Meyer, Kai – Schattenesser, Der

Kai Meyer ist in den letzten Jahren als ein sehr eigenwilliger Autor bekannt geworden, der in seinen historischen Romanen immer wieder Phantastisches und Übersinnliches einfügt und so auch mehrere Genres miteinander verbindet. Diesen Ansatz verfolgte der Autor bereits in „Der Schattenesser“, jedoch hat er seinerzeit leider versäumt, das Ganze auch in eine spannende Rahmenhandlung zu integrieren. Meyer bleibt nämlich in „Der Schattenesser“ ziemlich blass und verschiebt die Schwerpunkte zugunsten einer sehr blutigen Erzählung, in welcher der eigentliche Plot viel zu kurz kommt. Auch wenn es sich lediglich um die Neuauflage eines bereits 1996 veröffentlichten Romans handelt, rückt diese Veröffentlichung den Autor aus heutiger Sicht in kein gutes Licht.

_Story_

Die Judenstadt Prag befindet sich mitten im Dreißigjährigen Krieg. Das Heer der Katholischen Liga hat die Stadt besetzt und es herrscht Ausnahmezustand. Plünderer machen die Straßen unsicher, skrupellose Söldner machen sich über das unschuldige Volk her und vor den Stadtmauern wartet der schwarze Tod, die Pest, nur darauf, das Elend innerhalb der Stadmauern mit einem Schlag endgültig zu beseitigen.

Mitten in dieser bedrohlichen Situation befindet sich die junge Sarai, selbst Jüdin, die sich als Junge verkleidet von einer Ecke der Stadt in die andere begibt, um Aufträge für den Alchimisten Cassius zu erledigen. Der alte Magier hat gleichzeitig eine Art Vaterrolle für das Mädchen übernommen, seit ihr richtiger Vater in Selbstmitleid versunken ist und dem Tod seiner Frau hinterhertrauert.

Bei der Ausübung eines weiteren Auftrags im Dienste Cassius‘ begibt sich Sarai in große Gefahr. Zwei Söldner verfolgen sie durch die Hinterhöfe, und erst im letzten Moment kann sie ihnen entkommen. Bei dieser Jagd trifft sie auf eine Gruppe Frauen, die Sarai wegen ihrer seltsamen Verkleidung als Hühnerdamen identifiziert. Fasziniert von dem großen Ei, das sie behüten, nutzt Sarai die Gelegenheit, diesen Schatz zu stehlen und zu Cassius zu bringen. Und damit beginnt eine Geschichte, deren Folgen Sarai lebenslanges Leid zufügen, das sie nie mehr wird besiegen können. Das Mädchen findet seinen Vater auf und sieht sich gezwungen, ihn selbst umzubringen, um seine Schmerzen zu lindern. Dabei fällt ihr auf, dass er keinen Schatten mehr bei sich trägt.

Cassius deutet daraufhin verschiedene Vermutungen an, die dem Verschwinden dieses Schattens zugrunde liegen könnten, doch obwohl er eigentlich mehr weiß, als er behauptet, will er Sarai nicht in das düstere Geheimnis einweihen. Daher macht sich das Mädchen selber auf den Weg, mehr über diese außergewöhnliche Begebenheit zu erfahren und stößt schließlich auf den |mal’ak| Jahve, einen Engel, den der Herr entsandt hat, und der nun auch zur größten Bedrohung für Sarai wird. Der göttliche Schattenesser verfolgt die Jüdin durch ganz Prag und wird zu ihrem Schicksal, dessen einziger Ausweg der Tod zu sein scheint.

Währenddessen hat sich vor den Toren der Stadt eine neue Macht ihren Weg gebahnt: Der friedliche Michal und seine Familie werden auf der Reise nach Prag von ein paar Söldnern überfallen. Während er schwer verletzt überlebt, kommen seine Frau und das gerade erst geborene Kind bei dem Attentat ums Leben. Michal schwört Rache und stößt bei seinem Feldzug auf eine alte Hexe, die dem ehemaligen Familienmenschen die Vorzüge des Kannibalismus näherbringt …

_Meine Meinung_

Es ist schon eine recht seltsame Geschichte, die Kai Meyer hier erschaffen hat. Dabei beginnt zunächst noch alles sehr strukturiert und auch nicht wirklich außergewöhnlich. Die Verfolgungsjagd zu Beginn des Buches lässt auf eine Menge Spannung hoffen, und die Begegnung mit den Hühnerdamen sowie das Auffinden ihres schattenlosen Vaters steigern die Vorfreude auf einen tollen historischen Roman mit vielen phantastischen Inhalten.

Doch leider verliert sich Meyer in diesem Fall recht schnell in einer allzu wirren Story, bei der die einzelnen Szenenwechsel nicht immer besonders günstig gewählt sind. Der Autor wechselt von Kapitel zu Kapitel den Schauplatz und erzählt parallelel die Geschichten von Sarai und Michal, die erst am Ende des Buches zusammengefügt werden, als die beiden aufeinander treffen. Bis dahin sind die Zusammenhänge zwischen den beiden Hauptfiguren des Buches aber völlig unklar, weil Meyer nicht eine einzige Andeutung diesbezüglich macht. Man weiß zwar, dass beide auf irgendeine Weise mit den Hühnerfrauen in Verbindung stehen, doch das war’s dann schon. Natürlich muss dies kein schlechtes Vorzeichen sein, doch die Art und Weise, wie der Autor schließlich die beiden Stränge zu einer Einheit verschmelzen lassen will, wirkt dann doch sehr uninspiriert und wirft am Ende auch noch mehr Fragen auf als zuvor ohnehin schon im Raume standen. In dieser Beziehung ist „Der Schattenesser“ schon einmal eine echte Enttäuschung.

Davon einmal abgesehen, gelingt es Kai Meyer auch nicht annähernd, die vielfältigen Elemente und die teils auch schon bekannten Fantasy-Figuren – unter anderem den Golem – sinnvoll in die Handlung einzubeziehen, so dass es irgendwann vor Spannung zu kribbeln begänne. Das Bisschen an Spannung, das den Leser auf den ersten Seiten schlichtweg überfällt, verschwindet plötzlich im Nichts, und die Erzählung entwickelt sich infolgedessen auch immer mehr zu einer Aufzählung von Fakten und Selbstverständlichkeiten. Überdies schafft Meyer es auch nicht, die einzelnen abstrakten Figuren ihrer Bedeutung entsprechend vorzustellen. Der |mal’ak| Jahve ist hier das beste Beispiel. Seine Herkunft wird zwar noch grob umrissen, doch die Schilderungen bezüglich seiner Bestimmung bzw. seines eigentlichen Charakters sind dann doch sehr unbefriedigend. Gleiches gilt für die Hühnerdamen; man erfährt zwar über das Buch verteilt, wer eigentlich dahinter steckt und was sie (im wahrsten Sinne des Wortes) ausgebrütet haben, doch auch hier gibt sich der Autor damit zufrieden, dem Leser Kapitel für Kapitel die Tatsachen vor den Latz zu knallen, ohne dass dieser sich irgendetwas erarbeiten müsste.

Bisweilen bekommt man den Eindruck, als wäre „Der Schattenesser“ lediglich ein Ventil für einige recht abstrakte, zwischenzeitlich auch abstoßende Phantasien, die in diesem Buche besonders mit der Wandlung des einst so friedlichen Michal in den Vordergrund treten. Die Pest als weiteres Mittel, das ganze Massen dahinrafft, kommt da noch hinzu, verliert aber im Vergleich zu den anderen Gewaltdarstellungen ein wenig an erschreckendem Ausdruck.

Meyer hatte es in der Hand, einen wirklich fesselnden Roman zu schreiben. Alle Mittel standen ihm zur Verfügung: ein gottgesandter Schattenesser, eine vom Krieg gezeichnete Stadt, ein Heer von skrupellosen Eigenbrödlern, der Golem des Rabbi Löw, zwei Hauptfiguren mit sehr starkem Charakter und letztendlich auch noch übersinnliche Schauplätze wie das Schatzhaus der Seelen. Und dennoch hat er in diesem Fall ziemlich daneben gegriffen. In den 400 Seiten dieses Buches passiert so viel, und im Grunde genommen passiert doch gar nichts. Nach einem rasanten Beginn wird die Erzählung radikal ausgebremst und liefert trotz der arg bedrohlichen Atmosphäre keinen weiteren Einstieg mehr, der die Spannung wieder aufnehmen könnte. Die hoch gesteckten Erwartungen wurden mit „Der Schattenesser“ ziemlich enttäuscht, und über das Prädikat „Mittelmaß“ kommt Kai Meyer mit diesem neu aufgelegten Frühwerk daher auch nicht hinaus.

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