Harris, Joanne – Feuervolk

Maddy war von Kindesbeinen an eine Außenseiterin. Die Bewohner ihres Dorfes betrachten sie mit Argwohn, der Pfarrer mit Verachtung und selbst ihr Vater und ihre Schwester schämen sich für sie. Ihr einziger Freund ist der abgerissene, einäugige Vagabund, den sie im Alter von sieben Jahren in der Nähe des Hügels mit dem roten Pferd getroffen hat. Sieben Jahre lang hat er sie einmal im Jahr besucht. Er hat ihr beigebracht, was es mit dem Mal in ihrer Hand auf sich hat, hat sie Lesen und Schreiben gelehrt und ihr Geschichten erzählt, und Maddy war eine gelehrige Schülerin.

Doch eines Tages wird aus dem interessanten Lernstoff Ernst. Der Namenlose, der über Jahrhunderte hinweg immer mehr Anhänger gefunden hat, bedroht das Gleichgewicht der Welt. Und es scheint, dass nur ein magisches Artefakt aus uralter Zeit diese Bedrohung aufhalten kann: der Flüsterer. Maddy macht sich auf die Suche danach und bringt damit Ereignisse ins Rollen, die bald zur unaufhaltsamen Lawine zu werden drohen …

_Maddy ist ein kleiner Wildfang_, trotzig, stur und sehr intelligent. Schon allein diese Eigenschaften sind in den Augen ihrer Mitmenschen äußerst unpassend für ein Mädchen. Abgesehen davon aber ist Maddy auch noch neugierig und mit einer gehörigen Portion Phantasie begabt, und das ist nicht nur ungehörig, sondern geradezu suspekt! Maddy bekümmert die Ablehnung durch ihre Umgebung zwar, trotzdem besitzt das Mädel genug Selbstbewusstsein, um sich dadurch nicht beirren zu lassen.

Dem Pfarrer ist Maddy ein ganz besonderer Dorn im Auge. Nicht deshalb, weil sie ein „Hexenmal“ trägt oder magische Fähigkeiten besitzt, sondern weil sie sich weigert, ihre Fähigkeiten zu seinem Nutzen einzusetzen! Denn Pfarrer Parson ist nicht nur dumm, er ist auch ehrgeizig, und das war schon immer eine ungesunde Mischung …

Außerdem wäre da noch ein kleiner Kobold namens Zucker-und-Sack erwähnenswert, dessen hervorstechendste Eigenschaften neben der Neugier ein erstaunlicher Mut und eine ungewöhnliche Neigung zur Treue sind.

Das klingt jetzt in Sachen Charakterzeichnung vielleicht insgesamt eher mager, ist es aber nicht. Joanne Harris ist es gelungen, alle ihre Figuren äußerst lebensecht und mit einem gewissen Augenzwinkern zu zeichnen, das selbst den bigotten Pfarrer gelegentlich fast liebenswert erscheinen lässt. Das gilt auch für diejenigen Charaktere, die sie aus der germanischen Sagenwelt entliehen hat und die einen Großteil des Personenaufgebots stellen.

_Das Interessante an Harris‘ Geschichte_ ist, dass sie nach der Götterdämmerung spielt. Dabei hat sie zu keiner Zeit versucht, der Angelegenheit einen historischen Anstrich zu verleihen, sondern stattdessen den Weltuntergang so stattfinden lassen, wie es die Sage der Germanen vorsieht. Mit der einen kleinen Ausnahme, dass die Geschichte damit nicht zu Ende ist.

Maddy lebt also in der Zeit nach der Götterdämmerung. Kaum jemand weiß noch etwas über die Asen und Wanen, denn zum einen ist es nur Pfarrern und Ordensleuten gestattet, Lesen zu lernen, und zum anderen dürfen nur die Geschichten über die Alte Zeit erzählt werden, die im Buch der Bücher enthalten sind. Träumen gilt als gefährlich, Zauberei ist offiziell verpönt. In der einen Stadt wird jeder Träger eines „Hexenmals“ den Examinatoren übergeben, ganz gleich, ob Mensch oder Tier. Nur die hinterwäldlerische Lage von Maddys Dorf hat das Mädchen vor diesem Schicksal bewahrt.

Dass der Examinator an einen Inquisitor erinnert, die Grundlage der neuen religiösen Ordnung „Buch der Bücher“ heißt, und die Macht der Ordensleute auf Dem Wort beruht, sind natürlich bewusste Anspielungen, ebenso wie die Landkarte, die gewissermaßen ein wenig an die britischen Inseln erinnert. Über mehr als Anspielungen gehen die Ähnlichkeiten allerdings nicht hinaus.

Natürlich sind die alten Götter mit dieser Weltanschauung keinesfalls einverstanden, doch ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Zwar sind nicht alle in der Unterwelt eingesperrt, wie die offizielle Doktrin behauptet. Noch immer wird das Totenreich von Hel beherrscht. Und auch Odin und Loki befinden sich auf freiem Fuß. Allerdings sind sie kläglich in der Unterzahl, und außerdem hat offenbar jeder in dieser Clique mit jedem noch wegen irgendeiner Sache aus alter Zeit ein Hühnchen zu rupfen. Und weil keiner seine eigenen kleinlichen Rachegelüste mal beiseite lassen kann, sind sie alle heillos zerstritten, intrigieren gegeneinander und trachten sich sogar nach dem Leben! Außerdem scheint keiner von ihnen jemals die Wahrheit zu sagen!

Dabei hätten sie Zusammenhalt dringend nötig. Denn seit der Götterdämmerung sind ihre Runen spiegelverkehrt, sodass keine von ihnen mehr über ihre volle Macht verfügt. Auch bei dem Flüsterer, jenem mächtigen Artefakt, hinter dem alle her sind, handelt es sich nicht um einen besonderen Zauberspruch, eine Waffe oder sonst irgend etwas Brauchbares, sondern um ein Orakel. Ich wunderte mich deshalb ein wenig, warum sämtliche Beteiligten so scharf auf dieses Ding sind, denn letztlich sind von ihm nur die üblichen, vieldeutigen und ziemlich nutzlosen Weissagungen zu bekommen. Außerdem hat der Flüsterer seinen eigenen Kopf. Doch die junge, unerfahrene Maddy merkt natürlich nicht, dass sie manipuliert wird.

_Aus diesen Zutaten_ hat die Autorin ein abwechslungsreiches und verwickeltes Katz-und-Maus-Spiel gemacht, das gegen Ende in eine aberwitzige Befreiungsaktion und letztlich in einen spannenden Showdown mit unerwartetem Ende mündet. Dabei hat sie der Handlung mindestens ebenso viel augenzwinkernden Humor angedeihen lassen wie ihren Charakteren. Die trockenen Sprüche und abgedrehten Situationen ließen mich immer wieder laut auflachen.

Alles in allem ist „Feuervolk“ eine sehr charmante und unterhaltsame Lektüre voller liebenswerter und völlig klischeefreier Figuren, mit einer interessanten Welt und einer bunten, bewegten und spannenden Handlung, und obendrauf mit einem Sahnehäubchen aus Ironie. Sehr lesenswert.

_Joanne Harris_, Tochter englisch-französischer Eltern, war von Beruf Lehrerin, bis ihr Roman „Chocolat“ zum Bestseller und zur Vorlage für den gleichnamigen Film wurde. Die Fortsetzung zu „Chocolat“ erschien im September dieses Jahres unter dem Titel „Himmlische Wunder“, außerdem schrieb sie noch weitere Romane, darunter „Das verbotene Haus“ und „Fünf Viertel einer Orange“. „Feuervolk“ ist ihr erster Jugendroman.

http://www.cbj-feuervolk.de

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