Ein Mord im Varieté ist Auftakt für eine ganze Serie von Gewaltverbrechen, die Chefinspektor „Old Iron“ Cromwell und sein Assistent Lister im steten Wettlauf mit dem Tod lösen müssen … – Tüchtig angestaubter aber trotz des recht absurden Plots professionell entwickelter und unterhaltsamer Krimi des englischen Vielschreibers Gunn, der dem Qualität großzügig definierenden Liebhaber des klassischen „Whodunits“ gefallen kann.
Das geschieht:
Nach langweiligen Wochen kriminologischer Routinearbeit ist Scotland Yards bester Ermittler Chefinspektor Bill Cromwell, genannt „Old Iron“, so unverträglich geworden, dass ihn Sergeant Johnny Lister, sein Assistent und bester Freund, zu einem Besuch der aktuellen Vorstellung im Varieté „Olymp“ überredet. Der entspannende Abend wird allerdings zum aktuellen Fall, als die beiden Polizeibeamten mit ansehen müssen, wie der achte Dolch des Messerwerfers Rex Dillon den Hals von Nina, seiner schönen Zielperson, durchtrennt, was diese nicht überlebt.
Rex, nicht nur Ninas Chef, sondern auch ihr Gatte, wird umgehend festgenommen. Es sieht übel für ihn aus, denn seine Kollegen bezeugen heftige Streitigkeiten zwischen den Eheleuten. Die flatterhafte Nina ging fremd, was Rex sich nicht gefallen lassen wollte. Hat er die Gelegenheit genutzt, sich seines untreuen Weibes zu entledigen?
Cromwell kann den Gatten von diesem Verdacht freisprechen: Er hat bemerkt, dass jemand zeitgleich mit Rex aber aus dem Dunkel des Bühnenhintergrunds das tödliche Messer nach Nina warf. Leider konnte der Mörder im ausbrechenden Trubel flüchten. Verdächtig wirkt vor allem George Pavlos, der unter dem Künstlernamen „Valentine“ eine sensationelle Bauchrednernummer mit einem Schimpansen präsentiert.
Allerdings scheint Valentine zwar unsympathisch aber ohne echtes Motiv zu sein. Der Fall verkompliziert sich, als Ninas eineiige Zwillingsschwester Kit auftaucht. Ist sie Opfer oder (Mit-) Täterin – eine schwierige Frage, die Cromwell und Lister schnellstmöglich beantworten müssen, da das „Olymp“ bald zum Schauplatz diverser brutaler Überfälle und Diebstähle wird. Lange dauert es nicht, bis man die nächste Leiche entdeckt; es ist nicht die letzte, denn der Mörder – oder die Mörderin – versucht um jeden Preis, entlarvende Querverbindungen zwischen einigen Verdächtigen zu kappen …
Theater, Theater …
Eigentlich ist es ja ein Varieté, das zum Schauplatz des 27. Krimis um Chefinspektor Cromwell und (Detective) Sergeant Lister wird. Als Victor Gunn „Das achte Messer“ schrieb, war das Varieté eine dem Untergang geweihte Vergnügungsstätte – eine Mischform aus Zirkus und Theater, bei der die Bühne nicht Ort einer thematisch durchgängigen Vorstellung war, sondern unterschiedliche Darbietungen gezeigt wurden: Tanz- und Gesangsnummern, Akrobatik, Zauberkunststücke etc. Solche Vorführungen zogen sich über Stunden hin, und bevor erst das Kino und dann das Fernsehen dem Varieté den Garaus machten, war es ein enormer Publikumsmagnet.
Für den Kriminalroman bietet es buchstäblich die ideale Bühne: Im Zuschauerraum, auf und hinter der Bühne wimmelt es von Menschen, die fabelhafte Verdächtige abgeben. Die Unübersichtlichkeit der Anlage mit ihren düsteren, mit alten Kulissen und Requisiten zugestellten Magazinen und der Allgegenwart von Masken und tarnender Schminke bietet den Reiz des zusätzlich Unheimlichen.
Künstler gelten darüber hinaus nicht nur im Krimi als Zeitgenossen von lockerer und fragwürdiger Moral. Auch in „Das achte Messer“ fehlen nicht Szenen, in denen „Old Iron“ Cromwell mutmaßliche Mörder inmitten halbnackter Tänzerinnen verhört. Zudem gehört die Täuschung zum künstlerischen Alltag. Der mysteriöse Valentine ist Bauchredner und bringt mit einschlägigen Kunststücken sogar Cromwell aus dem Konzept. Aber auch die Männer und Frauen, die den Varieté-Betrieb technisch und logistisch betreuen, sind verdächtig, da sie die unzähligen Winkeln und Ecken ‚ihres‘ Hauses wie ihre Westentaschen kennen.
Geradliniger Wurf mit kurvenreichen Folgen
Victor Gunn ist als Schriftsteller nicht gerade ein Mann der leichten Feder. Er dürfte zu den schnellsten und fleißigsten Autoren aller Zeiten gehören. Im Kampf zwischen Quantität und Qualität war schon ein Unentschieden häufig der beste Endstand. Auch „Das achte Messer“ ist kein Krimi, der durch besondere Raffinesse besticht. Fast meint man die Passagen herauslesen zu können, in denen Gunn Tempo macht und bewährte Versatzstücke – verwechselte Zwillinge, haarscharf misslingende Mordanschläge, allzu schweigsame weil sittsame Jungfrauen usw. – hervorkramt, mit denen er sein Werk möglichst rasch über die Runden bringen kann.
Über den Plot darf man deshalb nicht allzu intensiv nachdenken. Er war schon 1957 jenseits vernünftiger Vorstellungskraft überkonstruiert und außerdem altmodisch. Was Gunn aber gelingt, ist ein unter dem Strich erstaunlich logisches Schürzen diverser (oft haarsträubender) Handlungsstränge zu einem soliden Finalknoten. Bis es soweit ist, schlägt die Ermittlung manchen unerwarteten Haken. Aus Hauptverdächtigen werden Unschuldige, die plötzlich mit der Hand am Mordmesser ertappt werden, wobei auch dieser Eindruck täuscht. Hat man als Leser erst einmal Vertrauen gefasst, von Gunn nicht etwa mit einer ‚sensationellen‘ Deus-ex-machina-Lösung abgespeist zu werden (Lass‘ es bloß nicht den Affen gewesen sein!), wird man nie genial aber zuverlässig unterhalten.
Das dynamische Duo
In seiner Figurenzeichnung outet sich Gunn nicht nur als Klischeereiter, sondern auch als Kind der viktorianischen Epoche. Sogar in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts waren „junge Damen“ in Wort und Tat nicht mehr so tugendsam, dass es lächerlich wirkt. Ebenso überholt ist Gunns Schilderung der verworfenen Nina, die – so steht es deutlich zwischen den Zeilen – ihre gerechte Strafe erhält.
Im „Olymp“ tummeln sich die üblichen Bekannten – exzentrische Künstler, dummdreiste Hausmeister, als Verstärkung treten beschränkte Bobbys auf –, aber sie wirken beinahe innovativ im Vergleich zum Ermittler-Duo Cromwell & Lister. Ihre Charaktere hatte Gunn schon früh festgelegt und sich dabei nicht übermäßig einfallsreich gezeigt. Vor allem blieb er dabei, nachdem sich der Erfolg eingestellt hatte, der ihm zu seinen Lebzeiten erhalten blieb; für Veränderungen gab es also keinen Anlass.
Folglich gibt „Old Iron“ Cromwell den bekannten Eisenfresser. Sollte sein Wesen realiter mehrschichtig sein, gedenkt uns Gunn in dieser Hinsicht im dunkeln zu lassen. Cromwell ist genial aber mürrisch, wobei schleierhaft bleibt, wieso dies – zumal in dieser Eindimensionalität – die Figur so beliebt werden ließ.
Als Kriminologe ist Cromwell ganz sicher nicht teamfähig. Wie üblich reißt er auch dieses Mal einen Fall an sich, der eigentlich in die Zuständigkeit eines Kollegen fällt. Der wird von Cromwell indes als Trottel verabscheut und behandelt. Falls es überhaupt jemanden gibt, der „Old Iron“ manchmal bändigen kann, so ist dies Johnny Lister. Der ist eine Art Harry Klein, denn nach vielen Jahren der Zusammenarbeit ist und bleibt er Derrick Cromwells Assistent.
Als solcher stellt er die Fragen, die dem Leser durch den Kopf gehen. Cromwells Antworten enthalten – falls ausnahmsweise nicht kryptisch – neue Informationen, die zum Miträtseln anregen, wobei Gunns „Whodunits“ recht unfair wirken: Wer das achte Messer geworfen hat, lässt sich beim besten Willen nicht erraten. Es spricht für Gunn, dass die Auflösung damit versöhnt.
„Old Iron“ und Johnny benehmen sich wie ein altes Ehepaar. Sie wohnen zusammen in einer „Junggesellenwohnung“. Dort erörtern sie ihre Fälle, bis sie müde werden. Dass über den tatsächlichen Grad der Beziehung zwischen Cromwell und Lister spekuliert werden kann, verdanken wir der deutschen Übersetzung: „Der Chefinspektor war jedoch nicht geneigt, noch länger zu diskutieren, und bald lagen beide im Bett.“ (S. 40) Die Sekundärliteratur schweigt sich über dieses Thema aus …
Autor
Der Engländer Victor Gunn (1889-1965), dessen richtiger Name Edwy Searles Brooks lautete, war als Unterhaltungs-Schriftsteller ein Vollprofi. Er verfasste für Zeitschriften und Magazine über 800 (!) Romane und unzählige Kurzgeschichten – genaue Zahlen werden sich vermutlich nie ermitteln lassen – unterschiedlichster Genres, wobei er sich diverser Pseudonyme bediente. Der nome de plume „Victor Gunn“ blieb jenen 43 Romanen und Storysammlungen vorbehalten, die Brooks zwischen 1939 und 1965 um den knurrig-genialen Inspektor William Cromwell und seinen lebenslustigen Assistenten Johnny Lister verfasste.
In Deutschland ist Gunn vom Buchmarkt verschwunden. Dabei ließ sich sein Erfolg einmal durchaus mit dem seines Schriftsteller-Kollegen Edgar Wallace messen. Eine stolze Auflage von 1,6 Millionen meldete der Goldmann-Verlag, der Brooks als Victor Gunn hierzulande exklusiv verlegte, schon 1964 – eine Zahl, die sich in den folgenden Jahren noch beträchtlich erhöht haben dürfte, bis ab 1990 die Flut der ständigen Neuauflagen verebbte.
Taschenbuch: 181 Seiten
Originaltitel: The Golden Monkey (London : Collins 1957)
Übersetzung: Ruth Kempner
http://www.randomhouse.de/goldmann
Der Autor vergibt: