Victor Gunn – Spuren im Schnee

Gunn Spuren im Schnee kleinDer tödliche Autounfall eines reichen Landedelmanns entpuppt sich als schlau eingefädelter Mord. Zwei Beamte von Scotland Yard nehmen die Ermittlungen auf, die sie nicht nur auf die Spur eines genialen Schwindels, sondern auch in mindestens eine Todesfalle führt … – Ein früher Krimi der Cromwell/Lister-Serie; routiniert aber noch nicht so glatt wie spätere Folgen, trickreich geplottet und altmodisch spannend: Macht Spaß!

Das geschieht:

Chefinspektor Bill Cromwell vom Scotland Yard ist noch übler gelaunt als sonst, weil ihn ein dringender Auftrag aus London in die winterlich verschneite Grafschaft Surrey führt: Maurice Hatherton ist aus dem Gefängnis entflohen. Fassen konnte man den Dieb und Mörder vor drei Jahren nur aufgrund der Aussage von Sir Kenneth Parsloe, Herr auf Higham Top, dem Hatherton deshalb Vergeltung schwor. Die Polizei zweifelt nicht, dass er dies verwirklichen will. Cromwell, sein Assistent Johnny Lister und Inspektor Catchpole von der Grafschaftspolizei sollen Sir Kenneth warnen und schützen.

Aufgrund der Witterung gestaltet sich die Reise schwierig. Als die drei Beamten endlich eintreffen, kommen sie gerade rechtzeitig, um Sir Kenneth tot und steifgefroren neben seinem Wagen aufzufinden: Offenbar ist der als rücksichtsloser Raser bekannte Edelmann auf eisglatter Fahrbahn verunglückt. Cromwell erkennt am Unfallort zwar keine verräterischen Spuren im Schnee, stellt aber beinahe einen stillen Beobachter: Es ist Hatherton, der seiner Drohung offenbar Taten folgen ließ. Nun kann er zu allem Überfluss mit seinem Motorrad entkommen.

Cromwell nistet sich auf Higham Top ein. Die auffällige Nervosität von Dr. Trumper, dem besten Freund des Verstorbenen, hat seine Aufmerksamkeit erregt. Warum ist der Arzt so ängstlich bemüht, Cromwell die eingehende Untersuchung des Leichnams zu untersagen? Was treibt Trumper, der auch Wissenschaftler ist, in seinem mysteriösen Forschungslabor? Ist Hatherton überhaupt für den Tod von Sir Kenneth verantwortlich? Wie konnte Peter, Kenneth‘ seit vielen Jahren verschollener Bruder, so prompt auf der Bildfläche erscheinen, um sein Erbe anzutreten? Viele Fragen, zu denen sich für Cromwell und Lister bald ein lebenswichtiges Problem gesellt: Wie gelingt es, aus einer hermetisch abgeriegelten Kühlkammer zu flüchten …?

Ein Toter lacht, aber Cromwell siegt!

„The Dead Man Laughs” ist ein (Original-) Titel, der zwangsläufig die Aufmerksamkeit des Lesers weckt. Dies und der automatische Griff zur Geldbörse zwecks Erwerbs des so getauften Krimis war verlagsseitig die Primärintention hinter der eigenwilligen Namengebung. Gleichzeitig gibt der Titel dem Lektüre-Publikum einen ersten Hinweis auf die Lösung dieses achten Falls von Chefinspektor Bill Cromwell und Sergeant Johnny Lister.

Wer freilich meint, mit dieser Andeutung und nach der Lektüre einiger Seiten, die formal ein recht simpel gestricktes Krimi-Vergnügen ankündigen, besagte Lösung bereits erkannt zu haben, sei gewarnt: Victor Gunn ist ein Vielschreiber, der immer für (mindestens) eine Überraschung gut ist. Sobald wir nach guter, alter „Whodunit“-Sitte mit ihm bzw. dem ermittelnden Detektiv gleichgezogen haben, wechselt er prompt die Spur.

Dieses Mal schlägt er gleich mehrere Haken. Dass es bei Sir Kenneth‘ Unfall nicht mit rechten Dingen zuging, bedarf keiner Erwähnung. Mit der definitiven Erläuterung des Wie und Warum rechnet der Leser im Finale. Stattdessen informiert uns Gunn bereits vor der Halbzeit dieses Romans über die Hintermänner eines Komplotts, das nunmehr ins Zentrum des Geschehens rückt. Der Verfasser tritt einen Schritt zurück und lässt uns beobachten, wie Cromwell & Lister und die schurkischen Verschwörer einander umkreisen, ohne – anders als wir – über den jeweiligen Stand der Dinge informiert zu sein. Nach Kräften bemüht man einander übers Ohr zu hauen, aber es ist kein Spoiler anzumerken, dass Cromwell wieder ein letztes As in der Hinterhand behält.

Das darf man beinahe wörtlich nehmen, denn nachdem der eigentliche Fall aufgeklärt ist, geht es in die Verlängerung, und Cromwell löst auch noch einen Mordfall, der bisher nur nebenbei eine Rolle spielte. Deshalb ist es ein überaus lebendiger Cromwell, der zuletzt lacht!

Winterlich und auch sonst recht frisch

Dass „Spuren im Schnee“ erst der achte Krimi der Cromwell-Reihe ist, macht sich deutlich und positiv bemerkbar. Obwohl das eigentliche Mordrätsel an cozy-typischer Umständlichkeit kaum zu übertreffen ist, hält Gunn die Ereignisse ständig in Gang. Cromwell ist deutlich aktiver als in späteren Bänden. Gleich mehrfach spricht Assistent (und Watson) seinen Chef auf dessen Ähnlichkeit mit Sherlock Holmes an. In der Tat schont sich Cromwell nicht, wenn der die gefrorene Landschaft von Surrey nach Indizien absucht. Auch seine Wortkargheit passt zum „Großen Detektiv“ aus London, denn Cromwell hasst es, seinen Vermutungen Ausdruck zu verleihen. Dies würde ihm außerdem die Schau stehlen, und das ließe er niemals zu!

Verhältnismäßig oft spielt die Handlung im Freien. Der „Winter“ besaß auf dem englischen Land (und vor dem Klimawandel) eine Präsenz, die sich der heutige Leser nur noch schwer vorstellen kann. Er (und selbstverständlich sie) müssen nicht frieren, sondern können sich einer Schnee- und Eisstimmung erfreuen, die zum Charme des Geschehens erheblich beiträgt. Zwischendurch wird es gemütlich und altmodisch, man wärmt sich am offenen Kaminfeuer, spricht dem Alkohol genüsslich zu und raucht mit voller Lungenkraft. Die Landpolizei ist ein bisschen dümmlich, Bedienstete bewegen sich beinahe unsichtbar im Hintergrund. Cromwell wirbelt die selbstgefällige Ruhe, die für ein Gelingen des sorgsam eingefädelten Verbrechens mitverantwortlich ist, kräftig durcheinander: In dieser vergangenen Ära darf man das, wenn man ein berühmter Detektiv von Scotland Yard ist.

Zwischendurch geraten Meister Cromwell & Schüler Lister sogar in eine gruselige Todesfalle, auf die jeder „mad scientist“ aus den Horrorfilmen der 1930er und 40er Jahre stolz sein könnte. Solche ‚Action‘ verkniff sich Gunn in späteren Cromwell-Abenteuern. Er ersetzte sie leider durch etwas, das er uns dieses Mal erspart: „Spuren im Schnee“ kommt ohne Jungmädchen-Rettung und schmalzige Liebesgeschichte aus. Der Fall ist und bleibt das Zentrum des Geschehens. Erstaunliche Wendungen und Enthüllungen können und sollen daran nichts ändern. Ohnehin gibt es nur einen Anspruch: „Spuren im Schnee“ soll unterhalten! Wer Faible für Krimi-Literatur besitzt, die es ein wenig gemächlich angehen lässt, wird dem Verfasser gern ein Gelingen dieses Auftrags bescheinigen.

Autor

Der Engländer Victor Gunn (1889-1965), dessen richtiger Name Edwy Searles Brooks lautete, war als Unterhaltungs-Schriftsteller ein Vollprofi. Er verfasste für Zeitschriften und Magazine über 800 (!) Romane und unzählige Kurzgeschichten – genaue Zahlen werden sich vermutlich nie ermitteln lassen – unterschiedlichster Genres, wobei er sich diverser Pseudonyme bediente. Der nome de plume „Victor Gunn“ blieb jenen Romanen und Story-Sammlungen vorbehalten, die Brooks um den knurrig-genialen Inspektor William Cromwell und seinen lebenslustigen Assistenten Johnny Lister verfasste.

In Deutschland ist Gunn vom Buchmarkt verschwunden. Dabei ließ sich sein Erfolg einmal durchaus mit dem seines Schriftsteller-Kollegen Edgar Wallace messen. Eine stolze Auflage von 1,6 Millionen meldete der Goldmann-Verlag, der Brooks als Victor Gunn hierzulande exklusiv verlegte, schon 1964; eine Zahl, die sich in den folgenden Jahren noch beträchtlich erhöht haben dürfte, bis ab 1990 die Flut der ständigen Neuauflagen verebbte.

Taschenbuch: 157 Seiten
Originaltitel: The Dead Man Laughs (London : Collins 1944)
Übersetzung: Olga Otto
http://www.randomhouse.de/goldmann

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