Andreas Eschbach – Todesengel


„Es mangelt an Zivilcourage!“

Doch woran liegt das? An den immer schneller mit immer gleichgültigerer Gewalt vorgehenden Tätern?

Mit Sicherheit spielt das eine entscheidende Rolle. Die Brutalität in den „zivilisierten“ Ländern hat unvorstellbare Ausmaße angenommen und liefert den Tätern mehr Anonymität, als sie sich durch Gesichtsmasken erzeugen könnten. Das Weggucken der Menschen. Man könnte ja der nächste sein, dessen Gesicht auf dem Asphalt zertreten wird.

Andreas Eschbach findet in seinem Roman zu diesem Thema noch andere Gründe – und für ihn ist der wichtigste die Bestrafung der Opfer durch Justiz und Medien. Wenn man sich oder andere verteidigt, steht man schnell wegen Körperverletzung vor Gericht, während die Täter mit strafmildernden Umständen wie soziales Umfeld, Schule, Zukunftsangst und dergleichen oft mit Bewährungsstrafen davon kommen.

Der Roman erzählt um dieses Thema herum die Geschichte eines Journalisten, der endlich den Opfern eine Stimme geben will und von der medialen und gesellschaftlichen Betrachtung und Erforschung der Gründe der Täter genug hat. Seine Artikel werden jedoch regelmäßig zur Überarbeitung in massentaugliche Allgemeinplätze an ihn zurück gegeben, so dass er ein resignierter und frustrierter Mann ist, bis eines Nachts eine neue Figur auftaucht: Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht von dem Rächer der Unschuldigen, dem die Medien auf Grund seiner strahlenden Erscheinung schnell den Titel „Racheengel“ verpassen. Er tritt immer und mit minutiöser Genauigkeit dort auf, wo sich Menschen brutal an ihren Artgenossen vergehen. Und er tötet sie.

Die Staatsgewalt sieht ihr Monopol in Gefahr, der Staatsanwalt nimmt die Fahndung nach dem Selbstjustiziar in seine Hände. Und die Massen jubeln. Werden nun die Straßen wieder sicherer?

Andreas Eschbach ist bekannt für die weltbewegenden Stoffe, aus denen seine jüngeren Romane gewebt sind. Er greift sich oft gesellschaftliche Missstände her und verflicht sie in einen Roman, der die einzelnen Facetten der Idee verschiedentlich beleuchtet. Auch bei „Todesengel“ greift er nach einem – vielleicht DEM erschütternden – Missstand, nämlich die Unfähigkeit der Staatsmacht, die Menschen vor Übergriffen zu schützen. Es sei hier gleich deutlich gesagt, dass er mit dem Roman NICHT für Selbstjustiz wirbt. Vielmehr wird klar vermittelt, dass dies keinesfalls eine Lösung ist.

Nein, Eschbach zeigt durch verschiedene Charaktere und ihre eigenen Erlebnisse die Situation auf: Zunehmende Jugendbrutalität und Gewalttätigkeit, Rückgang von Ehre, Würde und Hemmungen in Kämpfen, hilflose Polizei und durch gegenseitige Abhängigkeiten beziehungsweise der fehlenden Unabhängigkeit in der Rechtsprechung, was 1. zu milden Urteilen über Täter und 2. zu Fehlverurteilungen von Selbstverteidigern oder Zivilcouragierten führt. Der „Todesengel“ ist nur das Superheldenmotto des Romans, der die Geschichte hochkocht und ins Interesse der Öffentlichkeit rückt, so dass der Journalist Ingo Praise eine Möglichkeit für die eigentlich logische Darstellung seiner Sicht der Opfer und Täter bietet. Und wie Eschbach diesen Journalisten so treffend sagen lässt, verbirgt sich hinter allem der Missstand unserer Gesellschaft, dass wir die Täter verstehen wollen, um ihre Taten nachvollziehen zu können – statt den Opfern zu helfen:

Zitat aus Kapitel 18, ein Ausschnitt aus der Talk Show:

»Ich weiß bis heute nicht, wieso der uns überhaupt attackiert hat«, warf Irmgard Fuhrsang ein, die den Schlag mit der Bierflasche abbekommen hatte und die in diesem Moment immer noch verstört deswegen wirkte. »Ich meine, der war höchstens zwanzig, zweiundzwanzig, für den sind wir doch … ich meine, vielleicht hatte der ein Problem mit seiner Mutter oder –«
»Stop«, unterbrach Ingo und hob die Hand. »Frau Fuhrsang – merken Sie, wie Sie gerade wieder in genau das Fahrwasser geraten, in dem sich die gesamte öffentliche Diskussion ständig bewegt? Was den Täter dazu gebracht hat, so zu handeln, wie er gehandelt hat – wieso fragen wir uns das? Wieso kümmert uns das überhaupt? Sie haben ihm nichts getan. Er hat Sie trotzdem angegriffen. Hat Sie verletzt. Das hätte er nicht tun dürfen, und zwar
egal aus welchem Grund

Das spiegelt wörtlich die Intention des Romans wider.

Was Eschbach nicht bieten kann, ist eine Lösung für das Thema. Seinen Protagonisten lässt er in ein Entwicklungsland auswandern, wo er in einer Organisation arbeitet, die die Straßenkinder von der Straße holen, sie aus der Spirale aus Abhängigkeiten, Gewalt und Armut befreien will, ihnen eine Ausbildung und eine Chance bieten will.

Für unsere Gesellschaft ist das allerdings kein Weg. Hier scheinen es keine Abhängigkeiten zu sein, die die Jugendlichen zur Gewalt treiben. Doch was es auch ist (und hiermit beschäftigen sich genug Menschen), der Staat muss eine Situation schaffen, in der es unerquicklich für den Täter ist, und nicht für das Opfer.

Das Thema ist eines der unerfreulichsten unserer Zeit, umso schwerer hat es ein Roman, über dieses Thema in positive Wahrnehmung zu rücken. Der Titel täuscht auch etwas über den Inhalt hinweg, er vermittelt die Erwartung an einen modischen Thriller oder so was. Damit hat der Roman wenig gemeinsam, zu dominant ist die Behandlung des Anliegens. Einige Details versuchen dem Text mehr Farbe zu geben, wie eine angerissene Beziehungsgeschichte, die leider nur Beiwerk ist und dem Roman nicht hilft. Anderes, wie die Geschichte der vier Kinder, die Zeuge des Tottretens eines zivilcouragierten Erwachsenen werden, fügen der Situation eine grausige Facette hinzu und erwecken eindringliche Bilder im Kopfkino. Die Handlung selbst leidet nicht unter besonderem Tiefgang, das Thema liegt allerdings schwer im Magen und lässt den Leser gleichfalls hilflos zurück. Es ist kein Roman, bei dem man begeistert nach „MEHR!“ ruft, aber es ist einer, der Emotionen weckt und ein wichtiges Schlaglicht unserer Gesellschaft abbildet.

544 Seiten, gebunden, leider ohne Lesebändchen
Originalausgabe
ISBN-13: 978-3785724811

www.luebbe.de

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