Victor Gunn – Im Nebel verschwunden

Ein junger Anwaltsgehilfe meldet mehrfach Morde, die sich als nie geschehen entpuppen; alle halten ihn für geisteskrank. Ausgerechnet der chronisch skeptische Chefinspektor Cromwell schenkt ihm Glauben, ignoriert den Widerstand seiner Kollegen und stößt auf eine raffiniert eingefädelte Übeltat … – Wenn es gelingt, den absoluten Nonsens des Plots zu akzeptieren, liest man einen niemals klassischen, tüchtig angestaubten aber handwerklich kompetent umgesetzten Krimi, dessen eigentlicher Unterhaltungswert seine gemütliche Realitätsferne darstellt.

Das geschieht:

Peter Fell, verhinderter Schriftsteller und angehender Journalist, verdient sich sein tägliches Brot als Gehilfe in einer kleinen Anwaltskanzlei. Die eintönige Arbeit ödet den jungen Mann an, und Bürovorsteher Maddox piesackt ihn ohne Unterlass. Als er sich in eine Klientin, die hübsche Eva Mackenzie, verliebt, bringt er auch noch den strengen Mr. Allington, seinen Chef, gegen sich auf.

Als Fell eines nebligen Abends einen wichtigen Kunden treffen soll, gerät er auf dem Weg dorthin in eine gespenstische Szene: Aus einem leer stehenden Haus hört er die Hilfeschreie einer Frau, die er, ihr umgehend zur Hilfe eilend, tot in ihrem Blut findet. Als kurz darauf die Polizei eintrifft und den Tatort untersucht, findet sie – nichts.

Fell wird auf dem Revier tüchtig der Kopf gewaschen. Auf dem Heimweg taumelt ihm eine blutverschmierte Blondine in die Arme. Fell holt Hilfe und die Polizei, aber erneut gibt es weder eine Leiche noch Spuren, die auf ein Verbrechen hindeuten. Zweifel an Fells Geisteszustand werden laut. Als sich weitere Vorfälle der geschilderten Art ereignen, wird Fell in eine Nervenheilanstalt gebracht.

Kurz zuvor hatte er einen ehemaligen Kommilitonen und Freund um Hilfe gebeten. Johnny Lister arbeitet inzwischen für Scotland Yard. Er zweifelt indes ebenfalls an dessen Verstand. Ausgerechnet Listers Vorgesetzter, der eigenwillige und notorisch misstrauische Chefinspektor Bill Cromwell, den nicht nur die Unterwelt ehrfürchtig „Old Iron“ nennt, schenkt dem unglücklichen Fell Glauben. Gegen alle Widerstände stellt Cromwell Nachforschungen an, die ihn nach anfänglichen Rückschlägen auf ein kriminelles Komplott stoßen lassen, das in seiner genialen Perfidie fast perfekt und selbst für den erfahrenen Inspektor nur mit Hilfe einiger Tricks aufzuklären ist, die definitiv nicht zum Repertoire von Scotland Yard gehören …

Warum einfach, wenn es auch überkompliziert geht …?

Edwy Searles Brooks, der menschliche Schreibautomat, kann auch in seiner Inkarnation als Victor Gunn nicht als Schriftsteller filigran geplotteter Krimis bezeichnet werden. Nie gelang ihm ein Roman, der die Qualitäten eines Klassikers aufweist, was schade ist, da selbst ein Werk wie „Im Nebel verschwunden“, dessen Story – vorsichtig ausgedrückt – hanebüchen ist, seine positiven Seiten hat.

Dass unsere Geschichte im Jahr 1952 spielt, lässt nur die Erwähnung des II. Weltkriegs sowie die Verwendung von Automobilen deutlich werden. Sonst könnte sie auch in einem London spielen, dessen Straßen von Gaslaternen beleuchtet und von Pferdedroschken befahren wären. Jegliche Gegenwart wird sorgfältig ausgeklammert, was von Gunn durchaus gewollt ist; dass die Kanzlei, in der Peter Fall tätig ist, dem Arbeitsethos der viktorianischen Epoche verpflichtet ist, wird mehrfach hervorgehoben.

Dazu passt das absurde Garn einer Verschwörung, die viel besser in die Zeit von Sherlock Holmes passen würde. Ihm sieht man die konstruierten Fälle, mit dem ihn Arthur Conan Doyle konfrontierte, aufgrund ihrer Unterhaltsamkeit nach. Das fällt ungleich schwerer, wird ähnlicher Unfug allzu hoch ins 20. Jahrhundert platziert.

Eine Liste der Faktoren, die den ‚genialen‘, von Gunns Strolche ausgeheckten Plan zum Scheitern brächten, würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Erstaunlicherweise tut das dem Lesevergnügen keinen Abbruch, wenn man die absolute Künstlichkeit der erzählten Geschichte erkennt und akzeptiert. „Im Nebel verschwunden“ spielt in einer irrealen Parallelwelt, die ihren eigenen Reiz besitzt. Eine mehr als 50 Jahre alte und definitiv vom Zahn der Zeit heftig angenagte Übersetzung trägt unfreiwillig zum Charme des Unbeholfenen bei; man kann nur grinsen, wenn u. a. Peter Fell den fiesen Maddox als „Sie Essigbehälter“ tituliert. Was mag da im Original gestanden haben …?

Krimi ohne Angst vor Klischees

Die böse Welt ist in Victor Gunns Welt klein, sehr heimelig und überschaubar. Gerät sie aus den Fugen, betritt Inspektor Cromwell die Szene. Er findet und fängt den Schurken, der gegen das Gesetz sowie gegen Sitte & Anstand verstößt, und stellt die gewohnte Ordnung wieder her. Darauf kann man sich verlassen, was eine allzu stresstreibende Lektüre verhindert. So soll es sein, denn so wurde es von Gunns Lesers goutiert.

Realität ist dabei Nebensache, Originalität gänzlich überflüssig. „Im Nebel verschwunden“ ist eine Kompilation bewährter Krimi-Klischees: Mit theatralischen Possen lässt sich ein junger Mann verwirren; die Polizei tappt nicht nur im Dunkeln, sondern ist mit kollektiver Dämlichkeit geschlagen. Lediglich Scotland Yard verfügt über Ermittler, die diesen Titel verdienen. Über allem lagert dick der berühmte Londoner Nebel und sorgt für eine bitter notwendige (Grusel-) Atmosphäre.

Aus diesen Elementen bastelt Gunn eine dreiste aber wie gesagt unterhaltsame Geschichte. Leider streckt er sie durch allzu ausführliche Passagen, die mit der eigentlichen Handlung nichts zu tun haben. Während man sich auf die altmodische Machart einlassen kann, wenn es gilt, den wunderlichen aber routinierten Cromwell bei seiner kriminologischen Arbeit zu beobachten, langweilt eine ausgewalzte love story, deren altbackene Zimperlichkeit deutlich macht, wie sehr Gunn moralisch der Ära verhaftet blieb, in die er geboren wurde. Junge Frauen sind „Mädchen“, die jederzeit männlicher Führung bedürfen. Gehen sie eigene Wege, handelt es sich um „Schauspielerinnen“ wie Melody Claire, was der zeitgenössische Leser kundig mit „Schlampe“ übersetzte. Kommen sie in die Jahre, verwandeln sich Frauen in besorgte Mütter oder aufdringliche Tanten; mit einem besonders lästigen Exemplar ist Peter Fell geschlagen.

Cromwell rettet den Tag

„Old Iron“ zeigt sich dieses Mal von seiner besonders widerborstigen Seite. Sein Beharren auf Peter Fells Unschuld kann eigentlich nur durch übersinnliches Talent erklärt werden. Eine logische Erklärung dafür, dass er hinter dem Mord-Theater ein Verbrechen wittert, gibt es jedenfalls nicht – ein weiteres Handlungselement, das nur in Gunns Welt funktioniert.

Doch bevor Cromwells Manierismus endgültig den (Pyrrhus-) Sieg davontragen, zeigt der knurrige Inspektor, dass er seinen Ruf nicht umsonst trägt. Vor allem im letzten Drittel verwandelt sich „Im Nebel verschwunden“ in einen echten Krimi der Gattung „Whodunit“. Die Karten sind gemischt, d. h. die Figuren der Handlung wurden uns vorgestellt, und wir dürfen uns – da ist Gunn Purist – darauf verlassen, dass wir den Finsterling schon kennen, bevor ihm in einer (wiederum arg theatralischen) Finalszene die Maske vom Gesicht gerissen wird.

Da „Old Iron“ die einzige Figur mit echten Ecken und Kanten ist, verfolgt man seine Aktivitäten mit einer gewissen Spannung, auch wenn er sich allzu intensiv in Schweigen hüllt. Deshalb ist es schade, dass Gunn dieses Mal den Langweiler Peter Fell in den Vordergrund schiebt. Zeitweise wirken Cromwells Auftritte fast obligatorisch. Trotzdem rettet er diesen Roman, der nicht zu den Höhepunkten der Serie um Cromwell & Lister gehört, sondern allzu sehr auf Routinen setzt.

Autor

Der Engländer Victor Gunn (1889-1965), dessen richtiger Name Edwy Searles Brooks lautete, war als Unterhaltungs-Schriftsteller ein Vollprofi. Er verfasste für Zeitschriften und Magazine über 800 (!) Romane und unzählige Kurzgeschichten – genaue Zahlen werden sich vermutlich nie ermitteln lassen – unterschiedlichster Genres, wobei er sich diverser Pseudonyme bediente. Der nome de plume „Victor Gunn“ blieb jenen 43 Romanen und Storysammlungen vorbehalten, die Brooks zwischen 1939 und 1965 um den knurrig-genialen Inspektor William Cromwell und seinen lebenslustigen Assistenten Johnny Lister verfasste.

In Deutschland ist Gunn vom Buchmarkt verschwunden. Dabei ließ sich sein Erfolg einmal durchaus mit dem seines Schriftsteller-Kollegen Edgar Wallace messen. Eine stolze Auflage von 1,6 Millionen meldete der Goldmann-Verlag, der Brooks als Victor Gunn hierzulande exklusiv verlegte, schon 1964 – eine Zahl, die sich in den folgenden Jahren noch beträchtlich erhöht haben dürfte, bis ab 1990 die Flut der ständigen Neuauflagen verebbte.

Taschenbuch: 188 Seiten
Originaltitel: The Body Vanishes (London : Collins 1952)
Übersetzung: Irene von Berg
www.randomhouse.de/goldmann

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