Ein mit allen Wassern gewaschener Finanzhai lässt einen reumütigen Kompagnon umbringen, legt sich mit Inspektor Cromwell von Scotland Yard an und hält sich auf eine einsame Insel versteckt, wo es zur großen Abrechnung kommt … – Der sechste Band der Cromwell-Serie erzählt eine altmodische aber spannende sowie actionreiche Kriminalgeschichte, die in einem phantastisch-absurden Höhepunkt mündet: ein nostalgisches Lektürevergnügen.
Das geschieht:
Bisher hat Lord Frederick Traviston gern seinen guten Namen für jene dunklen Finanzgeschäfte hergegeben, die Sir Hugo Vaizey so trickreich einzufädeln weiß, dass niemand ihm und seinen Kumpanen, zu denen außer Traviston noch Colonel „Fruity“ Petherton-Charters und Bruce Aldrich gehören, jemals auf die Schliche kam. Alle sind sie reich geworden, aber nun plagt Traviston sein Gewissen. Er will aussteigen und sich womöglich der Polizei stellen – ein Vorhaben, das Vaizey keinesfalls dulden will.
Traviston will bei einem Freund seines Sohnes, der ebenfalls Frederick heißt, vorfühlen, was ihm blüht, wenn er auspackt. Sergeant Lister arbeitet nicht nur für Scotland Yard, sondern ist der Assistent des legendären und in Verbrecherkreisen gefürchteten Inspektors Bill Cromwell, den man „Ironsides“ oder „Old Iron“ nennt. Doch Vaizey schickt ihm seine Schergen hinterher, die Traviston praktisch unter Cromwells Augen umbringen. Sohn Frederick, der dem Vater gefolgt ist, bekommt eine Kugel in den Kopf, kann aber gerettet werden.
Nun steckt Vaizey in der Klemme: Petherton-Charters droht die Nerven zu verlieren, Cromwell und Lister nehmen Travistons Umfeld unter die Lupe. Zu allem Überfluss hat der Lord seinem Sohn eine Liste seiner Untaten hinterlassen, die er „im alten Blecheimer“ versteckt hat. Was meint er damit? Um die kompromittierenden Unterlagen an sich zu bringen, lässt Vaizey den verletzten Frederick entführen, um ihn ‚befragen‘ zu können.
Auch sonst sind seine Schläger eifrig. Lister landet in der Themse, als er Vaizey beschattet, und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Cromwell schickt ihn in Verkleidung in die Höhle des Löwen: Vaizey hat auf der einsamen Felsinsel Rock Island vor der südenglischen Küste die alte Easton Old Abbey in seine private Festung verwandelt. Dort soll Lister nach Beweisen für Vaizeys Schurkereien suchen …
Auch Gentlemen können Strolche sein
Selbst eine nur scheinbar weiße Weste kann noch heute Schurkereien ermöglichen oder erleichtern. Dies funktioniert umso besser, wenn die Beteiligten hohe politische Ämter einnehmen oder – noch besser – von gesellschaftlichem Rang sind: So gilt beispielsweise Adel weiterhin als Prädikat, das ‚bessere‘, d. h. klügere sowie besonders ehrenwerte Zeitgenossen auszeichnet.
Selbst die stattliche Liste einschlägiger Gegenbeispiele lässt die Menschen nicht schlauer werden. So ist es, und so war es, weshalb Victor Gunn das Thema 1942 für seinen Roman „Der vornehme Mörder“ – sechster der Serie um Inspektor Cromwell und Sergeant Lister – aufgriff. Er schrieb weder einen „Whodunit“ noch einen „Howdunit“, was ungewöhnlich für ihn war: Der Leser ist von Anfang an Zeuge, wie Sir Hugo Vaizey und seine Spießgesellen tücken & töten. Auch ihre Motive sind jederzeit klar. Im Dunkeln tappt dieses Mal nur die Polizei, denen wir, die Leser, generell einen Schritt voraus und an der Seite der Übeltäter sind.
Ein solches Konzept ist anspruchsvoll, denn Gunn musste sich der Herausforderung stellen, Spannung dort zu erzeugen, wo sein Publikum längst im Bilde war. Er war Profi genug, erfolgreich dieses Risiko einzugehen. Inspektor Cromwell fällt nie wirklich weit hinter die Schurken zurück. Gunn schildert ihn als erfahrenen Kriminalisten, der sein Handwerk so gut beherrscht, dass er auf falsche Indizien zwar hereinfällt oder in Ermittlungssackgassen gerät, diese aber relativ rasch erkennt und die Spur wiederaufnimmt.
Würde Gunn hier übertreiben, ließe er die Stimmung kippen. Deshalb bewegt er sich auf einem schmalen Grat: Cromwell muss am Ball bleiben, darf aber nicht gar zu schnell dem Gegner auf die Schliche kommen. Es ist beachtlich, wie sicher Gunn diese Wanderung gelingt, ohne zum glücklichen Zufall oder ähnlichen Tricks zu greifen.
Krimi, Drama, Abenteuer!
Im letzten Drittel verlässt die Handlung London. Aus einem nüchternen, soliden Krimi wird nun ein Abenteuer, das man sich gut als schwarzweiß gedrehtes B-Movie vorstellen kann. Offenbar wusste Gunn nicht, wie er seine Geschichte spannend aber gleichzeitig logisch auflösen konnte. So griff er auf Melodramatik zurück: „Mad Hatter’s Rock“ ist der typische Schlupfwinkel des typischen Super-Bösewichts. Schon die Geografie ist reine Effekthascherei: Steile Klippen, tückischer Schlick und Strömungen machen die Insel praktisch unzugänglich.
Darüber hinaus bedient Gunn sich des schon zu seiner Zeit angestaubten aber weiterhin beliebten Klischees unterirdischer Höhlen und Geheimgänge. In dieser Sicherheit lässt der Oberschurke gern die Maske fallen und sonnt sich im Licht der eigenen Genialität, was zu der bekannten Szene führt, in der er seine (vorläufig) gefangenen Jäger ebenso genau wie grundlos über seine Übeltaten in Kenntnis setzt – eine Rede, die sich natürlich an die Leser richtet, für die vor dem großen Finale die Ereignisse noch einmal zusammengefasst und erklärt werden, falls jemand nicht hat folgen können.
Zuletzt beschwört Gunn doch den Zufall herauf, um Cromwell und Lister aus einer ansonsten allzu perfekt zuschnappenden Todesfalle zu befreien; ein Moment, der einem zwar zunehmend skurriler werdenden aber weiterhin spannenden Geschehen nachdrücklich Schaden zufügt. Selbstverständlich gelingt ausgerechnet dem Primär-Lumpen die Flucht, was zu einer Verfolgungsjagd per Flugzeug führt; sie ersetzt hier die obligatorische Versammlung sämtlicher Verdächtiger, aus denen der Detektiv den Täter herauspickt.
Aus allen Zeiten gefallen
„Der vornehme Mörder“ wurde 1942 veröffentlicht, spielt aber keinesfalls in diesem Jahr. In der Realität stand England bereits drei Jahre im Krieg mit Nazideutschland. Darüber verliert Gunn kein Wort. Von Verdunkelung ist keine Rede, und Frederick junior eilt auch nicht zu den Waffen, wie es sich für einen jungen, redlichen Mann nach den Regeln des zeitgenössischen Unterhaltungsromans oder -films gehörte.
Die Ereignisse müssen sich also vor 1939 abspielen. Selbst unter dieser Voraussetzung lag bereits zum Veröffentlichungsdatum dick der Staub auf ihnen. Kulissen und Figurenzeichnungen passen eher in die 1910er oder 20er Jahre und damit in die Ära des Stummfilms, der Emotionen demonstrieren musste, da sich die Protagonisten nicht äußern konnten. Aus heutiger Sicht musste daher dick aufgetragen werden, um den Zuschauer zu erreichen. Diese Methode scheint Gunn für seine Leser übernommen zu haben.
Trotzdem bleiben seine Figuren eindimensional, was im Rahmen der sichtlich künstlichen, realitätsfernen Handlung allerdings kaum eine Rolle spielt. Sir Hugo Vaizey wird nach Gunns Willen eine Art Dr. Mabuse, der genial und weit oberhalb der profanen Polizei seine verbrecherischen Bahnen zieht. Zu Fall bringt ihn ausgerechnet der trockene, mürrische „Ironsides“ Cromwell. Schon die Nennung seines Namens bringt die Unterwelt zum Zittern, was heute kaum nachvollziehbar ist. Für die Action-Elemente des Geschehens ist Johnny Lister zuständig, der jung und athletisch genug ist, stundenlang durch eiskaltes Meerwasser zu pflügen, um Rock Island unter die Lupe nehmen zu können.
Gerade noch die Kurve bekommen
Selbstverständlich gibt es auch eine schöne Frau. Doch Gunn hat den Love-Story-Aspekt deutlich besser im Griff als in seinen späten Cromwell-Romanen. Hazel Faraday, Frederick Juniors Verlobte, verharrt in einer Nebenrolle. Meist wird sie nur beiläufig erwähnt und bleibt außerhalb der Handlung. Erst auf Rock Island lässt Gunn sie dramatisch an den Ereignissen teilnehmen – erneut ein logischer Bruch, da ausgerechnet der bärbeißige Cromwell es Hazel gestattet, sich mit ihm und Lister in die Höhle des Löwen Vaizey zu schleichen.
Überhaupt ist es bewundernswert, wie flott und flüssig Gunn, der seine Krimis schrieb, ohne sich die Zeit zu nehmen, sie nachträglich zu bearbeiten, diese Geschichte über die Runden bringt. Trotz der beschriebenen Fehler bzw. Flickstellen, unter denen die Mechanik der Handlung sichtbar wird, ist „Der vornehme Mörder“ niemals langweilig. Viele Jahrzehnte später ist es gleichgültig geworden, dass Gunn faktisch ein Krimi-Märchen erzählt. Gerade die Anachronismen, die entwaffnete Naivität und die Übertreibungen schüren jenen Nostalgie-Faktor, der eine Geschichte vor dem Vergessen bewahren kann.
Autor
Der Engländer Victor Gunn (1889-1965), dessen richtiger Name Edwy Searles Brooks lautete, war als Unterhaltungs-Schriftsteller ein Vollprofi. Er verfasste für Zeitschriften und Magazine über 800 (!) Romane und unzählige Kurzgeschichten – genaue Zahlen werden sich vermutlich nie ermitteln lassen – unterschiedlichster Genres, wobei er sich diverser Pseudonyme bediente. Der nome de plume „Victor Gunn“ blieb jenen Romanen und Story-Sammlungen vorbehalten, die Brooks um den knurrig-genialen Inspektor William Cromwell und seinen lebenslustigen Assistenten Johnny Lister verfasste.
In Deutschland ist Gunn vom Buchmarkt verschwunden. Dabei ließ sich sein Erfolg einmal durchaus mit dem seines Schriftsteller-Kollegen Edgar Wallace messen. Eine stolze Auflage von 1,6 Millionen meldete der Goldmann-Verlag, der Brooks als Victor Gunn hierzulande exklusiv verlegte, schon 1964; eine Zahl, die sich in den folgenden Jahren noch beträchtlich erhöht haben dürfte, bis ab 1990 die Flut der ständigen Neuauflagen verebbte.
Taschenbuch: 160 Seiten
Originaltitel: Mad Hatter’s Rock (London : W. Collins Sons & Co. 1942)
Übersetzung: Tony Westermayr
www.randomhouse.de/goldmann
Der Autor vergibt: