Lindqvist, John Ajvide – So finster die Nacht

_Das geschieht:_

Blackeberg, ein geschichts- und gesichtsloser Vorort von Stockholm im Jahre 1981: Der zwölfjährige Oskar verbringt hier ein freudloses Leben als Außenseiter. In der Schule wird er gemobbt, die Mutter arbeitet und kehrt erst abends heim, der Vater ist schon lange ausgezogen. Mit Ladendiebstählen und Rachefantasien, die sich gegen seine Peiniger richten, verbringt Oskar seine Tage.

Aktuell gibt es freilich etwas Interessantes für ihn, der eifrig Zeitungsartikel über Serienmorde und andere Untaten sammelt: Ein Schlächter geht in der Vorstadt um. Er hat es auf Kinder abgesehen, denen er auflauert und sie betäubt, um ihnen dann das Blut abzuzapfen. Oskar ist fasziniert; nur zu gern sähe er seine Feinde dem Mörder zum Opfer fallen. Deshalb hält er die Augen offen und versucht sich als Ermittler.

In diesen aufregenden Tagen lernt Oskar eine neue Nachbarin kennen. Eli behauptet, im selben Alter wie er zu sein, doch obwohl sie körperlich in der Tat jung wirkt, hat Oskar Zweifel. In der Wohnung, wo sie mit ihrem ‚Vater‘ lebt, sind alle Fenster stets verhüllt. Nur in den Abendstunden verlässt Eli das Haus. In Oskar, der auch für Horrorgeschichten schwärmt, steigt ein bestimmter Verdacht auf …

_Untot im hohen Norden_

Vampire in Schweden: Das hatten wir zumindest hierzulande noch nicht. Wir verdanken sie wohl vor allem der Popularität, die der skandinavische Kriminalroman aktuell genießt. Kaum verwunderlich, dass deutsche Verlage versuchen, diese auf weitere Genres zu übertragen. Dem Leser kann’s recht sein, denn auch das Grauen fremder Länder kann erschreckend faszinierend sein.

Dem skandinavischen Krimi sagt man spätestens seit Sjöwall/Wahlöö einen ausgeprägten Hang zur politischen und gesellschaftlichen Sozialkritik nach, die (mehr oder weniger gelungen) in die Handlung integriert wird und diese auf ein Niveau hebt, das auch das eher krimifeindliche Feuilleton aufmerken lässt. „So finster die Nacht“ stößt ebenfalls in dieses Horn. Erfreulicherweise wird dies nicht zur Pflichtaufgabe, der sich der Autor eher aufdringlich entledigt, sondern ist Teil eines Geschehens, das ohne diesen Faktor nicht denkbar ist.

Vampire in der Gegenwart: Macht man sich Gedanken über die Realität ihrer Existenz, taucht unweigerlich die Frage auf, wie sich diese Wesen in einer Hightech-Welt behaupten könnten. Zwar spielt „So finster die Nacht“ im Jahre 1981, doch war auch dies eine denkbar ungünstige, weil kriminalpolizeilich durchsetzte Gegenwart für Kreaturen, die regelmäßig töten müssen, wenn sie überleben wollen.

_Die Vorteile der Unpersönlichkeit_

John Lindqvist findet eine simple und gleichzeitig überzeugende Lösung für das Problem, einen ‚modernen‘ Vampir wirken und wüten zu lassen: Er versetzt ihn in eine Trabantenstadt, die hauptsächlich von den abgestumpften Verlierern der modernen Leistungsgesellschaft bewohnt wird. Blackeberg ist quasi ein Synonym für anonymes Leben in einem gesellschaftlichen Vakuum. Es gibt in dieser Vorstadt keine Kommunikation zwischen den Bürgern, die in ihren Wohnsilos vegetieren.

Oskar ist das perfekte Produkt seiner Umgebung – ein Scheidungskind, das von einer überarbeiteten und meist abwesenden Mutter ‚erzogen‘ und in der Schule von ebenso perspektivenlosen jugendlichen Gewalttätern gepiesackt wird. Sowohl das Quälen als auch das Leiden sind in der Ödnis von Blackeberg absolut sinnlos und wirken dadurch umso bedrückender. Dieser isolierte und trübe Kosmos benötigt keine Vampire; seine Bewohner verstehen es selbst, sich das Leben zur Hölle zu machen.

Den Erwachsenen geht es in dieser den Geist tötenden Umgebung nicht besser. Parallel zu Oskars Geschichte erzählt Lindqvist von der traurigen Realität einer Gruppe schon mittelalter Freunde, die im Grunde Oskar in späteren Jahren widerspiegeln: Ausgebrannt, resigniert, im Leben bereits tot, repräsentieren sie die ideale Beute nicht nur für Vampire.

_Der Vampir – nordisch nüchtern_

Eli ist nicht nur ein Vampir, der sich nicht unbedingt an die Regeln hält, die Bram Stoker 1897 in [„Dracula“ 3489 zusammenfasste, sondern auch quasi geschlechtslos. Das kann der Leser nur begrüßen, denn längst zerrt die Allgegenwart glutvoll-brünstiger Vampir-Hengste an den Nerven. Primär für pubertierende Jungmädchen entstehen gegenwärtig geistlos genormte Blutsauger-Schmonzetten in schwindelerregender Zahl. Ein Vampir-Roman ‚für Erwachsene‘, wie ihn Lindqvist vorlegt, gehört fast schon zur Ausnahme.

Eli ist ganz sicher keine charismatische Gestalt, sondern ein Überlebenskünstler. Er ist nicht freiwillig zum Untoten geworden, hat sich aber im Laufe von Jahrhunderten mit seiner Existenz arrangiert. Sehr geschickt charakterisiert Lindqvist ein Wesen, das seine Menschlichkeit nicht vergessen hat und dessen Einsamkeit anrührt. Gleichzeitig ist Eli mörderisch und manipulativ.

Was Eli durchmachen musste, demonstriert Lindqvist am Beispiel der Figur Virginia. Sie wird ebenfalls zum Vampir; eine Frau, die im gesellschaftlichen Abseits steht und intellektuell verkümmert ist, was es ihr unmöglich macht, sich Hilfe von ‚außen‘ zu suchen. Wie einst Eli versucht Virginia sich über ihr neues ‚Leben‘ mit seinen gründlich veränderten Regeln klar zu werden. Lindqvist bietet dies die Möglichkeit, den Vampirismus ‚wissenschaftlich‘ zu beleuchten. Er hinterfragt das alte Wissen über die Blutsauger, findet Erklärungen für ihr körperliches Funktionieren, ihre Furcht vor der Sonne, vor Silber, vor dem Kreuz, ohne dadurch den Mythos unnötig zu zerstören: Vampire sind auch nur Menschen, so lautet die nüchterne Zusammenfassung. Es gibt sie und die erste große Herausforderung ihres ‚Lebens‘ ist es, sich den Bedürfnissen ihres mutierten Körpers zu stellen. Eli ist es mit allen Konsequenzen gelungen, Virginia scheitert.

Die grässliche Alternative verkörpert Håkan Bengtsson. Er ist die Figur, die „So finster die Nacht“ zu einem echten Horroroman werden lässt. Seine Wiederauferstehung erinnert an das Erscheinen eines Zombies, seine Untaten verstärken diesen Eindruck. Wenn Bengtsson auf der Szene erscheint, wird es blutig und hässlich. In der ansonsten meist gemächlichen Handlung wirkt er grell. Andererseits dürfte seine Existenz den Hardcore-Gruselfan zufriedenstellen, der Eli trotz gelegentlicher Brutal-Exzesse zu zahm findet.

_Eine spannende Geschichte?_

„Dieser Thriller ist eine Offenbarung der schwedischen Literatur“, dröhnt die Werbung und fordert die nachdrückliche Überprüfung dieser Behauptung förmlich heraus. Es dürfte kaum überraschen, dass die Fakten ein anderes Bild ergeben. „So finster die Nacht“ ist ein spannender Thriller mit vielen eindrucksvollen Szenen, die sich indes zu keinem überragenden Gesamtbild fügen wollen. Die Geschichte weist Längen auf, schwankt unentschlossen zwischen ‚richtigem‘ Horror und einer düsteren „Coming-of-Age“-Story mit phantastischen Elementen. Übrigens ist es nie Lindqvist, der literarische Ansprüche erhebt; er spinnt sein Garn, in das er wohl auch autobiografische Elemente einfließen lässt, wurde der Autor doch 1968 in Blackeberg geboren und war folglich 1981 so alt wie seine Figur – sein Alter Ego? – Oskar.

Warum die Geschichte unbedingt 1981 spielen muss, bleibt Lundqvists Geheimnis. Er schließt seinem Roman zwar ein Nachwort an, spart diese Frage aber aus. Die deutsche Übersetzung ist ein weiteres Rätsel. Zwar gut gelungen, wird sie von einem merkwürdigen Titel gekrönt. „So finster die Nacht“ hat rein gar nichts mit dem Original zu tun, das sehr viel anschaulicher „Lass den Richtigen ein“ lautet, denn genau gegen dieses Gebot verstoßen die (menschlichen) Figuren immer wieder und geben dem Grauen dadurch die Möglichkeit, sich zu verbreiten. Offensichtlich soll die bibelähnliche Eindeutschung die Assoziation an die geschwätzigen, pseudo-wichtigen Krimi-Bestseller wecken, die sich auf den „Nimm’s mit!“-Tischen deutscher Kettenbuchläden türmen. Wer darauf hereinfällt, wird sein blutrotes Wunder erleben! „So finster die Nacht“ ist – wenn man unbedingt eine Schublade sucht – die solide, aber sicherlich nie geniale skandinavische Variation einer Geschichte, wie sie z. B. Stephen King in [„Brennen muss Salem“ 3831 („Salem’s Lot“) 1975 ersann. In diesem Umfeld vermag sich Lindqvist wacker zu schlagen. Mehr ist da nicht – doch muss da unbedingt mehr sein?

_Der Autor_

John Ajvide Lindqvist wurde 1968 in Blackeberg, einem Vorort der schwedischen Hauptstadt Stockholm, geboren. Nachdem er schon in jungen Jahren als Straßenmagier für Touristen auftrat, arbeitete er zwölf Jahre als professioneller Zauberer und Comedian.

Sein Debütroman „Låt den rätte komma“ (dt. „So finster die Nacht“), eine moderne Vampirgeschichte, erschien 2004. Bereits 2005 folgte „Hanteringen av odöda“ (dt. „So ruhet in Frieden“), ein Roman um Zombies, die Stockholm terrorisieren. „Pappersväggar“ ist eine Sammlung einschlägiger Gruselgeschichten. Lindqvist schreibt auch Drehbücher für das schwedische Fernsehen. Das prädestinierte ihn, das Script für die Verfilmung seines Romanerstlings zu verfassen, die 2008 unter der Regie von Tomas Alfredson entstand.

Als Buchautor ist Lindqvist in kurzer Zeit über die Grenzen Schwedens hinaus bekannt geworden. Übersetzungen seiner Werke erscheinen in England, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Polen und Russland.

_Impressum_

Originaltitel: Låt den rätte komma in (Stockholm: Ordfront förlag 2004)
Übersetzung: Paul Berf
Deutsche Erstausgabe: Oktober 2007 (Bastei-Lübbe-Verlag/TB Nr. 15755)
639 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-404-15755-6
http://www.basteiluebbe.de

Als Hörbuch: Oktober 2007 (Lübbe Audio)
5 CDs, gelesen von Sascha Rotermund
344 min
EUR 19,95
ISBN 978-3-7857-3277-9

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