Victor Gunn – Die Treppe zum Nichts

Gunn Treppe Cover 1983Ein bizarres Testament wird zum Auslöser einer Mordserie, die auf ebenso geniale wie heimtückische Weise eingefädelt wurde, weshalb es eines ähnlich unkonventionell denkenden Scotland-Yard-Beamten bedarf, dem Unhold das Handwerk zu legen … – Der Plot ist so grotesk, dass man ihn nur bewundern kann, zumal er konsequent durchgezogen wird sowie die Grundlage eines geschickt eingefädelten und wirklich spannenden Rätselkrimis bildet: altmodisch aber absolut lesenswert!

Das geschieht:

Richard „Old Dick“ Tetley war ein ebenso reicher wie exzentrischer Mann. Mit seinen Söhnen John und Charles, die er nicht zu Unrecht für Blender und Nichtsnutze hielt, wollte er noch vor dem Tod abrechnen. Den Großteil seines Vermögens vermachte er deshalb nicht ihnen, sondern seiner Enkelin Jane Bedford. Der alte Mann löste seine Konten systematisch auf und ließ sich 60.000 Pfund Bargeld in sein einsam in Radley End in der englischen Grafschaft Norfolk gelegenes Haus am Meer schicken. Offenbar plante er die Einrichtung eines Schatzhortes, als sein unvermittelter Tod ihm einen dicken Strich durch die Rechnung machte.

Das Haus des Vaters wurde von den Söhnen auf den Kopf gestellt; gefunden haben sie nichts. Wochen nach der Beerdigung findet Jane einen Brief vom alten Tetley in der Post. Nur ihr will der Großvater das Versteck offenbaren, wofür er in seinem Haus Vorsorge getroffen hat. In der Nacht soll sie sein altes Arbeitszimmer betreten und der Dinge harren, die geschehen werden. Jane folgt den Anweisungen. Als sie durch die Tür ins besagte Zimmer tritt, stürzt sie klaftertief in die eisige See: Ein Sturm hat die Klippen unter Tetleys Haus zum Einsturz gebracht und das halbe Gebäude mit sich gerissen. Nur die Fassade steht noch – eine Todesfalle für jene, die von dem Unglück nichts wissen.

Zu denen gehören John und Charles, die ebenfalls ins Haus des Vaters gelockt wurden. Während Jane vom jungen Gutsverwalter David Crombie gerettet werden kann, zieht man ihre Onkel tot aus dem Meer. Dieser perfide Mehrfachtod überfordert den biederen Inspektor Heal. Scotland Yard schickt deshalb Bill „Old Iron“ Cromwell und seinen Assistenten Johnny Lister nach Radley End. Sie kommen in ein Dorf, in dem sich die Nachricht vom Geld des alten Tetley bereits herumgesprochen hat. Die beiden Polizisten bekommen es mit diversen Schatzsuchern zu tun – und mit dem Mörder, der darauf brennt, sein Werk zu vollenden …

Der Zufall sorgt für die perfekte Falle

Der „Whodunit“ der alten Schule wird auf der einen Seite durch bestimmte Grenzen i. S. von Genreregeln eingeschränkt. Gleichzeitig profitiert er jedoch von einer Freiheit, die sich der ‚realistische‘ Krimi verkneifen muss. „Die Treppe zum Nichts“ ist der Beweis für die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben: ein Kriminalroman mit einem Plot und einer Grundstimmung, die dem (viktorianischen) Schauerroman entliehen wurde.

Radley End und vor allem das alte Headland-Haus sind archetypische Kulissen für mysteriöse Ereignisse: einsam und klippenhoch in unmittelbarer Nachbarschaft zum Meer gelegen, das zuverlässig für wabernde Nebelschwaden in ohnehin düsteren und regnerischen Winternächten sorgt. Zu allem Überfluss stürzt das halbe Haus in einen vom Sturm gerissenen Abgrund. Dramaturgisch nützlich bleiben die Fassade sowie die Holztreppe zum Arbeitszimmer – nunmehr wahrhaftig eine „Treppe zum Nichts“! – stehen, auf dass sie ein mit Fantasie begabter Serienmörder als Todesfalls einsetzen kann.

Den Verfasser muss man dafür loben, dass es ihm gelingt, dieses absurde Szenario funktionieren zu lassen. So wie Chefinspektor Cromwell die drei Tathergänge vor Ort rekonstruiert, wirken sie überzeugend. (Das fand wohl auch Reginald Hill, der den Plot 1999 für „Arms and the Women“, dt. „Das Haus an der Klippe“, aufgriff und aktualisierte.) Die Frage, was sich der Mörder hätte einfallen lassen, wäre ihm (oder ihr?) kein halbes Haus in den Schoß gefallen, drängt sich dem Leser jedenfalls nicht auf.

Wo jeder (nicht nur) deinen Namen kennt

Inspektor Cromwell und Johnny Lister betreten die Handlung dieses Mal erst auf Seite 60. Deshalb sind wir Leser ihnen ein gutes Stück voraus. Wir haben Radley End und seine Bewohner kennengelernt – meinen wir zumindest, denn in den restlichen beiden Dritteln der Geschichte zerpflückt Cromwell genüsslich das Bild, das wir uns gemacht haben, und sät Zweifel, bis die letzte Gewissheit kläglich entschwunden ist.

Gunn geht dabei so systematisch wie selten vor. Er vergisst kein Detail, das sich für oder gegen die einzelnen Verdächtigen anführen lässt. Geschieht etwas Dramatisches, hier meist ein Mordanschlag auf Jane Bedford, so stellt sich stets heraus, dass mehrere Täter in Frage kommen. Die Beweise lassen sich nicht selten völlig konträr interpretieren. Wer hier der Schurke ist, bleibt bis zuletzt offen.

Radley End erweist sich bald als trügerische Dorfidylle. Die Honoratioren – Gutsherr, Arzt, Polizei-Inspektor – haben ihre Machtsphären untereinander aufgeteilt. Sie sind stets bereit dafür zu sorgen, dass sich ihre Mitbürger Cromwells Ermittlungsdiktat unterwerfen, reagieren jedoch höchst empört, wenn dieser ihre Privilegien ignoriert und sie ebenfalls in seine Fahndung einbezieht.

Aber auch in den unteren Bereichen der gesellschaftlichen Pyramide herrscht keineswegs dörfliche Eintracht. Klatsch und Tratsch können einen unglücklichen Mitbürger oder eine Mitbürgerin in Verruf bringen, und ein Urteil ist unabhängig der tatsächlichen Beweislage schnell gefällt. Cromwell lässt sich nicht blenden: Unter einer heimeligen Deckschicht rumort es auch ohne Mordserie hässlich und heftig in Radley End.

Ein Eisenfresser mit entsprechenden Methoden

Cromwell holt unseren Erkenntnisvorsprung rasant ein. Wie üblich denkt er nicht daran, sein Wissen mit uns zu teilen. Darüber sollten wir uns nicht grämen; seinen eigenen Assistenten lässt „Ironsides“ wie einen dummen Jungen im Dunkeln tappen. Aus dem Miträtseln wird deshalb nie wirklich etwas. Nachträglich gibt es wohl diverse Hinweise auf die Identität des Mörders. Diese kann man freilich beim besten Willen nicht eindeutig nennen.

Den Lektürespaß mindert das nicht. Irgendwann ergibt man sich dem absonderlichen Geschehen, dem ein enormer Unterhaltungswert innewohnt. „Die Treppe zum Nichts“ erinnert an einen Roman von John Dickson Carr (1906-1977), wobei Victor Gunn allerdings die Verspieltheit abgeht, mit der dieser seine kruden Plots entwickelte. Bill Cromwell ist ganz sicher kein jovialer Gideon Fell, und höchstens sein Geiz bei der Weitergabe von Fakten eint ihn mit Henri Bencolin. Cromwell ist immerhin ein Unikum. Er wirkt bemerkenswert arrogant und unsympathisch. Es braucht seine Zeit, bis der Leser merkt, dass Gunn absichtlich den Kontrast zwischen Cromwell und den nur scheinbar ehrbaren und brav eindimensionalen Figuren, aus denen er seine Schuldigen rekrutiert, herausstellen will. Dahinter verbirgt sich gar nicht selten eine zweite, düstere Ebene. Cromwell weiß das und pfeift deshalb auf Konventionen.

Sie sind ihm ebenso ein Gräuel wie eine von Wunschvorstellungen diktierte Interpretation von ‚Beweisen‘. Vor allem Johnny Lister muss in seiner Watson-Rolle den Meister mit logisch wirkenden aber voreiligen Schlussfolgerungen konfrontieren. Cromwell bleibt objektiv; er verschiebt die Indizien, wenn sich weitere Erkenntnisse ergeben. Sobald die Kette geprüft und wieder geprüft und deshalb für reißfest befunden wurde, schließt Cromwell einen Fall ab.

Schande über Johnny Lister, der „Ironsides“ Methoden genau kennt und trotzdem jedes Mal bass erstaunt ist, wenn seinen Chef bei der Arbeit verfolgt! Aber Lister darf gar nicht klüger werden, da dies das Gleichgewicht zwischen ihm und Cromwell zerstören würde. Genau das vermied Gunn sorgfältig, wobei er sicherlich die Mehrheit der Leser auf seiner Seite wusste: Die Cromwell/Lister-Romane sind schematische Werke. In ihren Details werden sie geschickt variiert, aber grundsätzlich stützen sie sich auf dasselbe dramaturgische Grundgerüst. Zwischen 1939 und 1965 lösten Cromwell und Lister 43 Fälle. In diesen Jahren änderten oder entwickelten sie sich keinen Deut, und sie agierten in einer Welt, aus der die Gegenwart offensichtlich so weit wie möglich ausgespart blieb. Gunns Leser wünschten sich realitätsferne Rätselkrimis, und Gunn lieferte sie – wie am Fließband, aber in der Regel solide gefertigt und kundentauglich, wobei „Die Treppe zum Nichts“ ein gutes Stück aus diesem Durchschnitt herausragt.

Autor

Der Engländer Victor Gunn (1889-1965), dessen richtiger Name Edwy Searles Brooks lautete, war als Unterhaltungs-Schriftsteller ein Vollprofi. Er verfasste für Zeitschriften und Magazine über 800 (!) Romane und unzählige Kurzgeschichten – genaue Zahlen werden sich vermutlich nie ermitteln lassen – unterschiedlichster Genres, wobei er sich diverser Pseudonyme bediente. Der nome de plume „Victor Gunn“ blieb jenen Romanen und Story-Sammlungen vorbehalten, die Brooks um den knurrig-genialen Inspektor William Cromwell und seinen lebenslustigen Assistenten Johnny Lister verfasste.

In Deutschland ist Gunn vom Buchmarkt verschwunden. Dabei ließ sich sein Erfolg einmal durchaus mit dem seines Schriftsteller-Kollegen Edgar Wallace messen. Eine stolze Auflage von 1,6 Millionen meldete der Goldmann-Verlag, der Brooks als Victor Gunn hierzulande exklusiv verlegte, schon 1964 – eine Zahl, die sich in den folgenden Jahren noch beträchtlich erhöht haben dürfte, bis ab 1990 die Flut der ständigen Neuauflagen verebbte.

Taschenbuch: 184 Seiten
Originaltitel: The Crooked Staircase (London : Collins 1954)
Übersetzung: Ruth Kempner
www.randomhouse.de/goldmann

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