Victor Gunn – Die Lady mit der Peitsche

Gunn Lady Peitsche Cover kleinKurz nachdem Lady Gleniston dem unbotmäßigen Gärtner das Fell gerbte, liegt sie mit zertrümmertem Schädel in ihrem Schlosshotel. Doch der Gärtner hat ein Alibi, was auf die meisten Gäste nicht zutrifft und dem gewieften Mörder die Chance bietet, Chefinspektor Cromwell von Scotland Yard an der Nase herumzuführen … – Was wie eine Parodie auf den englischen Landhauskrimi wirkt, ist die auf die Spitze getriebene Befolgung sämtlicher Regeln dieses Genres: unglaublich altmodisch aber lesenswert.

Das geschieht:

Auf Schloss Gleniston, idyllisch in der Seenregion der englischen Grafschaft Cumberland gelegen, ist die Zeit nicht stehen- und das Finanzamt nicht untätig geblieben. Zu ihrem großen Kummer muss Lady Angela die schmal gewordene Familienkasse auffüllen, indem sie bürgerlichen Pöbel als Sommergäste in ihrem zum Hotel umfunktionierten Stammsitz duldet.

Zum Glück übernehmen Major Claude Fanshawe, ihre Neffe, und Hausdame Margaret Cawthorne die entsprechenden Pflichten, was Angela die Muße lässt, den geilen Gärtner Ned Hoskins zu züchtigen, weil er ein minderjähriges Zimmermädchen geschwängert hat. Gedemütigt schwört Ned Rache, und bald darauf liegt die Lady mit eingeschlagenem Schädel in ihrem Arbeitszimmer und neben ihr ein Vorschlaghammer mit Neds Fingerabdrücken.

Doch Ned hat Glück bzw. ein Alibi. Der Mörder muss folglich einer der im Schloss anwesenden Angestellten oder Gäste gewesen sein, der eine falsche Spur legen wollte. Die örtliche Polizei ist mit derart raffinierten Übeltätern überfordert und bittet Scotland Yard um Hilfe.

Der Fall geht an Chefinspektor William „Old Iron“ Cromwell und Sergeant Johnny Lister. Sie geraten in einen wahren Hexenkessel, denn Lady Gleniston hatte sich nicht nur ihren Gärtner zum Feind gemacht. Die Alibis der Schlossgäste sind denkbar brüchig oder gar nicht vorhanden. Cromwell erkennt unter ihnen mindestens zwei vertraute und gar nicht vertrauenswürdige Gesichter. Als sich herausstellt, dass Schloss Gleniston wertvolle Kunstschätze birgt, die Angela nie verkaufen wollte, gerät auch Alleinerbe Fanshawe in Verdacht. Bis zur nächsten Leiche vergeht nur wenig Zeit. Cromwell scheint dieses Mal an einen Mörder geraten zu sein, der ihm intellektuell gewachsen oder sogar überlegen ist …

Scheußliche Morde in schöner Umgebung

Selbstverständlich unterliegen sowohl der Mörder als auch der Leser einem Irrtum: Cromwell lässt sich zwar kurzfristig verwirren, aber wirklich an der Nase herumführen kann man ihn nicht. Dabei legt es Autor Gunn förmlich darauf an, ihn in eine an Ablenkungen reiche Idylle zu führen. Das Wetter ist sommerlich schön, das Essen gut, die Feriengäste sind geistig schlichte Zeitgenossen.

Aber der Schein trügt, und Cromwell ist dieses Mal besonders garstiger Stimmung und damit immun gegen allzu offensichtliche Unschuld. Obwohl Victor Gunn als Schriftsteller seine Werke quasi im Salventakt auf den Buchmarkt feuerte, blieb er bemerkenswert bodenständig, wenn es um den Entwurf plausibler Plot ging. „Die Lady mit der Peitsche“ bildet keine Ausnahme, sondern erfreut zusätzlich durch eine gemütliche englische Landhaus-Atmosphäre, die in ihrer Reinheit dem Liebhaber des Genres „Cozy“ Tränen der Freude in die Augen treiben wird.

Victor Gunn treibt es bewusst auf die Spitze: Schloss Gleniston ist DER isolierte Schauplatz eines Verbrechens – gelegen auf einer Halbinsel, die nur über einen aufgeschütteten Damm zu erreichen ist. Die nächste Ortschaft ist weit entfernt. Wer auf Gleniston weilt, ist von der Außenwelt abgeschnitten. Auch der Mörder kann bzw. darf nicht entkommen, denn schnöde Flucht ist identisch mit einem Schuldbekenntnis.

Mörder gegen Gesetzeshüter

Es muss also mit dem Gesetz ausgefochten werden. Dies wird dreistufig und mit einiger Ironie präsentiert. Zunächst am Tatort erscheint Sergeant Fratton: „Als kluger Mann wälzte er die Verantwortung für diese Sache sofort auf die Schultern seiner Vorgesetzten ab.“ (S. 42/43). Oberinspektor Staunton und Inspektor Davis handeln nach kurzem Blick auf den verworrenen Tatbestand ähnlich und alarmieren Scotland Yard. Das Ende dieser Kette bildet Chefinspektor Bill Cromwell, der endlich bereit ist, die Verantwortung zu übernehmen.

Cromwell hat dieses Risiko bereits so oft sowie erfolgreich übernommen, dass er gewisse Privilegien für sich beanspruchen kann. Als Ermittler ist er weder dezent noch unterwürfig; auf die Bitte seines Kollegen Staunton, Verdächtige adliger Herkunft bitte diskret und mit Glacéhandschuhen anzufassen, reagiert Cromwell extra gereizt und bösartig. Er – und nur er – ignoriert gesellschaftliche und moralische Regeln, hinterfragt und durchschaut sie. Cromwell weiß sehr genau, dass sich das Verbrechen gern hinter Titeln verbirgt, sich schwach gibt, das Offensichtliche vorgaukelt, um aufklärende Hintergründe zu verbergen.

„Der Mörder war immer der Gärtner …“

Schloss Gleniston beherbergt eine besonders illustre Runde potenzieller Verdächtiger. Lange bevor Sänger Reinhard Mey 1971 ein prominentes Klischee des Landhaus-Krimis ironisierte, rechnete Gunn mit diesem Stereotyp ab. Ausgerechnet der Gärtner, auf den zunächst sämtliche Indizien als Täter weisen, ist unschuldig. Gunn kommt noch mehrfach indirekt und durchaus raffiniert auf die Theorie zurück, dass die einfachste Erklärung immer die beste Erklärung ist. Während sämtliche Figuren des Geschehens sich von Vorurteilen leiten lassen, schaut abermals nur Cromwell unter die Oberfläche. Wer einen Mord ankündigt, ist nicht zwangsläufig der Täter, Indizien lassen sich fälschen, Frauen sind weder schwach noch dumm: Auf solche ‚Weisheiten‘ reagiert Cromwell geradezu allergisch. Der Mordfall Lady Gleniston wird ihn darin gleich mehrfach bestärken.

In einem Punkt beugt sich Gunn der Konvention des Landhaus-Krimis bereitwillig: Die Schar der Hausbewohner ist identisch mit der Gruppe der Verdächtigen. Sie haben selbstverständlich alle sorgsam verborgene Vorgeschichten und Hintergedanken aber keine Alibis. Viele Seiten füllt Gunn mit Verhören. Anschließend verkündet Sergeant Lister, der Dumme August an Cromwells Seite, der Täter sei gefunden, was Cromwell die Gelegenheit gibt, ihn einen Trottel zu schimpfen sowie Lister und damit dem Leser zu erläutern, wieso der glasklare Schuldbeweis doch löchrig bleibt.

Finale furioso: Die Masken fallen

Nachdem der Schauplatz und seine Figurenpersonal ausgiebig beschrieben wurden, geschieht jener Mord, der den Auftritt der Serienhelden Cromwell und Lister zur Folge hat. Es folgen die Bestandsaufnahme der Indizien und der Versuch ihrer Auswertung. Dieser schreitet langsam aber sicher voran, was den Schurken in Aufregung und schließlich Panik versetzt. Um seine Spur zu verwischen bzw. eine falsche Spur zu legen, wird ein weiteres Verbrechen begangen.

Dies geschieht auch deshalb, um Bewegung in die statisch gewordene Handlung zu bringen. Das Finale könnte sich zwar auf die Enthüllung der Tat und ihrer Hintergründe beschränken. Aufregender ist es aber, ein wenig Action und Aufregung in den Ablauf zu bringen. Dies steigert zudem die Überraschung, wenn als Übeltäter bestenfalls jene Figur entlarvt wird, die eindeutig der Gruppe der Unschuldigen anzugehören schien.

Das sachte Spiel mit dem Genre

Da Victor Gunn Unterhaltungsliteratur in einem unglaublichen Umfang produzierte, ist man geneigt, ihn als Schreibautomaten abzuqualifizieren. Romane wie „Die Lady mit der Peitsche“ belegen, dass er ein Routinier und ein begabter Geschichtenerzähler war. Dieser 28. Roman der Cromwell-Serie ist deshalb alles andere als das Produkt einer auserzählten aber finanziell einträglichen und primär deshalb fortgesetzten Reihe. „Die Lady mit der Peitsche“ gehört zu den erfolgreichsten Cromwell-Krimis. Allein in Deutschland wurde sie mehr als drei Jahrzehnte immer wieder und in mehr als 100.000 Exemplaren aufgelegt.

Geschickt und vergnüglich balanciert Gunn zwischen Genre-Reinheit und sanfter und vor allem unerwarteter Parodie. Der daraus resultierende Lektürespaß wird nur selten getrübt. Vor allem verbirgt er die nüchterne Erkenntnis, dass Gunn offensichtlich Seiten schindet. Als der Täter gefasst ist, folgen noch mehr als zwanzig Seiten mit unnötig ausschweifenden und zum Teil wiederholten Erklärungen. Gunn-typisch wird der Kriminal-Handlung eine süßliche Lovestory aufgepfropft, die zum Geschehen wenig bis nichts beiträgt. Hier fügt der Verfasser einfach Klischee an Klischee; er will den Job, auch Kitsch liebende Leserinnen zu ködern, hinter sich bringen. Irgendwann schüttelt er das Liebespaar ab und konzentriert sich auf den Kriminalfall. Diese Passagen sind es, die eine Lektüre auch heute lohnen.

Autor

Der Engländer Victor Gunn (1889-1965), dessen richtiger Name Edwy Searles Brooks lautete, war als Unterhaltungs-Schriftsteller ein Vollprofi. Er verfasste für Zeitschriften und Magazine über 800 (!) Romane und Kurzgeschichten – genaue Zahlen werden sich vermutlich nie ermitteln lassen – unterschiedlichster Genres, wobei er sich diverser Pseudonyme bediente. Der nome de plume „Victor Gunn“ blieb jenen 43 Romanen und Storysammlungen vorbehalten, die Brooks zwischen 1939 und 1965 um den knurrig-genialen Inspektor William Cromwell und seinen lebenslustigen Assistenten Johnny Lister verfasste.

In Deutschland ist Gunn vom Buchmarkt verschwunden. Dabei ließ sich sein Erfolg einmal durchaus mit dem seines Schriftsteller-Kollegen Edgar Wallace messen. Eine stolze Auflage von 1,6 Millionen meldete der Goldmann-Verlag, der Brooks als Victor Gunn hierzulande exklusiv verlegte, schon 1964 – eine Zahl, die sich in den folgenden Jahren noch beträchtlich erhöht haben dürfte, bis ab 1990 die Flut der ständigen Neuauflagen verebbte.

Taschenbuch: 183 Seiten
Originaltitel: Castle Dangerous (London : Collins 1957)
Übersetzung: Ruth Kempner
http://www.randomhouse.de/goldmann

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