Sie kannten einander nicht.

Sind diese Morde die Rache eines Vergewaltigungsopfers an Vergewaltigern und Mördern? Ist ein oder eine Serientäter(in) am Werk? Kommissar Wallander muss sich mit seinen Ermittlungen beeilen, wenn nicht weitere, immer grausamere Morde geschehen sollen. Zum Glück weiß er nicht, dass die Todesliste nicht weniger als vierzig Namen enthält.

|Der Autor|

Henning Mankell wurde 1948 in Schweden geboren. Heute verbringt der Schriftsteller, Drehbuchautor und Intendant die eine Jahreshälfte in Moçambique, wo er seit 1996 das Teatro Avenida in der Hauptstadt Maputo leitet. Die andere Jahreshälfte verbringt er in Schweden. Für sein vielseitiges Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so etwa mit dem Deutschen Krimi-Preis und mit dem Deutschen Bücherpreis.

_Handlung_

Im Mai 1993 überfallen islamistische Fundamentalisten in Algerien ein Kloster französischer Nonnen. Vier Frauen sterben sofort, weil sie das Land nicht verlassen wollten, doch es gibt eine fünfte Frau, mit der die Angreifer nicht gerechnet haben: eine schwedische Touristin. Auch Anna Anders muss sterben. Im August erhält Anna Anders’ Tochter einen dicken Brief aus Algerien. Er ist von einer Polizistin, die die Aufgabe hatte, den Tod der fünften Frau aus politischen Gründen zu vertuschen. Doch sie fand eine Tasche mit Briefen an Annas Tochter, welche sie der Tochter nun zusammen mit Annas Pass schickt. Und diese soll niemandem verraten, von wem sie diese Dokumente erhalten hat.

Am 20.8.1993 beschließt die Tochter, ein Jahr lang zu trauern. Aber nicht länger. Inzwischen bereitet sie ihre Rache vor. Und das erfordert sorgfältige Planung.

Am 21. September 1994 verschwindet der Dichter und frühere Autohändler Holger Eriksson aus seinem abgeschieden gelegenen Haus. Nachdem er ein Gedicht über einen Vogel geschrieben hat, macht er einen Spaziergang zu seinem gewohnten Beobachtungsturm, um den Vögeln bei ihrem Zug nach Süden zuzusehen. Doch oben auf dem Turm wartet schon jemand auf ihn. Wer kann das sein? Er tritt auf den Holzsteg, der über einen zwei Meter tiefen Graben führt, und bricht sofort ein. Spitze Pfähle bohren sich in seine Lunge, sein Leben verebbt. Der Beobachter wendet sich zufrieden ab.

Der Ölhändler Sven Turjen gibt eine Vermisstenmeldung auf: Eriksson habe sich nicht gemeldet und sein Postkasten laufe über. Da stimme doch was nicht. Wallander bestätigt diese Befund, als er zu Erikssons Haus fährt. Das Gedicht trägt das Datum des 21.9.1994, heute ist der 28.9. Und dann dieser seltsame Einbruch in das Blumengeschäft von Ystad: eine Blutlache mitten im Laden statt direkt an der Scheibe, und mitgenommen wurde auch nichts. Was ist hier eigentlich los?

Der Gefesselte kann sich kaum rühren, so eng ist er geschnürt. Es ist stockfinster in dem engen Raum, wo jemand ihn nach dem Überfall abgelegt hat. Danach hat er einen kompletten Filmriss: Er kann sich an nichts erinnern. Aber jemand füttert ihn und hilft ihm, seine Notdurft zu verrichten – schon fünf Tage lang. Er ahnt nicht, dass er in einem riesigen alten Backofen steckt. Sein Todesurteil ist bereits unterzeichnet, und nur über seine genaue Todesart wurde noch nicht entschieden …

|Was steckt dahinter?|

Im ansonsten so ruhigen südschwedischen Ystad verschwinden also nacheinander mehrere Männer, die später auf grausige Weise getötet aufgefunden werden. Kommissar Kurt Wallander und seine Kollegen bemühen sich, eine konkrete Absicht hinter diesen Morden zu entdecken. Warum sollte jemand einen zurückgezogen lebenden Dichter und Vogelkundler (Holger Eriksson) oder einen Orchideensammler und -züchter ermorden?

Die Verbindung liegt, wie so oft, in der Vergangenheit und in den Frauen. Wie sich herausstellt, haben Holger Eriksson und Gösta Runfeld wahrscheinlich – aber das ist nicht hundertprozentig sicher – ihre Freundin oder ihre Frau getötet. Das dritte Opfer, Eugen Blumberg, hat seine Geliebte Katarina Taksell, die gerade eine Baby bekommt, grün und blau geschlagen. Und wer ist der Nächste?

Der oder die Mörder üben anscheinend Vergeltung an den Männern, die Gewalt an ihren Frauen ausgeübt haben. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wallander erkennt, dass der Täter nicht für sich selbst tötet, sondern für die Opfer von Männergewalt. Aber warum? Und wie lässt er – oder sie? – sich stoppen?

_Mein Eindruck_

Dieser beeindruckende Mankell-Thriller führt den Leser dicht an die psychologischen Vorgänge heran, die zu einem doppelten dramatischen Showdown führen. Dabei wechselt das erste, sehr actionbetonte Finale unvermittelt in eine beklemmende, schier ausweglose Katastrophe, die Wallander selbst unwillentlich herbeigeführt hat und die Annbritt in eine tödliche Gefahr bringt.

Das geistige Auge des Leser bzw. Hörers sieht sich mehrmals einigen schockierenden Anblicken ausgesetzt. Der Dichter, aufgespießt auf angespitzten Bambusstöcken; ein Mann, gefesselt im Wald; ein anderer ertränkt in einem Sack. Alle lebten noch mindestens ein paar Minuten, bevor das Leben sie verließ. Weil aber für das Heben von Männern ebenfalls ein starker Mann für notwendig gehalten wird, fällt nie der Verdacht auf eine Frau. Ein schwerer Fehler, doch Annbritts weibliche Intuition hilft Wallander, diesen Fehler zu korrigieren.

Dass das zweite Opfer zunächst eine Weile gefangen gehalten worden war, erfährt Wallander erst spät. Die Fundorte und der Backofenkeller sind Szenen wie aus einem düsteren Thriller von David Fincher. Der Anfang von „Sieben“ ließe sich am ehesten mit manchen Stilmitteln vergleichen, die der Regisseur Birger Larsen in der ZDF-Verfilmung dieses Thrillers einsetzte. Ebenso düster, unsicher, verstörend – sowohl im Bild als auch auf der Tonspur. Kein Wunder, dass diese Verfilmung erst ab 16 Jahren freigegeben ist.

Die Verfilmung weicht in vielen und wichtigen Punkten von der Vorlage des Buches ab. Allerdings ist auch das Hörbuch ein gekürzter Text. So taucht beispielsweise keine Bürgerwehr im Hörbuch auf, und auch eine Affäre zwischen Wallander und Annbritt findet nicht statt. Im Gegenteil: Als Annbritt im Krankenhaus liegt, düst ihr Ehemann aus dem arabischen Dubai sofort nach Hause zurück, um an ihr Bett zu eilen.

Selbst das Eingeständnis einer eigenen Schuld, dass Wallander einmal, ein einziges Mal seine Frau (Mona) geschlagen habe, fehlt im Hörbuch. Und selbstverständlich taucht hier auch kein Freund von Linda auf, dem Wallander drohen könnte, er solle ja gut zu seiner Tochter sein. Infolge des Fehlens dieser Szenen erscheint Wallander auf der privaten Ebene selbstgerecht, obwohl er doch auf der beruflich-öffentlichen Ebene nur seine Pflicht tut und den Täter der Gerechtigkeit zuführt.

Aber was ist „Gerechtigkeit“? Die Frage bleibt offen, ob es in irgendeiner Weise „gerecht“ war, dass Anna Anders in Algerien ermordet wurde. Und vor allem die Frage bleibt: „Wer wird jetzt nach ihrem Mörder suchen?“ Wer sorgt dort für Gerechtigkeit?

_Unterm Strich_

„Die fünfte Frau“ ist ein erstklassiger Thriller, der an manchen Stellen stark an David Finchers „Sieben“ erinnert. Es geht um Selbstjustiz, Schuld, moralische Berechtigung, menschlichen Verlust und Gewinn. Natürlich spielen die Ermittlungen in Sachen Serienmorde eine große Rolle, aber sie finden ihr Gegengewicht in den Erlebnissen, die Commissario Wallander hat – die meisten sind nicht allzu angenehm.

Das Buch fängt ganz langsam an, mit ein paar Merkwürdigkeiten wie dem Verschwinden zweier Männer und dem Einbruch in einen Blumenladen in Ystad. Aber das letzte Drittel besteht fast nur noch aus einer Verfolgungsjagd. Wie im Film macht die Polizei von Lund keine besonders gute Figur, als sie die überwachte Person über die Hintertreppe entkommen lässt. Bis der Täter identifiziert ist, vergeht noch einmal eine Schnitzeljagd, bei der Herr Bergstrand, ein Beamter der Staatsbahnen, von Wallander und Co. regelrecht gepiesackt wird – der Ärmste!

Wie gesagt, gibt es praktisch zwei Finali und einen schönen, langen, recht melancholischen Epilog. Wieder einmal erscheint uns Wallander als ein Frauenversteher, aber auch er kann seinem Täter nicht mehr helfen. Dieser Schluss weicht völlig von dem des Films ab und sollte als eigenständig gewürdigt werden.

Von mir gibt es für diese Leistung eine uneingeschränkte Empfehlung.

|Originaltitel: Den femte kvinnan, 1996
Aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt|