Kluge, Manfred (Hrsg.) – Trägheit des Auges, Die; Magazine of Fantasy and Science Fiction 53

_Unerwartete Abgänge: Polaroids des Todes_

Vom traditionsreichen SF-Magazin „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ erscheinen in dieser 53. Auswahl folgende Erzählungen:

1) Die Story von den taubblinden Kindern, die eine neue Form des Zusammenlebens suchten – und fanden.

2) Die Story von den Wissenschaftlern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das größte Säugetier der Galaxis zu erforschen.

3) Die Story von dem Popstar, der sich vor einem Millionenpublikum einen leuchtenden Abgang verschafft.

4) Die Story von der Instantkamera aus dem Nachlass eines Zauberers, die makabre Nebenwirkungen zeigt.

5) Die Story von dem chinesischen Zauberkabinett, mit dessen Hilfe man in jede Welt gelangen kann, die je beschrieben worden ist.

_Das Magazin_

Das „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ besteht seit Herbst 1949, also rund 58 Jahre. Zu seinen Herausgebern gehörten so bekannte Autoren wie Anthony Boucher (1949-58) oder Kristin Kathryn Rusch (ab Juli 1991). Es wurde mehrfach mit den wichtigsten Genrepreisen wie dem HUGO ausgezeichnet. Im Gegensatz zu „Asimov’s Science Fiction“ und „Analog“ legt es in den ausgewählten Kurzgeschichten Wert auf Stil und Idee gleichermaßen, bringt keine Illustrationen und hat auch Mainstream-Autoren wie C. S. Lewis, Kingsley Amis und Gerald Heard angezogen. Statt auf Raumschiffe und Roboter wie die anderen zu setzen, kommen in der Regel nur „normale“ Menschen auf der Erde vor, häufig in humorvoller Darstellung. Das sind aber nur sehr allgemeine Standards, die häufig durchbrochen wurden.

Hier wurden verdichtete Versionen von später berühmten Romanen erstmals veröffentlicht: „Walter M. Millers „Ein Lobgesang auf Leibowitz“ (1955-57), „Starship Troopers von Heinlein (1959), „Der große Süden“ (1952) von Ward Moore und „Rogue Moon / Unternehmen Luna“ von Algus Budrys (1960). Zahlreiche lose verbundene Serien wie etwa Poul Andersons „Zeitpatrouille“ erschienen hier, und die Zahl der hier veröffentlichten, später hoch dekorierten Stories ist Legion. Auch Andreas Eschbachs Debütstory „Die Haarteppichknüpfer“ wurde hier abgedruckt (im Januar 2000), unter dem Titel „The Carpetmaker’s Son“.

Zwischen November 1958 und Februar 1992 erschienen 399 Ausgaben, in denen jeweils Isaac Asimov einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlichte. Er wurde von Gregory Benford abglöst. Zwischen 1975 und 1992 war der führende Buchrezensent Algis Budrys, doch auch andere bekannte Namen wie Alfred Bester oder Damon Knight trugen ihren Kritiken bei. Baird Searles rezensierte Filme. Eine lang laufende Serie von Schnurrpfeifereien, sogenannte „shaggy dog stories“, genannt „Feghoots“, wurde 1958 bis 1964 von Reginald Bretnor geliefert, der als Grendel Briarton schrieb.

Seit Mitte der sechziger Jahre ist die Oktoberausgabe einem speziellen Star gewidmet: Eine neue Story dieses Autors wird von Artikeln über ihn und einer Checkliste seiner Werke begleitet – eine besondere Ehre also. Diese widerfuhr Autoren wie Asimov, Sturgeon, Bradbury, Anderson, Blish, Pohl, Leiber, Silverberg, Ellison und vielen weiteren. Aus dieser Reihe entstand 1974 eine Best-of-Anthologie zum 25-jährigen Jubiläum, aber die Best-of-Reihe bestand bereits seit 1952. Die Jubiläumsausgabe zum Dreißigsten erschien 1981 auch bei Heyne.

In Großbritannien erschien die Lokalausgabe von 1953-54 und 1959-64, in Australien gab es eine Auswahl von 1954 bis 1958. Die deutsche Ausgabe von Auswahlbänden erschien ab 1963, herausgegeben von Charlotte Winheller (Heyne SF Nr. 214), in ununterbrochener Reihenfolge bis zum Jahr 2000, als sich bei Heyne alles änderte und alle Story-Anthologie-Reihen eingestellt wurden.

_Die Erzählungen _

_1) John Varley: Die Trägheit des Auges (The Persistence of Vision, 1978, HUGO und NEBULA)_

Ende des 20. Jahrhunderts herrscht in den USA mal wieder Wirtschaftskrise, zumal der Raktor von Omaha in die Luft geflogen ist und eine verstrahlte Zone erzeugt hat, den China-Syndrom-Streifen. Unser Glückssucher, der sich von Chicago gen Kalifornien aufgemacht hat, passiert die Flüchtlingslager von Kansas City, die nun als „Geisterstädte“ tituliert werden. In der Gegend von Taos, New Mexico, lernt er zahlreiche experimentelle Kommunen kennen, wo man leicht eine kostenlose Mahlzeit bekommen kann. Von den militanten Frauenkommunen hält er sich klugerweise fern.

Auf dem Weg nach Westen stößt er mitten im Nirgendwo auf eine Mauer. So etwas hat er im Westen höchst selten gesehen, so dass er neugierig wird. Ein Navaho-Cowboy erzählt ihm, hier würden taube und blinde Kinder leben. Eisenbahnschienen führen um das ummauerte Anwesen herum, so dass er ihnen einfach zum Eingang folgen kann. Dieser ist offen und unbewacht, was er ebenfalls bemerkenswert findet. Gleich darauf erspäht er mehrere Wachhunde.

Um ein Haar hätte ihn die kleine Grubenbahn überfahren, die von einem stummen Fahrer gesteuert wird. Dieser entschuldigt sich überschwänglich und vergewissert sich, dass dem Besucher nichts passiert ist. Dieser versichert ihm, dass dem so ist. Der Fahrer schickt ihn zu einem Haus, in dem Licht brennt. Der Besucher bemerkt, wie schnell sich die blinden und tauben Bewohner der Kuppelgebäude bewegen. Sie tun dies aber nur auf Gehwegen, von denen jeder seine eigene Oberflächenbeschaffenheit aufweist. Unser Freund nimmt sich vor, niemals einen solchen Gehweg zu blockieren.

In dem erleuchteten Gebäude gibt es etwas zu essen. Er muss sich jedoch von vielen Bewohnern abtasten lassen. Sie sind alle freundlich zu ihm. Ein etwa 17-jähriges Mädchen, das sich weigert, wie die anderen Kleidung zu tragen, erweist sich als sprech- und sehfähig, was ihm erst einmal einen gelinden Schock versetzt. Sie nennt sich Rosa und wird zu seiner Führerin und engsten Vertrauten, schließlich auch zu seiner Geliebten.

Im Laufe der fünf Monate seines Aufenthaltes erlernt er die internationale Fingergebärdensprache, aber er merkt, dass die anderen noch zwei weitere Sprachen benutzen. Das eine ist die Kurzsprache, die mit Kürzeln arbeitet, die nur hier anerkannt sind. Die andere, viel schwieriger zu erlernende ist die Einfühlungssprache, die sich jedoch von Tag zu Tag ändert.

Als er sie schließlich entdeckt, ahnt er, dass er sie nicht wird völlig erlernen können. Denn dazu müsste er ja selbst blind und taub sein. Und dass die Sprache des Tatens auch den gesamten Körpers umfasst, versteht sich von selbst. Deshalb gehört auch die körperliche Liebe dazu.

Eines Tages erfährt er, welche Stellung er in der Kommune einnimmt. Er stellt aus Gedankenlosigkeit einen gefüllten Wassereimer auf einem der Gehwege ab und widmet sich seiner Aufgabe. Als ein Schmerzensschrei ertönt, dreht er sich um, nur um eine weinende und klagende Frau am Boden liegen zu sehen. Aus ihrem Schienbein, das sie sich am Eimer gestoßen hat, quillt bereits das Blut. Es ist die Frau, die ihn als erste in der Kommune begrüßt hat. Nun tut es ihm doppelt leid, und er ist untröstlich. Doch Rosa informiert ihn, dass er sich einem Gericht der ganzen Kommune von 116 Mitgliedern stellen muss …

|Mein Eindruck|

Die vielfach ausgezeichnete Erzählung stellt dar, wie sich allein aus der Kommunikation eine utopische Gemeinschaft entwickeln lässt. Dass natürlich auch ökonomische, legale und soziale Randbedingungen erfüllt sein müssen, versteht sich von selbst, aber dass Außenseiter ihre eigene Art von Überlebensstrategie – in einer von Rezession und Gewalt gezeichneten Welt – entwickeln, schürt die Hoffnung, dass nicht alles am Menschen schlecht und zum Untergang verurteilt ist.

Der Besucher, ein 47-jähriger Bürohengst aus Chicago, findet in der Gemeinschaft der Taubblinden nicht nur sein Menschsein wieder, sondern auch eine Perspektive, wie er in der Außenwelt weiterleben kann. Er arbeitet als Schriftsteller, und dessen Job ist die Kommunikation.

Neben den drei Ebenen der Sprache, die die Taubblinden praktizieren, gibt es noch eine Ebene der Verbundenheit, die er nur durch die Zeichen +++ ausdrücken kann. Auf dieser Ebene findet mehr als Empathie statt, weniger als Telepathie. Aber es ist eine Ebene, erzählt ihm Rosa bei seiner Rückkehr, die es den Taubblinden (zu denen sie und die anderen Kinder nicht zählen) erlaubt hat, zu „verschwinden“. Wohin sind sie gegangen, will er wissen. Niemand wisse es, denn sie verschwanden beim +++en.

Es handelt sich also eindeutig um eine SF-Geschichte, nicht etwa um eine Taubblindenstudie, die in der Gegenwart angesiedelt ist. Für ihre Zeit um 1977/78 war die Geschichte wegweisend. Nicht nur wegen des Gruppensex und die Telepathie, die an das „Groken“ in Heinleins Roman „Fremder in einem fremden Land“ erinnert. Auch Homosexualität wird behandelt – und in der Geschichte praktiziert.

Wichtiger als diese Tabuthemen ist jedoch der durchdachte ökologische Entwurf für die Kommune und die Anklage gegen die Vernachlässigung bzw. Fehlbehandlung der Taubblinden – nicht nur in den USA. Der Verweis auf Helen Keller (1880-1968) und ihre Lehrerin Ann Sullivan verhilft dem Leser zu einem Einstieg in die Thematik, etwa in der Wikipedia.

_2) Gregory Benford: In fremdem Fleisch (In Alien Flesh)_

Im System Zeta Reticuli haben Wissenschaftler vor 30 Jahren eine hochintelligente Spezies entdeckt, die Droghenda. Die gigantischen Fettklumpen, die zu höchster Mathematik fähig sind, leben in einem weiten Ozean, kommen aber mitunter in seichtes Wasser, um – ja, um was zu tun? Das gilt es ja eben zu erforschen.

Zu diesem Zweck wird Reginri angeheuert, der mit seiner Gefährtin Belej eine Art Farmer ist. Folglich muss er in diesen Job, von dem er mehr Geld als aus der Feldarbeit erhofft, genau eingewiesen werden. Die Wissenschaftsingenieure Vanleon und Satsuke erklären ihm seine Aufgabe: Er soll in das Einstiegsloch in zehn Meter Höhe steigen und die Kabel in die Tiefe führen, an denen die Sensoren angebracht sind. Diese Sensoren sollen die Gedanken des Droghenda empfangen und übermitteln.

Mit dem Einstieg klappt es ganz gut, und Reginri arbeitet sich in seinem Raumanzug in die Tiefe der schlüpfrigen Gänge vor. Doch auf einmal gerät der Fleischberg in Bewegung und der Kontakt zu Vanleon reißt ab. Reginri überbrückt mit einer Notschaltung, bekommt aber auf einmal die Gedanken des Wesens mit, in dem er steckt. Kosmische Gedankenbilder und heftige Gefühle überladen seinen Geist …

|Mein Eindruck|

Die Story gehört zur SF-Untergattung „Erstkontakt“. Dabei spielt das Wechselspiel zwischen Beobachter und Beobachtungsgegenstand die zentrale Rolle. In der technizistischen SF Campbell’scher prägung ist der Beobachter stets objektiv, kühl und unangetastet. Dies änderte sich spätestens in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, als die Autoren (neben vielen anderen) verstanden, dass der Mensch ein Teil des lebenden Organismus namens Erde ist und nur als solcher betrachtet werden kann. Das ist der Grundgedanke der Ökologie.

Der Autor überträgt das Grundprinzip der Partizipation auf den Erstkontakt. Die Droghenda haben etwas, das die Menschen unbedingt haben wollen. Deshalb wird eine Menge Mühe aufgewendet, um sie zu erforschen. Doch der Beobachter wird unversehens zum Teil des Beobachteten. Es kann nicht ausbleiben, dass beide einander etwas geben. Und so wird Reginri stets einen Teil der Droghenda-Welt mit sich tragen …

Die Story ist einfach in mehreren Rückblenden erzählt, schildert aber eine mehrdimensionale Erfahrung: die Technik, die Gefühle und die Gedanken, die dabei eine Rolle spielen. Und die Erfahrung ist nicht zu Ende, sondern führt auf Reginris Heimatwelt und in seiner Liebesbeziehung zu Veränderungen …

_3) Edward Bryant: Die Schere zerbricht am Stein (Stone)_

Jain Snow ist ein großer Star im Sensostim-Konzertgeschäft. Sie ist in ihr Senso-Netz eingehüllt, und durch die Wunder der Technik übertragen sich die Gefühle, die sie in ihrem Publikum erweckt, zurück auf sie, so dass eine Rückkopplung entsteht. Für eben diese Sensostim-Technik ist Rob, ihr Geliebter, zuständig. Er ist aber nur einer in ihrer Familie aus engsten Vertrauten und Gelegenheitslovern.

Das größte Konzert der Tournee soll in Denvers Arena vor 900.000 Zuschauern stattfinden. Die Technik macht diese gigantische Zuschauermenge zu einem Teil der Erfahrung, und diese Erfahrung dürfte diesmal außerordentlich sein. Am Nachmittag davor bittet Jain ihren Techniker-Geliebten um einen besonderen Gefallen. Er solle ihre Asche von einem Berg ihrer Heimat verstreuen. Da er beim Knobeln – dem Spiel von Stein, Schere und Papier – verliert, willigt er ein.

Tatsächlich wird das Konzert zu einer ungewöhnlichen Erfahrung – doch es endet anders, als das Management es sich vorgestellt hat …

|Mein Eindruck|

Obwohl die Handlung bis zum Finale nachvollziehbar erzählt ist und auch die Gefühle voll zur Geltung kommen, so fehlt doch etwas, um sie großartig zu machen. Dieses Etwas besteht in der fehlenden Begründung für Jains Freitod durch sensorische Überlastung. Sie ist ja nicht gerade verzweifelt, kurz vorm Bankrott oder weint einem Lover hinterher, der ihr Herz brach. Die einzige Begründung, die der Autor liefert, ist der Verlust beider Eltern in Jains Kindheit. Ansonsten gilt nur Neil Youngs Motto: „It’s better to burn out than to fade away.“ Die Story wurde trotzdem mit Preisen ausgezeichnet.

_4) Robert Bloch: Du kriegst, was du siehst (What You See Is What You Get)_

Charlie Randall ist kein Mann für auffällige Aktionen, denn er dealt mit Rauschgift. So kauft er sich eine neue Kamera nicht etwa im Supermarkt, sondern in einem Trödelladen, wo alte Dinge aus Nachlässen und Auktionen zu finden sind. Diese spezielle Kamera macht Fotos nach dem Polaroid-Prinzip, entwickelt den Schnappschuss also auch gleich. Für zehn statt vierzig Piepen ein Schnäppchen, denkt Charlie.

Als erstes Motiv nutzt er seinen einzigen Lebensgefährten: Butch, den Deutschen Schäferhund. Doch als Charlie vom Dealen zurückkehrt, attackiert ihn Butch, und er kann sich gerade noch mit einem kühnen Sprung in Sicherheit bringen. Wenig später ist Butch tot. Vor seinem Maul steht Schaum, was auf einen akuten Fall von Tollwut hindeutet. Noch ahnt Charlie nichts, als er ihn im Steinbruch begräbt.

Als am nächsten Tag ein Anwalt die Kamera kaufen will, merkt Charlie, das an dem Ding etwas Besonderes dran ist. Warum sollte jemand 500 Dollar für einen 10-Dollar-Apparat anbieten. Der Anwalt sagt, sie stamme aus dem Nachlass eines Zauberers, und dessen zwei Söhne würden sie gerne „aus sentimentalen Gründen“ gerne zurückhaben. Eine glatte Lüge. Als der Anwalt abfährt, knipst ihn Charlie. Am nächsten Tag liest er in der Zeitung, der Anwalt sei gegen eine Wand gefahren und gestorben. Merkwürdig, findet Charlie. Ein mulmiges Gefühl beschleicht ihn.

Aber zu diesem Zeitpunkt hat Charlie bereits ein Instant-Foto von Rosie, seiner Putzfrau, gemacht …

|Mein Eindruck|

Kann man sich wirklich auf den Tod verlassen? Um diese knifflige Frage geht es in der Story. Die Kamera knipst nämlich die nahe Zukunft. Als Charlie ein Foto von sich selbst macht, entdeckt er einen Angreifer mit einem Messer hinter sich – aber nur auf dem Foto. Und da er diesen Mann gleich treffen wird, hat er eine gute Handhabe, wie er den Tod überlisten kann.

Nach vollbrachter Heldentat will er allerdings die Kamera anhand ihrer Fotobeweise als Ersatz für eine Kristallkugel einsetzen. Wie kann er das aber, wenn er selbst das, was sie auf dem 4. Foto zeigt, verhindert hat? Doch keine Sorge, Charlie: Der Tod sorgt immer dafür, dass er bekommt, was ihm zusteht …

Wer jetzt an „Final Destination“ denkt, liegt wohl genau richtig. Obwohl der Autor von „Psycho“ wohl weniger an eine Verfilmung gedacht hat.

_5) Woody Allen: Kugelmass, der Unglücksrabe (The Kugelmass Episode)_

Sydney Kugelmaß ist Professor für Klassische Literatur am City College von New York City und schon zum zweiten Mal unglücklich verheiratet. Daphne sei eine „kalte Dampfnudel“, klagt er Dr. Mandel, seinem Seelenklempner, sein Leid. Er wolle eine Affäre, ein Gspusi, damit er wieder Freude am Leben habe. Dr. Mandel sagt ihm klipp und klar, er sei Psychotherapeut und kein Zauberer. Denn was sein Patient offenbar nicht wahrhaben will, ist die Tatsache, dass Kugelmaß ein dicker, glatzköpfiger und behaarter Jude ist.

Ein solcher ruft bei Kugelmaß wenig später an. Er nennt sich „Der Große Himmelreich“. Als Kugelmaß ihn besucht, präsentiert ihm der Mann ein chinesisches Zauberkabinett, in das er sich setzen soll. Sofort werde er in jedes beliebige Literaturwerk versetzt, in dem eine ihm genehme Frau vorkomme. Nach einigem Hin und Her fällt die Wahl von Kugelmaß auf Emma Bovary aus dem Roman von Gustave Flaubert – eine Französin muss es sein.

Der Transfer nach Yonville ins Haus von Emma klappt problemlos, und da Emmas Mann Charles als Landarzt ständig unterwegs ist, kredenzt sie dem unerwarteten Besucher ein Glas Wein. Es bleibt nicht bei einem Glas aund auch nicht bei diesem Besuch, denn Emma ist ein aufgewecktes, unternehmungslustiges Frauenzimmer und Kugelmaß ein praktisch denkender Mann, der weiß, was Frauen wollen. Die Studenten in aller Welt fragen sich jedoch, wer dieser dicke glatzköpfige Jude sei, mit dem Emma ein Verhältnis angefangen hat.

Emma ist durch Kugelmaß‘ Erzählungen von New York so davon fasziniert, dass sie diesmal mitkommen möchte. Auch kein Problem! Stante pede quartiert der Professor sie im Plaza Hotel ein und zeigt ihr die Wunder der Stadt. Nach einigen Wochen wachsen ihm die Rechnungen ebenso wie sein Doppelleben über den Kopf und es kommt, wie es kommen muss: Emma soll zurück.

Doch da versagt die Himmelreich-Maschine und es kommt zu unerwarteten Komplikationen. Denn Daphne, Kugelmaß‘ Eheweib, wittert Unrat …

|Mein Eindruck|

Woody Allens Satire auf die Phantasien der Ehemänner liest sich flott und vergnüglich. Kugelmaß redet daher wie Allens männliche Filmfiguren: lamentierend, unzufrieden, selbstgefällig. Diesmal nimmt er sich der Phantasiegeliebten an. Wie sähe denn die ideale Geliebte aus? Die Weltliteratur liefert dazu ja jede Menge Vorlagen und Beispiele.

Doch man täte Emma Bovary Unrecht, wenn man sie nur als Sexobjekt betrachtete. Sie ist genauso an einer Liebschaft interessiert wie ihr neuer Galan und will mit ihm die Welt erobern. Schon interessiert sie sich fürs Filmbusiness und will Fotos machen lassen – da kann sie endlich wieder zurück nach Yonville, in ihren Roman.

Nun sollte man meinen, Kugelmaß wäre durch den frustrierenden Verlauf seiner Liebschaft für immer kuriert. Weit gefehlt! Als nächstes Ziel nimmt er sich eine Figur aus „Portnoys Beschwerden“ vor …

_Die Übersetzung_

Obwohl die Übersetzungen kompetent erledigt wurden, finden sich die allfälligen Druckfehler. Auf Seite 7 heißt es „mit“ statt „mir“, auf Seite 136 dann „Soux Falls“ statt „Sioux Falls“. Einen etwas krasseren Fehler stellt der Wandel des Geschlechts in einem Satz auf Seite 8 dar: „Die Kernschmelze bahnte sich seinen (!) Weg Richtung China …“.

_Unterm Strich_

Das Prunkstück dieser Auswahl ist natürlich John Varleys titelgebende Novelle „Die Trägheit des Auges“. Die anrührende Geschichte zeichnet den Kontrast zwischen technisch-wissenschaftlichem Fortschritt, der im Super-GAU von Omaha seinen Bankrott erklärt hat, und der menschlichen Evolution auf. So eröffnet die Geschichte Möglichkeiten für eine intensivere Weiterentwicklung des menschlichen Miteinanders.

Die Finger, die schneller sind als das Auge (daher der Titel), können nicht lügen – ein gewaltiger Sprung in der Verständigung zwischen Menschen. Vielleicht überlegt es sich nun so mancher Leser zweimal, bevor er das nächste Mal einen Behinderten bemitleidet – oder Schlimmeres.

Fast ebenso gelungen, aber weitaus weniger ambitioniert, fand ich Benfords Erzählung „In fremdem Fleisch“. Hier ist der ökologische Gedanke umgesetzt, dass wir Teil eines Ganzen sind und die Kommunikation damit stets in beide Richtungen erfolgt. So werden die Gedanken und Empfindungen des riesigen Drongheda auch ein Teil des menschlichen Besuchers.

Die drei letzten Erzählungen fallen dagegen ein klein wenig ab, sind aber dennoch recht unterhaltsam. Insbesondere die Storys von Robert Bloch und Woody Allen wissen auch zu amüsieren, wenn auch satirisch oder makaber. Bryants Story liegt irgendwo zwischen all diesen Polen, weder herausragend noch heiter, noch sonderlich umwerfend. Da fragt man sich, warum manche Texte einen Preis bekommen und andere nicht.

Insgesamt kann ich ein positives Fazit ziehen. Diese Auswahl lohnt sich, allein schon wegen der Titelstory. Wer kann, sollte sich die komplette Varley-Storysammlung „The Persistence of Vision“ zulegen, die 1981 auf Deutsch bei Goldmann in drei Bänden erschien (siehe dazu meine drei Berichte).

|Taschenbuch: 144 Seiten
Erstveröffentlichung im Original: 1977/78
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453305748|
[www.heyne.de]http://www.heyne.de

_Mafred Kluge bei |Buchwurm.info|:_
[„Die Cinderella-Maschine“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3669
[„Jupiters Amboss. Magazine of Fantasy and Science Fiction 49“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7458
[„Katapult zu den Sternen. Magazine of Fantasy and Science Fiction 51“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7460

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